Konstruktiv über Kriege berichten – funktioniert das überhaupt?
Wir sind keine Kriegsreporter:innen. Und doch hat uns der russische Angriffskrieg in der Ukraine in diesem Jahr beschäftigt. In diesem Dossier erfährst du, wie wir Perspektiven aufgezeigt und Debatten kritisch begleitet haben.
Wie berichtet man konstruktiv über Krisen und Kriege? Über Situationen, die auf den ersten Blick ausweglos erscheinen und mit viel Leid einhergehen?
Diese Frage beschäftigt uns seit der Gründung von Perspective Daily – und seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres mehr denn je.
Wir sind keine Kriegsreporter:innen. Unser Anspruch ist keine minutiöse Berichterstattung über aktuelle Entwicklungen. Das können andere besser. Was wir können? Hintergründe aufzeigen, Kontexte erklären, vielfältige Perspektiven für die Zukunft darstellen. Und auch das: einen Schritt zurücktreten, um aktuelle Debatten kritisch in den Blick zu nehmen.
Im Folgenden findest du eine Auswahl von Texten rund um Russlands Angriffskrieg sowie dessen Folgen und erhältst einen exklusiven Einblick in unsere Redaktionsarbeit während des Krieges.
1. Wie Russland wirklich tickt
Im Gründungsjahr von Perspective Daily, 2016, schwelte der Ukraine-Russland-Konflikt bereits.
Doch aus den Nachrichten konnte man nicht allzu viel über das größte Land der Welt erfahren. Sie erzählten vom Anspruch des Kremls auf Teile der ehemaligen Sowjetunion, einem Schulterschluss zwischen Putin und Trump und Großmachtfantasien – deren Auswirkungen wir heute unter anderem in der Ukraine sehen.
Doch was fehlte, war eine tiefere Analyse des Landes, welche Rolle Putin darin für sich beansprucht, wie russischer Patriotismus wirkt und welche Tradition intellektueller Widerstand hat.
Der Text von Martin Krohs hat bereits im Jahr 2016 aufgezeigt, warum der Kreml nicht mit Russland gleichzusetzen ist.
2. Eine andere Sicht auf Kriege und Krisen – mit Feministischer Außenpolitik
Der Artikel war schon länger »in der Mache« und eingeplant für den 25. Februar 2022. Als sich einen Tag davor die Nachricht verbreitete, dass Russland die Ukraine überfallen hat, war ich mir unsicher, ob es eine gute Idee ist, ausgerechnet diesen Text am darauffolgenden Tag zu veröffentlichen.
Meine Kollegin Julia Tappeiner hat sich dafür mit Feministischer Außenpolitik beschäftigt und mit der Politologin Victoria Scheyer über die (verschenkten) Potenziale des Konzepts mit Blick auf den Russland-Ukraine-Konflikt gesprochen. Der dauert insgesamt schon 8 Jahre an – und hat im Februar dieses Jahres nur eine neue Eskalationsstufe erreicht.
Heute bin ich froh, dass wir den Artikel zu diesem Zeitpunkt gebracht haben, denn so haben ihn – aufgrund der Aktualität – viele Menschen gelesen, die sich vielleicht sonst nicht für das Thema interessiert hätten.
Wie siehst du das? Schreibe es gern in die Diskussionen!
3. Den Konflikt besser verstehen – mit unserer Quellensammlung
In den ersten Tagen nach der russischen Invasion war oft vom »ersten Krieg auf europäischem Boden seit 1945« die Rede. Das zeugt von einer erstaunlichen Geschichtsvergessenheit (was ist mit den Jugoslawienkriegen?), aber auch von einer Unkenntnis und Ignoranz gegenüber der Ukraine und ganz Osteuropa, die
In der Perspective-Daily-Redaktion war im Februar einiges an Osteuropaexpertise versammelt: Julia Tappeiner war gerade neu im Team. Sie hat Internationale Beziehungen studiert, unter anderem in Moskau. Unsere damalige Praktikantin Greta Spieker, ebenfalls Politologin mit Russlandkenntnissen, machte sich sofort daran, ihre Kontakte zu nutzen, die sie noch aus ihrer Zeit in St. Petersburg hatte.
Um zu verstehen, was Konfliktparteien antreibt, braucht es nicht nur Breaking News und Liveblogs, sondern noch etwas anderes: Zeit. Für Bücher, Hintergrundanalysen und Dokumentationen. Deshalb haben Julia, Greta und ich in diesem Artikel Quellen zusammengetragen, die uns beim Verständnis weitergeholfen haben und die wir bis heute wertvoll finden.
4. Wie es unserer Gastautorin gelang, ihre Mutter aus dem Kriegsgebiet zu holen
Neben den Hintergründen wollten wir auch die Stimmen von Betroffenen hörbar machen. Gastautorin Inga Pylypchuk hatte schon vor einigen Jahren für uns einen Beitrag über ihr Heimatland geschrieben, seitdem waren wir bei Facebook befreundet.
