So lebst du weniger egoistisch
Immer mehr Menschen fühlen sich einsam in einer Welt, die von Individualismus geprägt ist. Doch es gibt Regionen in der Welt, wo nachbarschaftliche Solidarität und soziale Verantwortung noch gelebt werden.
Während ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich mit, dass es bei meiner Nachbarin ins Zimmer tropft. Die Quelle vermuten wir in der Wohnung über ihr. Die Person, die dort wohnt, kennt die Nachbarin nicht, obwohl sie schon seit anderthalb Jahren in dem – für Berliner Verhältnisse – kleinen Mietshaus wohnt. Die Hausverwaltung findet heraus, dass die betreffende Dame verreist ist. Glücklicherweise kann ein Kontakt hergestellt werden. Sie bittet ihren Sohn, der in einem anderen Stadtteil wohnt, den Hauptwasserhahn abzustellen, was er auch tut. Leider tropft das Wasser gegen Abend weiter und es wird immer schlimmer. Wir vermuten, dass die Heizung leckt. Wir rufen den Sohn gegen 20 Uhr nochmals an und bitten ihn, noch einmal herzukommen. Er meint, dass ihm das nicht passe und, so wortwörtlich‚ wir uns nach seinen Zeiten richten sollten, er käme am nächsten Morgen. Dass ein erheblicher Sachschaden droht und die Nachbarin im Regen sitzt, scheint ihn wenig zu beeindrucken. Nur mit vereinten Kräften und Bitten und Betteln können wir ihn überzeugen, sich auf den Weg zu machen.
Ich muss sagen: So etwas empört mich richtig! Wieso lässt sich jemand in einem Notfall so bitten? Wo ist da das Gefühl für soziale Verantwortung, für nachbarschaftliche Hilfe? Sind die meisten von uns zu Egoman:innen geworden? Und warum kennen sich Menschen, die im selben Treppenaufgang wohnen, nicht? Warum werden keine Schlüssel hinterlegt für Notfälle? Ja, wir haben ein Problem mit Rücksichtslosigkeit und auch mit Anonymität und Einsamkeit.
Der Bundestag hat 2021 in einem
Der renommierte Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer
Das sind besorgniserregende Entwicklungen, finde ich. Und deshalb wäre es doch eine gute Idee, einmal dort hinzuschauen, wo es gut läuft mit dem sozialen Zusammenhalt. Dieser nimmt vermutlich weltweit ab, doch gibt es Regionen, wo Werte wie Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit auch heute noch eine große Rolle im Alltag spielen.
Skandinavische Glücksvorbilder
Meik Wiking, der Direktor des
Insbesondere Schweden könnte unser Vorbild sein, was sozialen Zusammenhalt angeht. Gemeinschaftssinn ist dort ein Grundsatz und spiegelt sich sowohl in der Organisation des Staats als auch in der Gesellschaft wider. Die in Schweden weit verbreitete lagom-Haltung (auf Deutsch: das richtige Maß) fördert gute Beziehungen zu den Menschen im eigenen Umfeld bis hin zum Vertrauen in die gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft.
Schwed:innen lieben auch jede Form von organisierter Gemeinschaft, wie Vereine, Chöre, Lesezirkel etc. Ab 3 Personen kann schon eine staatliche Förderung beantragt werden.
Und natürlich trägt das schwedische fika zur Festigung der sozialen Beziehungen bei. Fika ist die coolere, ausgedehntere Variante von »Kaffee und Kuchen«: eine Pause vom Alltag, die Menschen treffen sich, trinken Kaffee, essen etwas Süßes dazu und unterhalten sich oft stundenlang. Fika ist eine soziale Institution, die sich auch im Kaffeeverbrauch Schwedens niederschlägt: Dort wird doppelt so viel Kaffee getrunken wie in so manchen anderen Ländern.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily