Wieso, weshalb, warum kommt die Sesamstraße ins Flüchtlingslager?
Die Sesamstraße ist Teil der vielleicht größten gemeinnützigen Bildungsorganisation der Welt. Jetzt sollen Krümelmonster und Co. Kinder in Flüchtlingslagern unterrichten.
Egal wo – die Sesamstraßenwelt ist ein großer Abenteuerspielplatz, auf dem Probleme mit einem fröhlichen Lied oder durch Rechenrätsel mit Graf Zahl zu lösen sind. Nichts ist unmöglich. Es klingt deshalb schon fast zynisch, dass die Macher der Sesamstraße die flauschigen Kultmonster jetzt auch in syrische Flüchtlingslager schicken wollen. Doch dahinter steckt mehr als eine seichte Unterhaltungsoffensive.

Elmo will Bildung für alle!
Die Gefahr für Kinder in Kriegs- und Krisenregionen ist 2016 weiter gestiegen: In Syrien starben mehr Kinder im Bombenhagel als im Vorjahr, andere wurden als Kindersoldaten oder Attentäter missbraucht. Mittlerweile leben
»Die Zukunft dieser Kinder steht auf dem Spiel.« – Sherrie Westin
Das ist fast eine ganze Generation, die in provisorischen Flüchtlingslagern aufwachsen könnte, sogar dort geboren wird. Deshalb will Sherrie Westin schnell handeln. Sie ist Vizepräsidentin des »Sesame Workshops«, eine der größten gemeinnützigen und informellen Bildungsorganisationen weltweit. Zusammen mit der Internationalen Hilfsorganisation für Flüchtlinge und Kriegsopfer (IRC) plant die TV-Produzentin
Kurz nach der Erstausstrahlung in ihrem Heimatland, den USA, expandierte die Sesamstraße in andere Länder. Auch Vorschulkinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten sollten so einen Zugang zu Bildung erhalten. Die Fangemeinde auf der ganzen Welt wuchs. Mittlerweile erreicht die Sesamstraße in über 150 Ländern viele Millionen Kinder. Den Machern ist es wichtig, dass sich Kulissen und Figuren in die Lebensrealität der kleinen Zuschauer einfügen.
Auch im Bereich der regionalen Vorschulbildung hat die Sendung in den letzten 48 Jahren viel geleistet. In einer Studie in Bangladesch erzielte das junge Publikum sogar bis zu 67% bessere Ergebnisse in Mathematik und Sprache als Altersgenossen, die die Sesamstraße nicht kennen.
Die Forschung zeigt, dass wir den größten Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben, wenn wir sie in den ersten Jahren ihres Lebens erreichen.
An diese Erfolge möchte der »Sesame Workshop« nun in Flüchtlingslagern anknüpfen und sieht die Chance, dort eine große Lücke zu schließen.

Trauma in jungen Jahren
Vor allem Kinder in den ersten Lebensjahren soll die Initiative erreichen.
Auch hormonell sind Flüchtlingskinder anfälliger: »Wenn Kinder in Beziehungen ›unsicher gebunden‹ sind, haben sie einen ständig erhöhten

Als 2015 Tausende minderjährige Geflüchtete in Deutschland ankamen, reagierten Krömer und seine Kollegen im Regionalverband und gründeten einen Kreis, um sich über die Behandlung von geflüchteten Jugendlichen, Kindern und deren Eltern auszutauschen. »Der Ruf nach mehr Therapie ist immer da. Gleichzeitig haben wir in Deutschland nachweislich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. In den letzten 1,5–2 Jahren konnten wir enorme Ressourcen für die professionelle Flüchtlingshilfe aktivieren«, bestätigt Krömer.
Nicht jedes geflüchtete Kind in Deutschland oder andernorts braucht eine Therapie.
Professionalität in meinem Fachbereich bedeutet auch immer in der Wahrnehmung zu trennen zwischen Gefühlen, die in mir vor sich gehen, und Gefühlen, die im Gegenüber vor sich gehen. Eine Flucht ist in den meisten Fällen eine schreckliche und furchtbare Erfahrung – trotz alledem nützt es zunächst nichts, Geflüchtete auf der Basis von eigenen Gefühlen zu unterstützen. Tatsächlich ist es wichtig, die Bedürfnisse, die Nöte und das, was das Gegenüber gerade braucht, in den Vordergrund zu stellen und dabei zu beachten, dass es eben nicht darum geht, dass ich jetzt ruhiger schlafen kann.
Grundsätzlich kommt es bei Eltern – egal wo in der Welt – darauf an, wie sehr die eigenen Kompensations-Strategien ausgebildet sind. Ich bin mir sicher, dass der Mechanismus, die eigenen Kinder zu beschützen, sehr ausgeprägt ist, und dies bei nahezu allen Menschen. Aber es kann natürlich sein, dass Eltern selbst in einer Situation sind, in der sie gar nicht mehr beschützen können, weder sich selbst noch andere.
Wenn Kinder behandelt werden, sollten die Eltern immer ein wichtiger Teil der Therapie sein. Deshalb sind die Bezugspersonen auch ein unentbehrlicher Baustein der Initiative des »Sesame Workshop«. In der Projektbeschreibung heißt es: »Die Initiative wird Programme und kulturell relevante Inhalte für Kinder schaffen sowie Werkzeuge, um Eltern und Betreuer effektiver darin zu unterschützen, mit [den Kindern] Widerstandsfähigkeit aufzubauen und ihr Lernen zu unterstützen.«
Clowns und Puppen als geheime Waffe?
Ich glaube, unsere Puppen sind Geheimwaffen, denn sie haben die Fähigkeit, Kinder weltweit anzusprechen und zu motivieren.
Mit Spiel und Spaß Kindern in Flüchtlingslagern zu begegnen, ist keine Erfindung der Sesamstraße und muss nicht immer Teil einer internationalen Kampagne sein. Im Libanon, wo mittlerweile jeder Vierte ein Geflüchteter aus Syrien ist, kümmern sich lokale Nichtregierungsorganisation, Gruppen und Privatpersonen seit Beginn der Flüchtlingskrise spielerisch um die Kinder in den Camps.

Theaterpädagogin und Sozialtherapeutin Sabine Choucair, die die Gruppe im Libanon mitgründete, reiste Ende 2015 mit anderen Clown-Aktivisten auf die griechische Insel Lesbos. Damals schafften jeden Tag bis zu 3.000 Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak die Überfahrt zu der Insel.
Es ist natürlich schön, wenn sie die Zeit, die Ressourcen und die Gelder zur Verfügung haben, mit Kindern zu arbeiten. Ist das nicht der Fall, dann können auch kurze Momente von Ablenkung, von Entlastung und von anderen Gefühlen wirken. In diesem Augenblick ist es sicherlich für die Kinder eine gute Erfahrung.
Egal ob Puppen oder Clowns – die vorgestellten Projekte zeigen, wie Flüchtlingskinder erreicht werden können. Die Erwartungen an das Projekt der Sesamstraße sind hoch:
Sherrie Westin verspricht: »Die Sesamstraße wird ein evidenzbasiertes Modell etablieren, das von anderen Organisationen angepasst und umgesetzt werden kann, um Millionen von Kindern in Krisen zu erreichen.« Bis die Bewohner der Sesamstraße in die vielen Flüchtlingslager einziehen können, wird es abhängig von den Fördergeldern und der Planungsphase noch 2–3 Jahre dauern. Die ersten Testprogramme laufen bereits.
Titelbild: Ryan Heffernan/ Sesame Workshop - copyright