Wie der Wirtschaftskrieg mit Russland den Welthandel umkrempelt
Finanzexperte Maurice Höfgen erklärt die Folgen der Russlandsanktionen und wieso die deutsche Wirtschaftspolitik versagt hat. Ein Auszug aus seinem Buch »Der neue Wirtschaftskrieg«.
Der Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen trifft längst nicht nur die, die ihn aktiv führen. Im Gegenteil: Er krempelt den Welthandel um. Einige können davon profitieren und gute neue Geschäfte einfädeln. Indien oder die Türkei etwa nutzen die Situation, um ihren Handel mit Russland auszubauen. Die Türkei kauft jetzt doppelt so viel Öl aus Russland wie vor dem Krieg, und das zu vorteilhaften Konditionen.
Insgesamt ziehen Wirtschaftskrieg und Sanktionen aber eine Spur der Verwüstung durch die Weltwirtschaft. Besonders hart trifft es die ärmeren Länder der Welt. Wenn die EU kein russisches Öl mehr kauft, dann muss sie das Öl woanders einkaufen. Woanders ist aber kein neues Öl, sondern nur Öl, das vorher andere Länder eingekauft haben. Die EU kickt auf der Suche nach neuen Ölimporten andere Länder aus dem Markt – allen voran ärmere Länder.
Das gilt auch für Gas, Kohle und Rohstoffe. Was sollen die ärmeren Länder jetzt machen? Das Wettbieten gegen reiche EU-Länder können sie nicht gewinnen. Wenn sie keine langfristigen Lieferverträge haben, müssen sie die Importe Hals über Kopf woanders herbekommen oder eben doch höhere Preise bezahlen. Beides ist problematisch, logistisch und finanziell. Längere Wege und fehlende Tanker machen Logistik kompliziert und teuer.
Teuer wird es zudem, wenn reiche westliche Länder mit ihrer Nachfrage die Börsenpreise hochtreiben. Sogenannte Entwicklungsländer müssen auf jeden US-Dollar achten, den sie für Importe ausgeben. Dann fehlt es dort an Technologie, Nahrungsmitteln oder Medikamenten.
Je teurer die Energie, desto weniger andere Importe können sie nachhaltig finanzieren. Oder desto eher rutschen sie in die Schuldenfalle und müssen bei internationalen Kreditgebern wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) betteln. Auch macht es sich in diesen Ländern sofort bemerkbar, wenn die Weltwirtschaft ins Stottern gerät. Wird in den reichen Ländern weniger für Kleidung ausgegeben, kann etwa Bangladesch weniger dringend benötigte Devisen über seine Exporte einnehmen. So laufen viele Fäden zusammen, die man sonst nicht auf dem Schirm hat.
Am Ende kann es gar darauf hinauslaufen, dass die ärmeren Länder das russische Öl kaufen müssen, das die EU boykottiert. Besonders schräg: EU-Botschafter plädieren teilweise in den Ländern dafür, dass sie sich an den Sanktionen beteiligen sollen, obwohl sie ihnen auf dem Weltmarkt wegen der eigenen Boykotte die Importe wegkaufen. Weiße Weste für die EU, Probleme für die anderen.
Die Sanktionspolitik offenbart viele blinde Flecken, wenn es um die Folgen für ärmere Länder geht. Dabei kommen regelmäßig auch neue Absurditäten an die Öffentlichkeit. Ägypten zum Beispiel kauft russisches Öl mit Preisabschlägen ein und verkauft das selbst geförderte Öl zu höheren Preisen am Weltmarkt. Unsinn, aber es lohnt sich. Saudi-Arabien, der größte Ölexporteur weltweit, macht es genauso. Indien wiederum kauft russisches Öl mit Preisabschlägen, raffiniert es zu Kraftstoffen und exportiert diese dann in die EU, die damit ihre eigenen Boykotte über Umwege missachtet.
Nicht dass einige wenige Absurditäten die Sanktionspolitik generell infrage stellen. Aber es lauert eben die Gefahr, dass der Wirtschaftskrieg zu neuen Krisen am anderen Ende der Welt führt. Mehr Rücksicht darauf täte dringend Not, um
Unser Zinshammer, deren Staatspleite
Die europäische, die amerikanische und die britische Zentralbank verfolgen den gleichen Plan: Zinsen hoch, Inflation runter. Nicht nur, dass das gegen teures Öl und Gas wenig nützt, es
Wie brutal das werden kann, zeigt der Fall Sri Lanka. Dort fehlen US-Dollar, um Lebenswichtiges zu importieren: Benzin, Medikamente, Gas, Lebensmittel. 60% Inflation und eine Hungerkrise sind der Zündstoff für das politische Fiasko im Land, das eigentlich als asiatischer Musterschüler des Neoliberalismus galt. Sri Lanka ist nämlich eigentlich
Mehr als die Hälfte der ärmsten Länder der Welt stehen vor der Überschuldung
Nach Schätzungen von IWF und Weltbank stehen mehr als die Hälfte der ärmsten Länder vor der Überschuldung, zum Beispiel der Senegal, Ghana oder Kenia. Hinzu kommen noch einige Entwicklungsländer wie Tunesien oder Pakistan. Die Gründe sind schnell ausgemacht.
Einer davon ist die
Wenn die Länder irgendwann nicht mehr an genug US-Dollar herankommen oder die Zinslast zu groß wird, müssen sie sich entscheiden: Zinsen oder Importe bezahlen? Das ist dann der Moment, in dem sie vor dem IWF auf die Knie gehen müssen und gegen neoliberale Auflagen neue Kredite oder Zahlungsaufschübe verhandeln. Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg sind für ärmere Länder ein enormes Problem.
Corona hat Lieferketten unterbrochen und große Handelsplätze lahmgelegt, dadurch stockte das so wichtige Geschäft im Außenhandel. Auch der Tourismus kam streckenweise zum Erliegen. Beides hat den US-Dollar-Fluss trockengelegt. Obendrein stiegen die Gesundheitskosten und Arbeitskräfte fielen krankheitsbedingt häufiger aus. Als wäre das nicht genug, hat Putins Angriff auf die Ukraine und der darauffolgende Wirtschaftskrieg dafür gesorgt, dass die Preise für Energie und Rohstoffe, die international gehandelt werden, Achterbahn fahren. Das Geschäftsmodell der Entwicklungsländer kommt damit vollständig unter die Räder.
Der US-Dollar wird für ärmere Länder zu teuer
Der zweite Faktor ist die neue Zinspolitik aus Washington. Die amerikanische Zentralbank FED macht den US-Dollar gerade teuer, indem sie die Zinsen anhebt. Damit versucht sie,
Denn bei Entwicklungsländern ist in den letzten 15 Jahren in Mode gekommen, US-Dollar-Schulden mit variablem Zins aufzunehmen. Der Anteil der variabel verzinsten Schulden hat sich von 15% auf 30% verdoppelt. Vor allem mit Beginn der Niedrigzinsphase nach der Finanzkrise hat der Trend an Fahrt gewonnen. Und tatsächlich war das Schuldenmachen dadurch jahrelang auch günstiger, solange die Inflation und die Zinsen in den USA niedrig waren.
Rund 1/3 der Kredite der Entwicklungsländer sind jüngst schlagartig teurer geworden
Doch heute geht die Wette nicht mehr auf. Das Ergebnis: Rund 1/3 der Kredite ist schlagartig teurer geworden. Obendrauf kommt die Abwertung. US-Dollar und US-Staatsanleihen gelten weltweit als risikolose Anlage, als Anker des Finanzmarktes. In unsicheren Zeiten gehen Anleger raus aus dem Risiko, raus aus den Anleihen armer Länder und rein in den US-Dollar, rein in Anleihen aus den Vereinigten Staaten. Erst recht, wenn es dafür jetzt auch wieder Zinsen gibt. Der US-Dollar hat daher gegen fast alle anderen Währungen der Welt massiv an Wert gewonnen, außer tatsächlich gegen den russischen Rubel und den brasilianischen Real. Die Abwertung der heimischen Währungen in Entwicklungsländern macht die lebenswichtigen Importe in US-Dollar gerechnet teurer und dadurch für arme Länder unerschwinglich.
Weil das die heimische Inflation befeuert und das Geschäftsmodell ins Wanken bringt, stufen
Im Gegensatz zur eigenen Währung, die die landeseigene Zentralbank selbst erzeugen könnte, ist Fremdwährung nämlich immer knapp. Der Blick auf die Zins-Steuer-Quote der ärmsten Länder ist schockierend: Sri Lanka zahlt derzeit mit einer Quote von 115% mehr für Zinsen, als es an Steuern einnimmt. In Ghana und Ägypten sind die Zinsausgaben immerhin halb so hoch wie die Steuereinnahmen. Hohe Zinsen in Fremdwährung schneiden den Ländern die Luft zum Atmen ab. Zum Vergleich: In Deutschland belief sich die Quote 2021 auf historisch niedrige 2%.
Was Sri Lanka gerade erlebt, könnte dann auch in anderen Ländern passieren. Solange die Länder klein sind, ist die Ansteckungsgefahr einer Staatspleite nicht groß. Es droht also nicht gleich eine globale Finanzkrise. Trotzdem bedrohen Staats- und Wirtschaftskrisen Millionen Existenzen. Und sie wären eigentlich vermeidbar. Je aggressiver die FED ihre Zinsen anhebt und je länger die Weltwirtschaft durch Pandemie und Krieg gebeutelt bleibt, desto schlimmer werden die Verwerfungen und desto mehr Entwicklungsländer kommen ins Straucheln. Deutschland und die EU sollten sich international für Schuldenschnitte und Zinsstreckungen einsetzen und ohnehin mit mehr Geld eine wirklich progressive Entwicklungspolitik betreiben. Der IWF und die Ökonomenzunft hingegen sollten sich endlich eingestehen, dass die exportorientierte Entwicklungsstrategie gescheitert ist. Die neue Schuldenkrise ist ein weiterer Beweis dafür. Einer, der schmerzt und den es so eigentlich nicht mehr gebraucht hätte.
Mehr Ambitionen wagen
Der Wirtschaftskrieg zeigt in einem Brennglas die Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik. Die Texte über die Bilanz von 16 Jahren Merkel müssten eigentlich neu geschrieben werden. Die wohl einfachste Einsicht: Deutschland hat sich zu abhängig von Russland gemacht.
Strategische Industriepolitik heißt, in Szenarien zu denken und auf den schlechtesten Fall vorbereitet zu sein. Anders als ein Unternehmen kann sich der Staat dabei auch Ineffizienzen leisten, weil er nicht profitabel sein muss. Gemeinwohl und Versorgungssicherheit der Bevölkerung müssen sich nicht Jahr für Jahr rechnen. Sie lohnen sich aber dann, wenn der Worst Case eintritt. Das gilt für Flutkatastrophen, Dürren und Waldbrände,
Was bei Russland schiefgegangen ist, droht sich bei Taiwan zu wiederholen. 2/3 aller Mikrochips kommen aus Taiwan, bei der neuesten Chipgeneration sind es sogar 90%. Der Konflikt zwischen China und Taiwan brodelt. Ein Wirtschaftskrieg mit China hätte fatale Folgen. Deutschland und Europa müssen sich wappnen, denn auch bei Hightech-Produkten ist man mittlerweile abhängig. Chips sind der essenzielle Knotenpunkt der Automatisierung und Digitalisierung. Die Ampel hat sich milliardenschwere Förderung der Chipindustrie in den Koalitionsvertrag geschrieben, die EU gar das sogenannte Europäische Chip-Gesetz erlassen, das die Branche mit 43 Milliarden Euro fördern soll. Der richtige Weg!
Ebenso braucht es eine deutlich ambitioniertere Entwicklungspolitik. Der Welthandel wird stabiler, wenn Deutschland und Europa anderen Ländern bei der Entwicklung helfen. Und es ist auch in unserem ureigenen Interesse, dass die Entwicklung der ärmeren Länder nicht so braun und verschwenderisch verläuft wie unsere eigene. Deutschland sollte auf keine Klimakonferenz mehr fahren, ohne Milliardensummen im Gepäck zu haben und das Geld für grüne Infrastrukturprojekte mit Technologietransfer anzubieten. Ärmeren Ländern eine grüne Entwicklung zu ermöglichen, ist nicht nur gut für die Klimaziele, sondern reduziert auch deren Abhängigkeit von Energieimporten aus autoritären Regimen wie Saudi-Arabien, Katar und Russland. Deren Macht speist sich vor allem daraus, die Energiequelle der Welt zu sein.
Christian Lindner hat recht, wenn er erneuerbare Energien als Freiheitsenergien bezeichnet
Christian Lindner hat recht, wenn er erneuerbare Energien als Freiheitsenergien bezeichnet. Sie lösen Deutschland aus dem Klammergriff der russischen Machtmaschine und können verhindern, dass andere Länder erst gar nicht dort hineinkommen. Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit sollten von der Schuldenbremse ausgenommen und der Etat deutlich aufgestockt werden. Erst recht die Milliarden Euro, die die Ukraine zum Wiederaufbau des zerbombten Landes brauchen wird. Übrigens: Je besser die deutsche Wirtschaft läuft, desto einfacher fällt es, großzügige Programme für die Ukraine mitzutragen. Bei der bisherigen Sanktionspolitik kam dieser Gedanke zu kurz.
Deutschland muss sein
Die Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch: Barkäufe begrenzen; Grundbücher und Transparenzregister lückenlos erfassen, digitalisieren und bundesweit vernetzen; Polizei, Zoll, Geldwäsche-Aufsicht und Finanzverwaltung besser koordinieren, besser noch Kompetenzen in einer Bundesfinanzpolizei nach italienischem Vorbild bündeln; Whistleblower umfassender schützen; und ein Unternehmensstrafrecht einführen.
Es ist die Klasse der Malocher, der Ottonormalverbraucher, der Kümmerer, derer mit schmalen Geldbeuteln und der Abgehängten, die zu den Verlierern des Wirtschaftskrieges werden. Und zwar auf allen Ebenen. Je länger die Panzer rollen und die Sanktionsspirale gedreht wird, desto größer die Verluste. Vieles ist politisch aufzuarbeiten, vieles ist wiedergutzumachen. Und vieles muss ganz grundsätzlich anders gemacht werden. Statt Erbsenzählerei, Knauserigkeit und Verbohrtheit im Kleinen brauchen wir mehr Großzügigkeit, Ambition und Pragmatismus im Großen – und zwar am besten sofort.
Transparenzhinweis: Der Autor ist Mitglied der Partei »Die Linke« und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion im Bundestag tätig.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily