Warum du nicht so rational denkst, wie du glaubst
Rationalität unterscheidet Menschen von den anderen Tieren. Doch »rational sein« ist nicht so einfach …
»… also gibt es die Emotionen und unabhängig davon die Rationalität.« Parallel schrieb mein Philosophieprofessor die beiden Worte »Emotionen« und »Rationalität« in großen Buchstaben an die Tafel. Ich war verwirrt. »Diese beiden Dinge lassen sich doch nicht voneinander trennen, oder?« Genau das hatte ich während meines Psychologie- und Neurowissenschaftenstudiums gelernt. Aber mein Philosophieprofessor wollte davon nichts wissen. Nach einer langen Diskussion vor versammelter Mannschaft blieb ich allein mit einer Frage zurück: Können Menschen rational sein?
Mit anderen Worten: Kann es einen menschlichen
Die Logik allein kann sich nicht entscheiden
Elliot war immer gut mit Zahlen, er hatte lang als Buchhalter gearbeitet. Dann begannen die Probleme und er wurde von einem zum anderen Arzt geschickt. Eine Diagnose gab es nicht. Seine kognitiven Fähigkeiten waren weiterhin einwandfrei. Trotzdem verlor er seinen Job als Buchhalter und seine Frau ließ sich scheiden. Was war passiert? Elliot war nicht mehr in der Lage, praktische Entscheidungen zu treffen, egal wie trivial diese auch waren: Als er im Büro einen Brief unterschreiben sollte, lagen vor ihm ein blauer und ein schwarzer Kugelschreiber auf dem Tisch. Welchen sollte er wählen?
Der Brief war mit einem schwarzen Stift geschrieben. Dazu passte gut der schwarze Kugelschreiber. Blau hingegen würde besonders hervorstechen und seiner Unterschrift mehr Wirkung verleihen. Allerdings hatte der blaue Stift schon ein wenig seiner Deckungskraft verloren, der schwarze könnte das ausgleichen. Welcher von beiden schreibt nun besser? Der schwarze kommt von der teureren Marke, aber der blaue liegt eigentlich besser in der Hand. Seine Unterschrift würde flüssiger aussehen …
Eine halbe Stunde später stand
Elliot hat mit seiner sonderbaren Unentschlossenheit Neurowissenschaftlern zu neuen Sichtweisen verholfen. Er begann sich zu verändern, nachdem ihm ein Gehirntumor im vorderen Bereich seines Gehirns entfernt worden war. Ein Tumor so groß wie eine Orange, der bereits große Teile seines
»Wir sind frei zu tun, was wir wollen, aber nicht frei zu wollen, was wir wollen.« – Arthur Schopenhauer
Das bedeutet: Emotionen und »rationales« Denken sind im Gehirn nicht voneinander getrennt. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich helfen uns Emotionen dabei, zu erkennen, zu markieren und
Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio arbeitet seit mehreren Jahrzehnten mit Patienten, bei denen bestimmte Gehirnregionen beschädigt sind, welche für die Verarbeitung emotionaler Prozesse wichtig sind. So wie bei Elliot. Damasio nennt Emotionen lieber »somatische Markierungen«, also die Markierung einer körperlichen Emotion durch einen Gedanken.
Elliots Gedanken fehlt diese »somatische Markierung«. Er trifft weder eine gute noch eine schlechte Entscheidung, sondern gar keine. Das ist ein Extremfall. Generell helfen uns Emotionen aber, uns zu entscheiden. So hilft mir meine Vorliebe für Sahnetorte, mich zu entscheiden, was ich beim Konditor bestelle.
Klar ist also: Emotionen sind wichtig für Entscheidungen. Aber helfen sie uns auch, bessere, »rationalere« Entscheidungen zu treffen? Bei dieser Frage hilft ein experimentelles Spiel aus der Psychologie.
Einen Euro nehmen oder nicht nehmen
Das Ultimatum-Spiel funktioniert folgendermaßen: Stelle dir vor, du und ich sollen 10 Euro zwischen uns aufteilen. Beide bekommen wir den entsprechenden Anteil nur, wenn wir uns einig werden. Außerdem dürfen wir uns nicht absprechen. Stattdessen muss ich dir ein Angebot machen, das du ablehnen oder akzeptieren kannst.
Ich biete dir einen Euro an. Was machst du?
Vielleicht ist das gar nicht so »irrational«. Denn jemand, der immer wenig akzeptiert, weil es »besser als nichts« ist, wird eher ausgenutzt. So schadet er sich und seiner Gesundheit langfristig vielleicht mehr als jemand, der nicht alles mit sich machen lässt.
Kannst du mir erklären, was »rational« ist?
In jedem Fall offenbart das Ultimatum-Spiel eine grundsätzliche Frage: Unsere Schwierigkeit, die Entscheidung beim Spiel als »rational«, »irrational« oder »emotional« zu beurteilen, steht stellvertretend für das generelle Problem mit dem Begriff der »Rationalität«. Die wenigsten Menschen, die das Ultimatum-Spiel spielen, werden die Konsequenzen logisch durchdacht haben, bevor sie den Euro ablehnen. Handeln sie deshalb nicht »rational«?
Vielleicht können wir uns einer Definition von »Rationalität« zumindest nähern. Denn es ist mittlerweile klar, dass »rational« nicht »ohne Emotionen« bedeutet. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, logisch nachzudenken. Eigentlich bedeutet »rational« doch, etwas zu tun oder zu denken, weil es gute
Kommen wir der »Rationalität« näher, wenn wir fragen, ob die Beweggründe einer Person »rational« sind? Im Alltag denken wir nicht über jede Entscheidung lang nach. Und das ist auch gut so, denn sonst kämen wir bei den einfachsten Fragen zu keiner Entscheidung. So wie Elliot.
Aber auch wenn wir versuchen, logisch zu entscheiden, ist das vor allem aus 2 Gründen fast unmöglich. Erstens haben wir bei großen, wichtigen Entscheidungen nicht alle Informationen vorliegen. Nimm einmal an, du willst ein Haus kaufen. Selbst wenn du Monate lang abwägst und vergleichst, wirst du niemals in der Lage sein, alle Optionen zu berücksichtigen. Die Zukunft deines Kontostandes, die Entwicklung der Immobilienpreise, die Vielzahl an Angeboten … Trotzdem sind wir im Gegensatz zu Elliot in der Lage, einfache und komplexere Entscheidungen zu treffen. Das liegt vor allem daran, dass wir in der Lage sind, mithilfe von Faustregeln abzuwägen und schließlich eine Entscheidung zu treffen. Diese Abkürzungen sind jedoch nicht optimal, sondern anfällig für logische Fehler. Das bringt uns zu Punkt 2: Wir treffen häufig Entscheidungen, bei denen wir Risiken falsch beurteilen. Wir sind schlecht darin, unser eigenes Handeln in der Zukunft einzuschätzen. Die Liste dieser Verzerrungen, sogenannter
Selbst wenn wir diese beiden Herausforderungen überwinden könnten und sämtliche Informationen logisch abwägen würden, bliebe die Frage: Was ist das Ziel meines Handelns? Wann kann ich die Gründe für mein Handeln als »rational« bezeichnen? Gehen wir davon aus, dass
Diese Frage beschäftigt unser Denken seit Jahrtausenden. Sie ist
Ist das moralisch korrekt?
Ariane und Michael sind gemeinsam groß geworden. Nach einer langen Party finden sie sich nebeneinander im Hotelbett wieder. Sie hatten Spaß und haben vorsorglich verhütet. Es soll bei diesem One-Night-Stand bleiben. Ihr inniges Verhältnis wird dadurch nicht zerstört. Sie unternehmen auch danach viel gemeinsam, ohne dass es zu seltsamen Situationen kommt.
Michael und Ariane sind Geschwister. Ist ihr kleines Sexabenteuer moralisch falsch? Als der Psychologe und Wissenschaftler Jonathan Haidt Probanden diese Frage stellt, kommt die Mehrheit zu dem Schluss:
Hast du deine moralische Einstellung schon mal aufgrund von Argumenten geändert?
So sind wir wieder zurück bei den Emotionen. Wir bräuchten normative Kriterien, um zu bestimmen, welches Handeln und Denken als »rational« gilt.
Meinem Philosophieprofessor war die Unterscheidung zwischen Emotionen und »Rationalität« wichtig. Sein Argument: Wir können logisch denken. Es sei genau diese Fähigkeit, die uns ermögliche, eine Moral zu definieren. Das wiederum unterscheide uns von allen anderen Lebewesen. Bestimmtes moralisches Verhalten sehen wir auch
Ab Minute 13 zeigt der Primatenforscher Frans de Waal, wie Kapuzineraffen auf unfaire Belohnungen reagieren. (englisch, deutscher Untertitel)
Wut ist eine mögliche Antwort auf das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.
Nachdenken über unser Nachdenken
Hat die Idee vom »rationalen Menschen« also ausgedient? Mein Philosophieprofessor hätte Emotionen und »Rationalität« besser als ein gemeinsames Konstrukt beschreiben können. Eine Unterteilung in schnelle, häufig als intuitiv bezeichnete, und langsame Entscheidungen erscheint sinnvoller. Bei Letzteren nutzen wir unsere Kompetenz, um abzuwägen, und berücksichtigen zumindest teilweise logische Argumente. Das ist natürlich anstrengender, zeigt uns aber auch: Wir können lernen, logische Fehler im eigenen Denken zu erkennen. Das ist nicht einfach. Erste Versuche, logisches Nachdenken als Nebenfach in der Schule zu etablieren,
Wir können logisches Denken trainieren
Es gibt aber auch Hoffnung. Bei einem Experiment an der Harvard University erhielten Probanden ein Training im logischen Denken
Mein Fazit: Wir können nicht beurteilen, ob jemand »rational« handelt. Aber es gibt auch Hoffnung. Denn wir können logisch denken und diese Fähigkeit trainieren, auch wenn es schwierig ist. Das kann uns bei alltäglichen Entscheidungen helfen. Sei es, wenn wir in unserem Privatleben den Argumenten von Politikern, Unternehmen und Familienmitgliedern ausgeliefert sind, oder in unserem beruflichen Alltag. Besonders Menschen, die Entscheidungen fällen, die viele andere Menschen betreffen, können davon profitieren, ihr logisches Denken zu trainieren.
Die Ausgangsfrage, um zu beurteilen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, bleibt uns dennoch nicht erspart: Welches Ziel soll erreicht werden?
Mit Illustrationen von Lukas Oleschinski für Perspective Daily