Zu Beginn des Krieges begann sie dort zu posten. Sie schrieb darüber, welche Sorgen sie sich um ihre Mutter in Kyjiw machte, wie sie versuchte, sie aus dem Kriegsgebiet zu sich nach Berlin zu holen. Ingas Beiträge haben mich sehr bewegt und ich dachte sofort, dass sie auch den Leser:innen von Perspective Daily einen guten Eindruck vermitteln könnten, was in Menschen vorgeht, die vom Krieg direkt betroffen sind.
Ich habe Inga also gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, die Geschichte von der Flucht ihrer Mutter bei uns zu veröffentlichen. Konnte sie – und du kannst sie hier lesen.
5. Geschichten der Hilfsbereitschaft: eine Fotoreportage aus dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet
Der Beginn des Krieges war auch der Beginn einer Welle der Hilfsbereitschaft.
Die Reporterin Lilith Grull und der Fotograf Florian Bachmeier waren an der polnisch-ukrainischen Grenze unterwegs und zeigen die polnische Solidarität mit den Geflüchteten in bewegenden Bildern.
Als sie uns die Geschichte anboten, war für uns klar, dass wir sie bringen mussten. Keine Gegenstimmen in der Redaktionskonferenz. Denn nur wenn wir die darin transportierte Nähe zulassen, können wir erahnen, was die Menschen in der Ukraine durchmachen.
6. Russische Perspektiven: Gehen oder bleiben?
Gastautorin Anna Fimina arbeitet für den russischen Fernsehsender Doschd, der zu den wenigen verbliebenen kritischen Stimmen im Land gehörte – bis er verboten wurde und die Behörden anfingen, gegen Doschd zu ermitteln.
Anna entschied sich, das Land zu verlassen und ihre Arbeit im Exil fortzusetzen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht. Auch deshalb wollte sie für uns mit Menschen sprechen, die sich zum Bleiben entschieden haben. In ihrem Artikel erzählen 3 Frauen aus 3 Generationen, wie sie in Russland für Menschenrechte und Meinungsfreiheit kämpfen – darunter sogar eine Trägerin des Alternativen Nobelpreises.
7. Waffen liefern oder nicht? Was hinter den polarisierenden Debatten steckt
Kaum eine Frage hat in diesem Jahr so sehr polarisiert wie jene, ob Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefern soll oder nicht. Hinter den in politischen Talkshows und anderen Medien ausgetragenen Streits stecken verschiedene »Diskursformationen«, die wiederum auf unterschiedlichen Vorstellungen davon beruhen, was Deutschlands Identität ausmacht.
Klingt kompliziert? Nicht im Artikel von Julia Tappeiner, die im Gespräch mit dem Politologen Sebastian Glassner die unterschiedlichen Positionen sortiert und analysiert hat. Danach denkst du anders über die »Zeitenwende«.
8. Wie Zehntausende Freiwillige versuchen, die russische Bevölkerung wachzurütteln
Was der Krieg für »uns« in Deutschland bedeutet, für die Energieversorgung, das Verhältnis zu Russland, unsere Identität – all das wurde im Jahr 2022 in deutschen Medien ausgiebig diskutiert. Was den Debatten oft fehlte: Der Blick über den Tellerrand, die Perspektiven der anderen, die genauso betroffen sind, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr, weil sie Russlands Großmachtstreben direkt bedroht.
Zum Beispiel die Situation in Litauen. Im Sommer war Gastautor David Ehl in dem kleinen baltischen Land unterwegs und hat dort einen Marketingspezialisten getroffen, der seine Fähigkeiten jetzt dafür nutzt, die russische Bevölkerung aufzuklären – gemeinsam mit vielen anderen Freiwilligen.
9. Queers im Krieg: Überraschende Erfolge für die Gleichberechtigung
»Der Krieg hilft der Ukraine dabei, queere Menschen zu akzeptieren.« Die Journalistin Peggy Lohse ist im Sommer dieses Jahres durch das Land gereist und hat viele überraschende Zitate mitgebracht. Sie hat interessiert: Welche Konsequenzen hat der Krieg für die LGBTQIA+-Community? Dafür hat sie mit Hilfsorganisationen gesprochen, aber auch mit 2 schwulen Soldaten, die von ganz unterschiedlichen Erfahrungen berichten. Das Ergebnis ist eine Reportage mit unerwarteten Einblicken, die trotz aller Schwere optimistisch stimmt.
10. Was Pazifismus wirklich heißt und warum ihn gerade viele falsch verstehen
Zum Schluss möchte ich dir noch ein nachdenkliches Stück von Stefan Boes empfehlen. Stefan hat sich auf die Spuren des Antikriegsschriftstellers Erich Maria Remarque begeben. Mit »Im Westen nichts Neues« gelang es dem Autor, einem Millionenpublikum die bittere Wahrheit über den Ersten Weltkrieg nahezubringen. Er wurde damit zu einer lauten Stimme des Pazifismus.
Was hätte Erich Maria Remarque den Pazifist:innen von heute zu sagen? Welche Position würde er zur Diskussion über die Waffenlieferungen in die Ukraine einnehmen? Antworten findest du in diesem Artikel.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily