Öl und Gas haben als Energieträger keine Zukunft. Warum Shell und Co. trotzdem weiterbohren
Noch in diesem Jahrzehnt dürfte weltweit die Verbrennung von fossilen Rohstoffen deutlich sinken. Doch die Öl- und Gaskonzerne haben längst eine Idee, wie sie ihre rentable Ware auf anderem Wege verkaufen können.
Wir stecken mitten in einem Energieumbruch. Unsere Gesellschaft und Wirtschaft bewegen sich weg von Kohle, Erdöl und Erdgas, hin zu nachhaltigeren Alternativen. Erneuerbare Energien und Elektrofahrzeuge werden immer billiger. Rund 10 Jahre – so viel Zeit gibt die Internationale Energieagentur (IEA) den Fossilen noch,
Das sind gute Nachrichten, obwohl es nicht annährend schnell genug ist, um viele schlimme Folgen der Klimakatastrophe abzuwenden. Dafür bräuchten wir einen sofortigen globalen Fossilausstieg. Ein unrealistisches Szenario. Die Nachrichten sind gut, weil sie die Öl- und Gaskonzerne unter Druck setzen. Es ist das erste Mal, dass die sonst eher konservativ schätzenden Analyst:innen der IEA eine solchen Prognose abgeben. Das Ende der fossilen Ära ist in Sichtweite.
Die Vorstände der milliardenschweren, internationalen Öl- und Gaskonzerne dürften mit diesem Ausblick in die Zukunft ins Schwitzen kommen. Anstelle sich jedoch wirklich um einen nachhaltigen Wandel ihres Geschäftsmodells zu bemühen, planen sie, in der ihnen noch verbleibenden Zeit möglichst viele fossile Reserven auszubeuten. Denn das verspricht nun mal Gewinne.
Aber wofür wollen sie noch mehr Öl und Gas fördern, wenn die Nachfrage in 10 Jahren ihren Höhepunkt erreichen soll? Und wieso werden die Pläne der Fossilindustrie politisch derzeit kaum beachtet? Darum soll es in diesem Text gehen. Das, wofür sich die Öl- und Gaskonzerne momentan hinter dem Rücken der Öffentlichkeit aufstellen, wird schwere umwelt- und gesundheitsschädliche Folgen für Milliarden Menschen haben. Das Vorgehen der Industrie erinnert dabei stark an ein Ablenkungsmanöver von vor 50 Jahren, als sie versucht hat, ihre Mitschuld an und ihr Wissen über die Klimakrise
Doch zuerst schauen wir uns an, über wen wir sprechen, wer überhaupt hinter »der Fossilindustrie« steckt.
Wer steckt hinter der »Fossilindustrie«?
Die größten Namen in der Fossilindustrie kommen denen, die auf ein Auto und eine regelmäßige Tankfüllung angewiesen sind, sicher bekannt vor. Die meisten der Unternehmen entstanden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert und beherrschen auch heute noch die Öl- und Gasindustrie. Die größten Fossilkonzerne
Die Forschenden haben berechnet, was die globalen Konzerne in den Jahren 1965–2018 aus dem Boden geholt haben und für welche Emissionen diese fossilen Brennstoffe verantwortlich sind. Viele der Unternehmen gab es schon vor 1965, manche wurden erst danach gegründet. Den Messbeginn haben Heede und sein Team ausgewählt, weil ihnen zufolge zu diesem Zeitpunkt sowohl den Branchenführern als auch den Politiker:innen die Umweltauswirkungen fossiler Brennstoffe bekannt waren.
Nach diesen Berechnungen sind die 20 größten Öl- und Gaskonzerne für 35% aller energiebedingten Kohlendioxid- und Methanemissionen im Zeitraum 1965–2018 verantwortlich. Das sind über 490 Milliarden Tonnen
Das staatlich geführte Mineralölunternehmen Saudi-Arabiens, Saudi Aramco, führt die Liste mit über 61 Milliarden Tonnen Treibhausgasemissionen an, dicht gefolgt von Gazprom, Russlands staatseigenem Ölkonzern. Platz 3 und 4 werden jeweils von den beiden US-amerikanischen Konzernen Chevron und ExxonMobil belegt. Ebenfalls vielen bekannt sind BP und Shell (beide UK), die sich Platz 5 und 6 sichern.
12 der 20 größten Öl-, Kohle- und Gaskonzerne werden von Staaten geführt, der Rest ist im Besitz von Investor:innen. Nimmt man mehr Unternehmen in den Blick, ändert sich das Bild: Dann ist nur eine Minderheit im Besitz von Staaten.
Die einflussreichsten Investorinnen der Öl- und Gasindustrie sind Banken. Das hat eine
Der Plan B der Fossilindustrie
Saudi Aramco will im Einklang mit dem Pariser Klimaschutzabkommen vor allem nachhaltiges,
Das sind einige der Vorhaben der Gas- und Ölkonzerne, um nachhaltiger zu werden. Sie wissen, dass die fossilen Rohstoffe keine Zukunft als Tank- und Heizfüllung haben. Trotzdem hören sie nicht auf, sie zu fördern: Die derzeit 20 größten Öl- und Gasunternehmen, darunter Shell, Exxon und Gazprom, wollen bis Ende 2030 voraussichtlich 932 Milliarden US-Dollar für die Erschließung neuer Öl- und Gasfelder und für neue Projekte ausgeben. Das hat
Wofür nun das Ganze, wenn die Öl- und Gasnachfrage doch in 10 Jahren ihren Höhepunkt erreichen soll? Für Kunststoffe.
Die Zukunft des Öls liegt in der Chemie
Unsere Handys, Computer, Kleidung, Lebensmittelverpackungen, Stromkabel, Fußböden, Dämmung, elektronische Infrastruktur, Autos, Reifen, ja sogar die Technologien für erneuerbare Energien wie Windräder sind aus Plastik, das aus fossilen Rohstoffen hergestellt wird. Die Kunststoffnachfrage steigt immer weiter. Sie soll nach Angaben der Internationalen Energieagentur
Doch fossile Rohstoffe stecken nicht nur in Plastik. Sie sind auch ein Grundstoff für Seife, Reinigungs- und Lösungsmittel, Medikamente, Düngemittel, Pestizide, Sprengstoffe, Kautschuk und allerhand Farben. All diese Produkte enthalten chemische Bestandteile, die aus Erdöl oder Erdgas gewonnen werden. Sie werden
Derzeit entfallen
Unsere Volkswirtschaften sind in hohem Maße von der Petrochemie abhängig, aber der Sektor erhält weit weniger Aufmerksamkeit, als er verdient. Die Petrochemie ist einer der wichtigsten blinden Flecken in der globalen Energiedebatte, insbesondere angesichts des Einflusses, den sie auf künftige Energietrends ausüben wird.
Die führenden Petrochemieunternehmen sind dabei,
Warum sich die Fossilindustrie so sicher ist, dass sich ihre Investitionen auszahlen werden
Wenn die Plastikproduktion und die dazugehörige Entsorgung wie geplant zunehmen, würden sie bis 2050 rund 14% der zulässigen Kohlenstoffemissionen verursachen, wenn die Erderwärmung unter 1,5 Grad Celsius bleiben soll. Das hat die Nichtregierungsorganisation
Ein Grund dafür, dass dieser Kohlenstoff-Fußabdruck so groß ist, ist, dass viele Kunststoffabfälle zur Energiegewinnung in Kraftwerken oder in offenen Feuern verbrannt werden. Plastikmüllverbrennungsanlagen sind fast so emissionsintensiv wie Kohlekraftwerke,
Immer mehr Menschen sind sich der Überproduktion von Plastik und dessen Folgen bewusst. Sie gehen gegen die Fossil- und die Plastikindustrie vor und ziehen sie zur Rechenschaft. So haben niederländische Klimaschützer:innen 2021 ein historisches Gerichtsurteil erreicht: Shell, der größte Ölkonzern Europas,
»Die Verwendung und der Verbrauch von Kunststoffen sind weltweit sehr ungleich verteilt, wie die meisten Ressourcen in der Welt«, sagt Fredric Bauer, leitender Lehrbeauftragter für Technologie und Gesellschaft an der Lund-Universität in Schweden. Seit nunmehr 5 Jahren untersucht er die Finanzflüsse, Beziehungen und Interessen in der Fossil- sowie Plastikindustrie und die Faktoren, die beim Übergang in eine biobasierte Kreislaufwirtschaft helfen können. Er sagt:
Daten zeigen, dass der Kunststoffverbrauch in Europa und Nordamerika
Die Fossilunternehmen ergreifen also ihre Chance, um unbeachtet von der öffentlichen Diskussion Investitionen in Milliardenhöhe zu tätigen, die das fossile Laufrad für weitere Jahrzehnte am Laufen halten. Sie wollen die wachsenden Mittelschichten in Südostasien, Afrika und Südamerika in die gleiche Fossilabhängigkeit treiben, worin sich die Industrienationen bereits befinden.
Dabei macht sich die Fossilindustrie Lock-in-Effekte zunutze, welche ihren Status quo so lange wie möglich erhalten und erneuerbare Alternativen ausbremsen. Frederic Bauer und ein Team aus Forschenden
- Produktion: Der erste Punkt ist der offensichtlichste. Neue Produktionsanlagen zu bauen oder Bestehende zu erweitern, kostet viel Geld. Ein Großteil der Infrastruktur für die Herstellung von Kunststoffen und anderen petrochemischen Produkten ist
- Endverbrauch und Marktnachfrage: Kunststoffe haben sich von Materialien, die Elfenbein oder Marmor nachgeahmt und günstig ersetzt haben, zu eigenständigen Rohstoffen entwickelt, die neue Produkte und eine neue Konsumkultur ins Leben gerufen haben. Ihre Vielseitigkeit und günstige Produktionsweise haben sie zu allgegenwärtigen To-go-Materialien gemacht und weltweite Wegwerfgesellschaften geschaffen. Es ist schwer, aus diesem Hamsterrad wieder rauszukommen.
- Abfallwirtschaft: Verbrennungsanlagen haben eine Lebensdauer von etwa 25 Jahren und benötigen eine kontinuierliche Zufuhr von Brennstoff. Und tatsächlich sind Kunststoffabfälle aufgrund ihres hohen Heizwerts, der für eine effiziente Verbrennung erforderlich ist, sehr begehrt. Ähnlich wie im ersten Punkt erschwert diese bereits bestehende Infrastruktur den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft.
- Industriestrukturen: Dieser Lock-in-Effekt reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Dort wurden die ersten synthetischen Farbstoffe aus Kohlenteer hergestellt, der in den Gaswerken reichlich vorhanden war. So kam es zu einer symbiotischen Entwicklung der Chemie- und Fossilindustrien, die bis heute eng aufeinander abgestimmt sind – sowohl was die Interessen der Unternehmen betrifft als auch ihre Anlagentechnik, Produktionsprozesse und Logistik. Diese Verzahnung ermöglicht unter anderem die günstige Produktion von Kunststoffen.
- Politik und Regierungshandeln: Da Kunststoffe sehr unterschiedlich sind und in vielen verschiedenen Bereichen eingesetzt werden, berührt das Thema auch verschiedene Politikbereiche – wie Klima, Umwelt, Automobil, Bauwesen, Chemikalien, Handel und Abfall. Dies führt dazu, dass das Thema politisch fragmentiert und unkoordiniert angegangen wird. Es haben sich laut den Forschenden jedoch 2 Trends in der Politik herauskristallisiert: Marktbeschränkungen für Einwegkunststoffe und der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe. Es war jedoch noch keine Politik dazu in der Lage, die
Das Ablenkungsmanöver: 3 Narrative, die du kennen solltest
Um ihren Status quo zu erhalten, greifen die Öl- und Gaskonzerne tief in die Tasche: Die 5 größten börsennotierten Öl- und Gasunternehmen geben jedes Jahr fast 200 Millionen US-Dollar für Lobbyarbeit aus, um Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu verzögern, zu kontrollieren oder zu blockieren.
Die Narrative, womit die Fossilriesen die Politiker:innen zu überzeugen versuchen und sie von ihrem zerstörerischen Wirtschaftsmodell ablenken,
- Wir ermöglichen den nachhaltigen Wandel: Die Konzerne heben die positiven Aspekte von Kunststoffen und anderen Produkte hervor, die aus fossilen Rohstoffen entstehen. So betonen sie etwa, dass Kunststoffverpackungen
- Wir sind technologische Vorreiter: Die Fossilindustrie nutzt ausgeklügelte Verfahren und Technologien. Mit ihrem Fachwissen will sie kohlenstoffarme Technologien für das Recycling und die Kohlenstoffspeicherung entwickeln und den Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft ebnen. Damit wollen die Unternehmen den Fokus von der CO2-intensiven Produktion auf den Endverbrauch und bessere technologische Lösungen lenken. Diese würden jedoch nicht das System an sich ändern, sondern lediglich Kunststoffe mit »grünen« Technologien herstellen.
- Wir sind bereits auf dem besten Weg: Dieses Narrativ stellt die Klimamaßnahmen der großen Petrochemieunternehmen als ehrgeizig, mutig und inspirierend dar und soll eine Antwort auf die Kritiker:innen sein. Die Nachhaltigkeitsbemühungen der einzelnen Unternehmen würden zu Unrecht falsch dargestellt oder eingeschätzt. Die Unternehmen verweisen darauf, dass sie Klimaziele haben, in erneuerbare Energien investieren, wie viel CO2 sie in der Ölförderung bereits eingespart haben oder dass ihre Mitarbeitenden mit dem ÖPNV zur Arbeit kommen. Und ja, Bäume pflanzen sie natürlich auch fleißig. Dass die Klimaziele nur
Ein Ausblick
Die Öl- und Gaskonzerne wissen, dass sie mit ihrem derzeitigen Geschäftsmodell nicht überleben werden. Sie versuchen, ihr Aussterben zu vermeiden und ihre Vermögenswerte zu melken, indem sie auf Kunststoffe setzen.
Doch wie kommen wir raus aus der fossilen Abhängigkeit?
»Es gibt keinen Eins-zu-eins-Umstieg. Es wird bei Kunststoffen beispielsweise kein Material geben, das alle Kunststoffe überflüssig macht oder ersetzen kann. Aber es gibt viele Lösungen«, sagt Fredric Bauer von der schwedischen Lund-Universität.
Auf der National Plastic Industry Conference 1963 verkündete Lloyd Stouffer, der damals Herausgeber des Magazins Modern Packaging war: ›Der glückliche Tag ist gekommen, an dem niemand mehr die Kunststoffverpackung als zu schade zum Wegwerfen betrachtet.‹ Dieser Satz zeigt, dass es für die Ölindustrie ein echter Kampf war, uns als Verbraucher:innen beizubringen, dass Kunststoff weggeworfen werden sollte. Davor haben die Leute alle Plastikverpackungen im Haushalt aufbewahrt, weil sie so gut waren, um zum Beispiel ihre Lebensmittel zu schützen. In den 1960er-Jahren erreichten wir dann einen Punkt, an dem wir den Wert von Kunststoffen nicht mehr anerkannten. Ich denke, wir müssen diese Lektion lernen und wieder erkennen, dass Kunststoffe wertvoll sind.
Diesen Wert zu erkennen liegt nicht nur an den Bürger:innen, sondern vor allem an den Regierungen. Die Fossilunternehmen versuchen sich erneut aus der Verantwortung zu ziehen, so wie sie es schon einmal mit dem CO2-Fußabdruck gemacht haben. Wie die Lock-in-Effekte zeigen, ist das Problem komplex und in eingefahrenen Wirtschaftsstrukturen verankert. Es lässt sich nicht auf individueller Ebene lösen, indem wir weniger in Plastik verpackte Produkte im Supermarkt kaufen. Das Problem ist so groß, dass es politische, systemische Lösungen braucht.
Und die sind bereits auf dem Weg: 175 Staaten arbeiten momentan an einem Rahmenvertrag für ein globales Plastikabkommen,
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