Wir haben unsere Städte den Autos geopfert. Japan zeigt, wie es anders geht
Verkehrsunfälle gehören zur Tagesordnung. Seit der Geburt seines Sohnes will unser Autor dies nicht länger hinnehmen.
Ein ganz normaler Samstag im Dezember. Das Wetter ist mies, doch frische Luft tut Not. Kaum sind wir aus der Haustür, erhebt sich eine zarte und doch fordernde Stimme rechts neben mir. »Nein Papa, allein zum Spielplatz laufen!« Mein gerade einmal 2 Jahre alter Sohn zieht an meiner Hand, um sich zu befreien. Kaum lasse ich ihn los, leuchten seine Augen voller Aufregung und Entdeckergeist.
Einfach alles ist spannend. Kleine Details, die für uns Erwachsene schon lange zum banalen Alltag gehören, üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. So auch die Amsel, die soeben unweit von uns gelandet ist und nun über die Bordsteinkante spaziert.
»PIEP PIEP, HABEN!« Kleine Beinchen überschlagen sich. Alles um den kleinen Mann herum ist vergessen; jetzt zählt nur noch das Ziel. Ich hechte nach vorn und erwische noch gerade so die Kapuze, um der Vogeljagd etwas unsanft ein jähes Ende zu setzen. »Du kannst nicht einfach so allein losrennen!«, höre ich mich in selten strengem Ton sagen. »Nicht dahin! Da ist die große Straße und die ist supergefährlich für dich!«
Keine 5 Meter konnte der Kleine allein laufen, bis er auf das häufigste Hindernis für Kinder heutzutage stieß: Autos.
Egal ob auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt oder beim Spazierengehen: Situationen wie diese sind Teil unseres Alltags: »Vorsicht, hier sind Autos« gehört längst zu den Standardphrasen aller Eltern. Erst auf dem Spielplatz angekommen kann aufgeatmet werden.
All das frustriert nicht nur den kleinen Entdecker, sondern auch mich. Denn ich bin alles andere als ein Helikoptervater und habe mir fest vorgenommen, niemals einer zu werden. Auf dem Klettergerüst hat er freie Hand, es wird auf Mauern gekraxelt und getobt, wo es nur geht.
Wir haben uns über viele Jahrzehnte daran gewöhnt, dass unsere Städte lebensgefährliche Räume sind
Doch die allgegenwärtige Gefahr durch den Autoverkehr für unsere Kleinsten ist traurige Realität. Über 22.000 Kinder verunglückten im Jahr 2021 im deutschen Straßenverkehr, 49 von ihnen verloren ihr Leben. Traurige Zahlen, die klarmachen, warum hierzulande viele Eltern die Hände der Kleinsten nur auf sicher abgezäunten Spielplätzen loslassen.
Szenenwechsel: Ein Dreikäsehoch namens Hiroki von nicht einmal 3 Jahren läuft, mit einer gelben Signalfahne ausgestattet, eine Straße entlang. Er hat eine Mission: Im Supermarkt Curry, Fischfrikadellen und Blumen besorgen – und zwar ganz allein.
Was wohl bei den meisten Eltern in Deutschland für nackte Panik sorgen dürfte, ist in Japan ganz normal. Denn hier werden Kinder von klein auf mit kleineren Erledigungen betraut, um ihr Selbstvertrauen zu fördern. Wie das in der Praxis aussieht, zeigt die auf Netflix sehr erfolgreiche Reality-Doku
Wie ist das möglich? Und was können wir in Deutschland davon lernen, damit sich Kinder (und auch Erwachsene!) gefahrloser in unseren Städten bewegen können?
Kindheitserinnerungen
War das schon immer so? Wie habe ich in meiner Kindheit den Straßenverkehr wahrgenommen?
Unvermittelt habe ich die Stimme meiner Mutter im Kopf: »Geht endlich mal raus vor die Tür an die frische Luft zum Spielen!« Ein Satz, der wohl auch heute noch in Richtung Kinderzimmer schallt – in Zeiten von Smartphones, Tablets und Spielekonsolen wohl vielleicht sogar häufiger als damals.
Ich bin im ländlich geprägten Ostwestfalen groß geworden, meine Heimatstadt zählt gerade einmal 10.000 Einwohner:innen. Und trotzdem war hier weder »frische Luft« selbstverständlich noch ländlicher Raum frei von Autoverkehr, der Kindern gefahrloses Spielen ermöglicht.
Im Gegenteil: Beides gab es trotz vermeintlicher Dorfidylle nicht, da sich die Hauptverkehrsader des Ortes unmittelbar vor unserer Haustür durch die historische Altstadt fraß. Tägliches Autoaufkommen: Tausende Fahrzeuge. Das weiß ich so genau, weil die
Für die AnwohnerInnen ist das Verkehrsaufkommen eine große Belastung. Ständiger Verkehrslärm, Fahrzeugabgase, kaum Parkmöglichkeiten und die unüberschaubare Gefahrensituation für Kinder mindern die Wohnqualität.
Erstes Ergebnis: Kleinstadtleben schützt vor Autoverkehr nicht, und gefährlich war der auch damals schon. Sogar mehr noch als heute:
Wer angesichts des scheinbar positiven Trends der Statistik nun aufatmet, sei gewarnt: Einerseits ist natürlich jeder verunglückte Mensch einer zu viel. Andererseits täuschen die Zahlen.
Die generell rückläufigen Werte gehen nicht allein mit mehr Verkehrssicherheit einher;
Hinzu kommt der »Lockdown-Effekt«, der die Zahl der auf dem Schulweg verunglückten Kinder einstweilig reduziert hat. Regelmäßig auftauchende Schlagzeilen wie
Eine Rückschau um ein 1/4-Jahrhundert reicht nicht aus, um zu verstehen, warum Autos in Deutschland höhere Priorität haben als Fußgänger:innen. Mein innerer Historiker kommt zu Wort: Seit wann ist das so?
Seit wann sind unsere Städte nicht mehr für Menschen gebaut, sondern für Autos?
Karl Benz, Adam Opel, Ferdinand Porsche: Historisch gesehen liegt es auf der Hand, warum Deutschland zum Land der Autos wurde. Doch es dauert einige Jahrzehnte, bis die revolutionären Erfindungen der Autopioniere vollends die Städte eroberten. Die Gefahr, die für die nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer:innen von den neuen Maschinen ausging, fuhr von Anfang an mit, wie dieses Schild aus dem Jahr 1906 zeigt:
Was vorher ein Privileg für die wenigen Wohlhabenden war, wandelte sich in den 30er-Jahren in der Rhetorik der Nationalsozialist:innen zum Aufstiegsversprechen: Bereits 1934 versprach Adolf Hitler den Bürger:innen einen erschwinglichen »Volkswagen« für alle: »Fünf Mark die Woche musst Du sparen – willst Du im eignen Wagen fahren« lautete das Versprechen damals.
Doch die allermeisten Sparer:innen sollten ihr Auto niemals zu Gesicht bekommen: Mehr als 60.000 Fahrzeuge lieferte der eigens gegründete Volkswagen-Konzern an Wehrmacht und SS für den Vernichtungskrieg der Faschist:innen. Der eigentliche
Die massenhaft vom Band laufenden Autos brauchten vor allem eines: Platz. Und der Krieg hatte dafür gesorgt, dass sie ihn bekamen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Stunde 0 der Städteplanung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen nahezu alle Großstädte Deutschlands und viele weitere in ganz Europa in Schutt und Asche. Was zuvor über Jahrhunderte historisch gewachsen war, lag in Trümmern. Der Wiederaufbau war eine Herkulesaufgabe, bot Städteplaner:innen jedoch die einmalige Chance, sich am Reißbrett frei zu entfalten und die »Stadt der Zukunft« zu erschaffen.
Diese Zukunft sollte aber nicht den Menschen gehören – sondern den Autos. Im Geiste der damaligen Zeit entstanden vielerorts auf den Ruinen historischer Altstädte großzügige Straßen und (Auto-)Parkflächen. Mehr noch: Was die Bomben an alter Substanz verschont hatte, wurde vielerorts in den 50er-Jahren abgerissen,
Berühmt-berüchtigt für seine Vision der autogerechten Stadt der Zukunft ist der Stadtplaner Rudolf Hillebrecht. In Hannover schlägt er großangelegte Verkehrsschneisen durch das Stadtzentrum, baut kreuzungsfreie Schnellstraßen und riesige Kreisel.
Hillebrecht wurde zum Vorbild für ganz Westdeutschland. Der Spiegel schwärmte 1959 vom »Wunder von Hannover«. Heute gilt die Stadt nur dort als schön, wo Hillebrecht nicht gewirkt hat.
Wie der Staat Kinder einsperrte, um sie vor Autos zu schützen
Das Resultat der Automobilutopie und des durch sie beförderten rasanten Anstiegs des Verkehrs lässt sich bald an der Unfallstatistik ablesen. Die Zahl der Verletzten und Getöteten steigt Jahr für Jahr kontinuierlich an, bis sie 1983 mit fast einer halben Million Verletzten und 12.000 Todesopfern einen Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge
Die Politik reagiert nur langsam, trotz der Hunderttausenden Versehrten. Etwa mit der Einführung des Tempolimits auf Landstraßen (1972), der stufenweisen Einführung der Gurtpflicht (seit 1974), mit Verkehrsunterricht in der Schule (1972) oder einer niedrigeren Alkoholgrenze von 0,8 Promille für Autofahrer:innen (1973).
Und mit einer weiteren Maßnahme, die mich erst dazu gebracht hat, diesen Text hier zu verfassen: dem massiven Ausbau von Spielplätzen. Diese wurden nicht etwa so populär, weil sie so pädagogisch wertvoll sind und Kinder zu Bewegung animieren. Sie wurden überall errichtet, weil sie Kinder vor der lebensbedrohlichen Umgebung schützen sollen, die wir als Städte bezeichnen.
Die ersten Spielplätze waren Schutzräume, die Kinder vor den Gefahren der industrialisierten Großstadt bewahren sollten. Bis heute sind Spielplätze in erster Linie ein Stadtphänomen.
Draußen an der frischen Luft spielen? Aber bitte nur in eingezäunten Bereichen, die Autos brauchen ihren Platz. Dabei ginge es auch anders.
Von Grundschulkindern, die allein einkaufen gehen können
Zurück zu unserem Dreikäsehoch Hiroki vom Beginn des Textes, der mit kaum 3 Jahren erstmals selbstständig kleine Besorgungen erledigt. Die Reality-Serie »Old Enough« (»Alt genug«), in der Hiroki und andere Kleinkinder auch hierzulande auf Netflix zu sehen sind, läuft in Japan bereits seit mehr als 30 Jahren. Einkaufen gehen, Gemüse im Garten ernten oder sogar selbstständig Bus fahren: In den 10–20-minütigen Folgen begleiten die Macher:innen heimlich Kleinkinder im Alter von 2–5 Jahren, die von ihren Eltern mit kleinen Alltagsaufgaben betraut werden.
So schlendert Hiroki in der ersten Episode nun also die Straße entlang, vorbei an Passant:innen und Autos, bis er schließlich den etwa einen Kilometer entfernten Supermarkt erreicht. Versteckte Kameraleute beobachten ihn dabei unbemerkt auf Schritt und Tritt. Direkte Unterstützung bekommt Hiroki erst im Laden selbst – bei der Auswahl der Blumen. Zufrieden spaziert er schließlich aus dem Ausgang, bis ihn ein großer Schreck ereilt … Er hat das Curry vergessen! Nachdem er alles erledigt hat, macht er sich, die Blumen hinter sich her schleifend, auf den Weg nach Hause, wo ihn seine stolzen Eltern bereits erwarten.
Die Abenteuer von Hiroki und vieler anderer Kinder sind niedlich und spannend zugleich – und führen bei nicht wenigen westlichen Zuschauer:innen zu ungläubigem Kopfschütteln. So etwa in den USA, wo das Format ebenso populär
Doch was auf den ersten Blick unglaublich erscheint und in Deutschland möglicherweise eine Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung nach sich ziehen könnte, hat im Land der aufgehenden Sonne Tradition. Wenn auch nicht in so extremer Form wie in der TV-Serie.
Die Japaner:innen machen uns vor, wie Städte sicherer werden können
Der US-amerikanische Podcast
Der wichtigste Grund dafür, dass das möglich ist und sich Kinder (und Erwachsene) in Japan viel freier bewegen können, ist die Art und Weise, wie Straßen und Stadtviertel angelegt sind. Dazu ist wichtig zu wissen, dass Teile der Geschichte des Landes durchaus mit der deutschen vergleichbar sind: Auch japanische Städte waren nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerstört. Auch Japans Wirtschaft erholte sich schnell. Und auch hier wurden dank Toyota, Honda und Nissan bald Unmengen von Autos produziert, die zusammen mit dem steigenden Wohlstand bald für viel Verkehr, Tote und Verletzte sorgten.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Statt nach dem Krieg alles dem motorisierten Verkehr unterzuordnen, werden Mobilität und der öffentliche Raum primär an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. Der Verkehrsexperte Owen Waygood bringt es im Podcast »99% Invisible« auf den Punkt:
In Japan wird erwartet, dass Kinder sich selbstständig bewegen können. Wenn man diese Erwartung hat, muss man eine Umgebung schaffen, die das ermöglicht und erleichtert.
Dabei orientieren sich japanische Stadtplaner:innen an den Ideen des US-amerikanischen Städteplaners Clarence Perry, der sich bereits seit Ende der 20er-Jahre Gedanken über die ideale moderne Stadt machte. Dies sind die Eckpunkte, die Japan anders macht:
- Grundschulen sollten das Herzstück eines jeden Stadtteils sein, da sich auf diese Weise die Wege für alle Bewohner:innen verkürzen.
So schreibt Japan per Gesetz fest, dass eine Grundschule in einem Umkreis von maximal 4 Kilometern erreichbar sein muss – in der Realität sind die Wege aber meist sogar noch kürzer. Damit wird es selbstverständlich, dass die Schüler:innen dorthin laufen können und »Elterntaxis« nicht zur Gefahr für diejenigen werden, die die Eltern eigentlich schützen wollen. - Sogenannte »Walking Busse« sollen kleinere Kinder auf dem Fußweg zur Schule noch besser schützen. Dahinter steckt eine Nachbarschaftsinitiative, bei der ältere Kinder die jüngeren Schüler:innen aus dem eigenen Stadtteil abholen und den Schulweg gemeinsam mit ihnen gehen. So wird dieser selbst zur Lernaktivität. Eine Praxis, die vereinzelt inzwischen auch in Deutschland aufgegriffen wird,
- Möglichst gut durchmischte Stadtviertel fördern kurze Wege. Wohn- und Gewerbegebiete werden in Japan in der Regel nicht getrennt und der Verkehr zwischen den jeweiligen Vierteln so auf ein Minimum reduziert. Dass das auch für die Umwelt gut ist, ist eine positive Nebensache. Eine Idee, die aktuell in einigen Städten eine Renaissance feiert. Anschauungsmaterial dafür liefert zum Beispiel Schweden:
Wir haben uns daran gewöhnt, dass Städte für Autos gemacht sind. Schluss damit!
Zu guter Letzt geht es dem Elefanten im Raum noch an den Kragen: Es gibt schlicht viel zu viele Autos, gerade bei uns in Deutschland. 48,5 Millionen sind es – so viele wie nie zuvor. Damit
Auch dieses Problem geht Japan rigoros an. Ein Auto kaufen darf nur, wer einen privaten Parkplatz nachweisen kann; es über Nacht am Straßenrand abzustellen, ist komplett untersagt. Der Grund hierfür ist simpel wie einleuchtend: Öffentlicher Raum ist ein hohes gemeinschaftliches Gut, das nicht mit dem Privatbesitz Einzelner verstopft werden soll.
Diese Denkweise löst gleich mehrere Probleme: Sie führt zu einer geringeren Autoquote in der Stadt, macht einen gut ausgebauten ÖPNV unumgänglich und sorgt dafür, dass keine Mauern aus Blech am Straßenrand die Sicht von und auf (kleine!) Menschen versperren.
Diese und viele weitere Maßnahmen ermöglichen es, dass in Japan von Jahr zu Jahr weniger Menschen durch Autos verletzt oder getötet werden, die Zahlen sanken in den vergangenen 6 Jahren kontinuierlich. Konkret heißt das: Pro 100.000 Einwohner:innen sterben
Städte, die für Menschen gemacht sind
Die Geschichte der Städte, die für Autos anstatt für Menschen gebaut sind, ist lang. Über Jahrzehnte haben wir uns daran gewöhnt, dass tonnenschwere Metallkästen mit meist nur einer Person darin unsere Lebensqualität und sogar unsere Leben selbst bedrohen. Das ist nicht verwunderlich, schließlich haben wir es nie anders kennengelernt.
Dabei übersehen viele, dass es bereits zahlreiche Ideen und Maßnahmen gibt, die unsere Städte sicherer, sauberer und schöner machen! Woran es häufig noch hakt, ist der Mut zur Veränderung.
Ein gutes Beispiel dafür ist die slowenische Hauptstadt Ljubljana. Im Jahr 2007 gab es hier eine große Kontroverse über die Idee einer autofreien Innenstadt. Lediglich 40% der Anwohner:innen waren für die Idee. Gerade einmal 10 Jahre nach dem Rauswurf der Autos sprachen sich jedoch ganze 97% dagegen aus, das Zentrum wieder für Autos zu öffnen.
Beispiele wie diese gibt es viele, wir müssen nur daraus lernen. Dann klappt es auch mit einer Stadt, in der ich meinen Sohn aus Angst um sein Leben nicht mehr ständig an der Hand halten muss.
Transparenzhinweis: In der Ursprungsversion dieses Artikels hieß es: »Die generell rückläufigen Werte gehen nicht allein mit mehr Verkehrssicherheit einher; es gibt schlicht immer weniger Kinder in Deutschland, die verunfallen können.« Dies war so nicht korrekt. Die Zahl der Kinder sank zwischen 1993 und 2013 beständig, seither wächst sie jedoch wieder. Die entsprechende Textstelle wurde nachträglich präzisiert.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily