ADHS meint mehr als »zappelige Kinder«. Diese Frau bekam ihre Diagnose als Erwachsene
5 von 100 Kindern haben es; Erwachsene aber auch. Warum die Störung vor allem bei Frauen unterdiagnostiziert ist – und wie wir einen neuen Umgang mit Gehirnen finden können, die etwas anders funktionieren.
22. Februar 2023
– 16 Minuten
Annika Fußwinkel
Kann ich einfach nicht mit Stress umgehen? Reagiere ich über? Wieso schiebe ich ständig alles auf? Als Angelina Boerger 28 Jahre alt ist, findet sie durch Zufall eine Erklärung dafür, wieso sie sich schon immer so anders fühlt. Woher diese innere Unruhe kommt, wieso sie seit der Schulzeit immer wieder aneckt – und wieso es ihr so schwerfällt, Dinge nach Plan zu erledigen. Angelina hat ADHS – eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.
Die Diagnose ist nicht selten, nur wird sie in der Regel schon viel früher gestellt. ADHS gehört zu den häufigsten psychischen Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. Sie wird bei etwa 4,4% der 3–17-Jährigen in Deutschland festgestellt, bei Jungen mehr als doppelt so häufig wie bei Mädchen. Bei manchen von ihnen werden die Symptome im Laufe des Erwachsenwerdens schwächer oder verschwinden , . Schätzungsweise haben rund 2,5 Millionen Erwachsene in Deutschland ADHS.
Obwohl sich ADHS nicht erst im Laufe des Lebens entwickelt, sondern von Beginn an da ist, erhalten manche Menschen ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter, so wie Angelina Boerger.
Zukunftsorientiert, verständlich, werbefrei. Dafür stehen wir. Mit Wohlfühl-Nachrichten hat das nichts zu tun. Wir sind davon überzeugt, dass Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt. Wir lösen Probleme besser, wenn wir umfassend informiert und positiv gestimmt sind – und das funktioniert auch in den Medien. Studien haben gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, zu mehr Interesse führen, positive Emotionen erzeugen und eine erhöhte Handlungsbereitschaft generieren können. Das ist die Idee unseres Konstruktiven Journalismus.
Jetzt hat die Journalistin ein Buch zu dem Thema geschrieben. Ich habe mit ihr über ihre späte Diagnose gesprochen, warum ADHS bei Frauen noch immer viel zu selten und oft zu spät diagnostiziert wird – und wie wir einen neuen Umgang mit Gehirnen finden können, die etwas anders funktionieren.
Lara Malberger:
ADHS bringen viele Menschen mit zappeligen Kindern in Verbindung. Du selbst hast deine Diagnose erst im Erwachsenenalter erhalten, weil du lange gar nicht daran gedacht hast, dass du ADHS haben könntest. Wie bist du dann doch darauf gekommen?
Angelina Boerger:
Ganz zufällig bei der Arbeit. Für einen journalistischen Beitrag habe ich zum Thema Stress und Leistungsdruck recherchiert. Dafür habe ich einen zum gemacht. Der ist sehr, sehr eindeutig ausgefallen. Unter anderem wurde da aufgeführt, dass ADHS eine Ursache für mein krankhaftes Aufschieben sein kann.
Ich habe das aber schnell abgehakt, weil ich dachte: Das ist es nicht, das haben nur Kinder und Jugendliche. Einen Monat später wurde ich dann noch mal auf das Thema gestoßen.
Wie das?
Angelina Boerger:
Ich saß im Publikum der Talk-Sendung »Domian Als die Folge aufgezeichnet wurde, war ich total müde – bis die dritte Person auf die Bühne kam. Karina, 23, Psychologiestudentin, die mit 20 eine ADHS-Diagnose bekommen hatte. Einer ihrer ersten Sätze war: »Es fühlt sich so an, als würde man durch 500 Programme im Kopf zappen, aber man selbst hat nicht die Fernbedienung in der Hand.«
Dann fing sie an zu erzählen, über ihre Kindheit, die Schulzeit, ihre Partnerschaft, den Haushalt, ihren Alltag, ihren Job und das Studium. Und ich dachte immer wieder: »Hey, wie krass ist das? Original wie bei mir.«
Nach der Sendung war ich sicher: Das war gerade ein richtig, richtig wichtiger Moment in meinem Leben. Ich scheine da ein Puzzleteil gefunden zu haben, das ich immer irgendwo anders gesucht habe. Das hat mich nicht mehr losgelassen und ich habe mich auf den Diagnoseweg begeben. Das war Ende 2019.
Dein Weg zur ADHS-Diagnose war nicht ganz einfach. Was waren die Hürden?
Angelina Boerger:
Die erste Hürde war, überhaupt einen Termin zur Diagnostik zu bekommen. Überhaupt zu wissen, an wen ich mich wenden kann: Gehe ich jetzt zum Hausarzt oder zur Hausärztin? Brauche ich eine Psychologin? Ich war bereits in Therapie zu dem Zeitpunkt und habe mich dann zuerst an meine Therapeutin gewendet.
Hier findest du erste Hilfe
Hier findest du erste Hilfe
Bei deinem Hausarzt oder deiner Hausärztin
Bei einem Psychotherapeuten oder einer -therapeutin, am besten mit ADHS-Erfahrung. Eine erste Sitzung steht Patient:innen innerhalb der ersten 3–5 Wochen nach einer Anfrage beim Patientenservice »116117« zu – allerdings können Therapeut:innen dann nicht selbst gewählt werden. Ob es passt, ist also ein bisschen Glückssache. Mehr zur Terminvereinbarung findest du hier.
Bei regionalen ADHS-Netzwerken, hier gibt es einen Überblick als Karte. Hier finden sich die Kontakte von Fachleuten und Patient:innengruppen zu dem Thema.
Die Therapie hattest du also schon vor dem ADHS-Verdacht angefangen?
Angelina Boerger:
Genau. Weil ich gemerkt habe, dass ich in meinem Job immer wieder an meine Grenzen komme. Ich hatte immer das Gefühl, ich kann nicht so richtig mithalten. Ich verausgabe mich. Mal habe ich total viel Energie, dann kriege ich wieder alles nicht gelevelt und muss Nächte durcharbeiten, um meine Deadlines einhalten zu können. »Ich wollte mich optimieren«
Mein Plan war es, eine Therapie zu machen und da zu lernen, wie ich mich optimieren kann. Statt darüber nachzudenken, wie ich mir vielleicht etwas weniger Druck machen könnte.
Du hast dann deiner damaligen Therapeutin von deinem Verdacht erzählt.
Angelina Boerger:
Ich habe ihr davon erzählt und gedacht, dass wir der Sache nachgehen. Ihre Reaktion war aber sehr zurückhaltend. Sie sagte, sie hätte schon mal davon gehört, dass es ADHS auch bei Erwachsenen geben soll. Aber das habe sie in 22 Berufsjahren noch nie diagnostiziert. Sie schlug dann vor, es mal mit in ihre Supervisionsgruppe zu nehmen, in der sie sich mit anderen Therapeuten und Therapeutinnen austauscht. Sie hat das Thema dann aber sehr schnell abgehakt.
Wie hast du darauf reagiert?
Angelina Boerger:
Ich habe beschlossen, diese Sitzung noch zu Ende zu machen und dann nie wieder hinzugehen. Ich bin dann zurück zu meiner Hausärztin gegangen und habe das gleiche Gespräch noch mal geführt. Sie hat glücklicherweise supertoll reagiert. Sie hatte zwar auch wenig Ahnung vom Thema, hat mir aber empfohlen, der Sache weiter nachzugehen und jemanden zu suchen, der auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert ist.
Sie hat mir auch eine Liste mit Adressen gegeben und mir viel Glück gewünscht, weil es dauern könne, jemanden zu finden. Ich habe dann ganz naiv diese Liste abtelefoniert. Und bekam Reaktionen wie: »Frau Boerger, wir haben was in 18 Monaten frei.« Wenn überhaupt jemand geantwortet hat.
Insgesamt hat es 9 Monate gedauert, bis ich einen Platz für die Diagnostik bekommen habe. Und das auch nur, weil ich wirklich penetrant war und immer wieder angerufen und nachgehakt habe.
Du hast schließlich eine Therapeutin gefunden, die auf ADHS spezialisiert ist. Aber damit ist man noch nicht am Ziel, oder?
Angelina Boerger:
Wenn du dann in der Diagnostik sitzt, ist ein weiteres großes Problem, dass Menschen mit ADHS und vor allem weiblich sozialisierte Personen dazu neigen, ihre Symptome herunterzuspielen. Weil sie das eh schon ihr ganzes Leben lang machen. Sie können Symptome sehr krass maskieren.
Sie denken dann, es sei nicht so schlimm oder dass sie vielleicht doch selbst schuld an ihren Problemen sind. In so einem Moment die Hüllen fallen zu lassen und sich seine Probleme einzugestehen, das ist noch mal ein zweiter großer Schritt.
»Menschen stempeln Mädchen als verpeilt und verträumt ab«
Gerade bei Frauen gilt ADHS als unterdiagnostiziert. Liegt das nur an der Sozialisation oder prägt sich ADHS bei Frauen auch anders aus?
Angelina Boerger:
Es prägt sich auch anders aus. Hormone und Botenstoffe, die unser Hirn versorgen (oder es eben nicht tun), sind auch an den Zyklus geknüpft. Die Menopause ist zum Beispiel auch ein ganz großes Thema bei ADHS. Es kann sein, dass es mit 50+ noch mal einen richtigen Schub geben kann und einige Leute . Das sieht man auch an den Diagnosezahlen. »Mädchen neigen zu diesem unaufmerksamen Typus«
Der prägt sich dadurch aus, dass ein Kind eher ruhig und verträumt ist, irgendwie abgelenkt. Viele Menschen stempeln das als verpeilt und verträumt ab. Das verbuchen wir dann wieder als »typisch Mädchen«. Diese Sichtweise kann sich auch auf das Selbstbewusstsein sehr, sehr krass auswirken.
Was waren denn bei dir klare Anzeichen, an denen du gemerkt hast, dass du ADHS haben könntest?
Angelina Boerger:
Rückblickend hat vieles an meinem Verhalten gut dazu gepasst. Erhärtet hat meinen Verdacht aber eine Liste, noch bevor ich die Diagnose oder den Termin dafür hatte. Und zwar hatte ein ADHS-Portal 25 Punkte aufgelistet, die zwar nicht die klassischen klinischen Symptome sind, die aber Anhaltspunkte für ADHS sein können. Das waren alles Dinge, die zu mir gepasst haben, 25 von 25.
Ich weiß noch, dass ich damals einer Freundin und meinem Freund diese Liste vorgelegt habe und so gedroppt habe: Ich glaube, ich habe ADHS. Sie waren erst skeptisch, aber dann haben sie die Liste gesehen und gesagt: Du solltest der Sache auf den Grund gehen.
Hier findest du die 25 ADHS-Hinweise
Hier findest du die 25 ADHS-Hinweise
Die Liste mit Anhaltspunkten, die auf ADHS hindeuten können, stammt von der Website adhs-ratgeber.com. Wichtig: Es handelt sich hierbei nicht um offizielle Diagnosekriterien, eine Diagnose können nur Psychotherapeut:innen oder Mediziner:innen stellen.
Konzentrationsprobleme, Ablenkbarkeit
»Aufschieberitis«
Fehlende Tagesplanung (Arbeit ohne To-do-Liste)
»Verzetteln«, Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen
Chaos im Kopf
Innere Unruhe und Getriebensein
Ständig in Bewegung (z. B. mit Fingern auf Tisch trommeln oder mit Füßen wippen), häufige Änderung der Körperhaltung
Sich schnell angegriffen fühlen
Sehr schnell und sehr heftig emotional aufgewühlt sein (emotional »überreagieren«)
Handeln, ohne über die Folgen nachzudenken (z. B. riskante Fahrweise im Straßenverkehr)
Schnelle und starke Gefühls- und Stimmungsschwankungen
Depressive Stimmungseinbrüche mit Gefühlen von Minderwertigkeit, Aussichtslosigkeit und Resignation
Sich schnell gelangweilt und antriebslos fühlen
Mangelnde emotionale Abgrenzung von anderen Menschen
Schlechte Wahrnehmung für eigene Stimmungen, Gefühle und Bedürfnisse
Gefühle als »Knäuel« wahrnehmen und nicht differenzieren und beschreiben können
Unregelmäßige Essenszeiten, Essen »vergessen«
Haltestelle verpassen, Zug, Bus verpassen
Dinge verlegen, vergessen
Häufiges Zuspätkommen
Vergessen von Terminen/Verabredungen
Spontane, unüberlegte Einkäufe (ohne Überblick über das Konto)
Unordnung im Haushalt
Sammelwut
Wenige Freunde (»Keine Zeit für Freunde«)
»Endlich hatte ich eine Erklärung«
Wie war es für dich, als du die offizielle Diagnose in den Händen gehalten hast?
Angelina Boerger:
Ich war ehrlich gesagt total glücklich. In dem Moment hat sich alles bestätigt, was ich mir in den Monaten davor zusammengereimt habe. Es war ein erlösendes Gefühl zu wissen, dass Menschen vom Fach das genauso sehen. Es war aber auch ein ziemlich heilsamer Moment, weil ich endlich die Antwort auf all diese Situationen in meinem Leben hatte, die ich nicht zuordnen konnte. In denen ich mich selbst abgewertet habe. Ich konnte in dem Moment ein bisschen Frieden mit mir schließen.
Dazu muss ich sagen, dass sich das natürlich nicht für jeden Menschen so anfühlt. Viele fallen auch in ein Loch und fragen sich: Was bedeutet das jetzt für mein Leben? Wie wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich das früher gewusst hätte? Einige empfinden auch eine gewisse Wut, weil sie denken: Wieso ist das niemandem aufgefallen? Warum wurde ich ausgegrenzt, gemobbt, nicht so geliebt, wie ich bin? Das habe ich zum Glück nicht erfahren.
Es stellen sich auch viele Fragen: Wie geht es jetzt weiter? Werfe ich alles über den Haufen? Wem erzähle ich davon? Suche ich mir Hilfe? Nehme ich Medikamente? Mache ich eine Therapie?
Was hast du gemacht?
Angelina Boerger:
Ich habe direkt eine Psychotherapie gestartet. Dort, wo ich mich diagnostizieren lassen habe. Ich bin auch mit einer Psychiaterin in Kontakt getreten, um mich bezüglich einer medikamentösen Therapie beraten zu lassen, und habe dann auch angefangen, Medikamente zu nehmen.
Erlebst du Vorurteile, weil du Medikamente gegen die ADHS-Symptome nimmst?
Angelina Boerger:
Ich habe vorgestern noch die Kommentare unter einem Interview von mir angeschaut. Da stand dann so was wie: »Die ist bestimmt von der Pharmalobby bezahlt.« Oder: »Früher haben wir die Kinder rausgeschickt auf den Baum klettern, heute werden sie vollgepumpt.« Die Vorurteile fangen bei den Kindern an und ziehen sich bis ins Erwachsenenalter. Das kann auslösen, dass Menschen sich nicht trauen, sich über Medikamente zu informieren oder mal was auszuprobieren. »Es kann nicht sein, das jemand anderes dieses Gefühl auslöst«
Natürlich ist es eine absolut individuelle Entscheidung, ob jemand Medikamente nehmen möchte oder nicht. Aber es kann nicht sein, dass jemand anderes dieses Gefühl auslöst, ohne Argumente dafür zu haben, die wissenschaftlich belegbar sind. So verhindert diese Person womöglich, dass sich die Lebensqualität eines Menschen maßgeblich erhöht.
Wieso wir nicht alle »ein bisschen ADHS« haben
Sind dir seit deiner Diagnose noch andere Vorurteile begegnet?
Angelina Boerger:
Eines der häufigsten Vorurteile ist: »Das haben doch nur Kinder oder kleine Jungs.« Oder: »Wir haben doch alle ein bisschen ADHS.«
Besonders das Zweite merke ich oft, wenn ich mit Leuten über ADHS ins Gespräch komme. Da ist eine häufige Reaktion: »Echt? Was macht das aus bei Erwachsenen?« Dann fange ich an zu erklären und werde nach 3 Sätzen unterbrochen mit: »Ja, das kenne ich auch von mir, dann habe ich wohl auch ADHS.«
Und wie gehst du damit um?
Angelina Boerger:
Ich glaube gern, dass jeder sich in einigen ADHS-typischen Eigenschaften wiedererkennt. Aber der Unterschied ist eben, dass man bei ADHS wirklich von einem gehirnbasierten Unterschied sprechen kann. Der sorgt dafür, dass sich diese Eigenschaften nicht vereinzelt zeigen, sondern 24/7. Die Symptome können alle Lebensbereiche beeinflussen und sich eben auch schon in frühester Kindheit abzeichnen. Dieser Unterschied ist vielen nicht bewusst.
Du hast das online mal mit dem Schwangersein verglichen: Entweder man ist es, oder man ist es nicht. Ein bisschen schwanger, ein bisschen ADHS – das geht nicht. Aber wie merkt man, dass das eigene Verhalten nicht mehr im »normalen Rahmen« ist?
Angelina Boerger:
Vor allem merkt man es, wenn das eigene Verhalten mit einem gewissen Leidensdruck verbunden ist. Dass du das Gefühl hast, das beeinflusst dich in so einer Form, dass du dein Leben nicht so leben kannst, wie du es gerne möchtest oder wie andere es von dir erwarten. Es hilft auch nicht, sich zusammenzureißen oder hart an sich zu arbeiten. ADHS ist eben nichts, was man an- und ausschalten kann. Ich habe sogar das Gefühl, dass es das noch befeuert, wenn man versucht, sich zu verstellen, zu verbiegen, irgendwas zu sein, was man nicht ist. »ADHS kann ernsthafte Konsequenzen haben«
ADHS kann sich auf so viele Lebensbereiche auswirken und ernsthafte Konsequenzen haben. So weit, dass sich daraus Folgeerkrankungen und -störungen entwickeln können, wie .
Es gibt Studien, die deutlich zeigen, dass die .
Trotzdem prägt sich ADHS nicht bei allen Menschen gleich stark aus, oder?
Angelina Boerger:
Das stimmt. Auf der einen Seite des ADHS-Spektrums gibt es Menschen, die sich nicht vorstellen können, jemals für den ersten Arbeitsmarkt – so wie er im Moment ist – zur Verfügung zu stehen, weil sie in so einer Form eingeschränkt sind, dass sie Hilfe brauchen. Wie sich ADHS ausprägt, hängt dabei nicht nur von der Veranlagung ab, sondern auch vom sozialen Umfeld. Es spielt zum Beispiel eine Rolle, wie viel Unterstützung man erhält.
Auf der anderen Seite gibt es dann Menschen, die ADHS haben und trotzdem 3 Start-ups gleichzeitig aufziehen. Sie haben die gleiche Diagnose, die sich unterschiedlich stark ausprägt.
Im Moment gibt es immer mehr Leute, die mit ihrer ADHS-Diagnose an die Öffentlichkeit gehen, besonders in den sozialen Medien. Gleichzeitig gibt es dort auch etliche stark verkürzte Videos, die wohl bei vielen Menschen den Eindruck erwecken könnten, er oder sie könnte ADHS haben. Siehst du die sozialen Medien eher als Gefahr oder als Möglichkeit, gut über das Thema zu informieren?
Angelina Boerger:
Dafür muss man sich klar machen, wie so ein Interesse am Thema entsteht. Wenn alle gut über ADHS Bescheid wüssten, es genug Möglichkeiten gäbe, sich Hilfe zu suchen, und es einfach gesellschaftlich akzeptiert wäre, dann hätten sich Menschen mit ADHS gar nicht vor die Kamera setzen müssen, um über ihren Alltag oder ihre Diagnose zu sprechen.
Ich finde Social Media hat da in den letzten Jahren eine unglaubliche Arbeit geleistet und super viel dazu beigetragen, dass dieses Thema immer mehr in die Öffentlichkeit gekommen ist. Natürlich ist es schwierig, wenn es Videos gibt, die 10 Sekunden lang sind und so was aussagen wie: »Wenn du oft einen Ohrwurm hast, dann hast du ADHS.«
Trotzdem glaube ich nicht, dass ein einzelnes Video auslösen kann, dass ein Mensch sagt: »Ich besorge mir jetzt eine Diagnose.« Dafür muss jemand einen Leidensdruck verspüren und wissen wollen, was das ist. Und selbst wenn es dann am Ende nicht ADHS ist: Wenn sich jemand auf den Weg gemacht hat, um sich Hilfe zu suchen, und es der Person danach besser geht und sie besser im Leben klarkommt, dann ist das für mich ein Mehrwert.
»Ich habe beschlossen, dass es für mich total in Ordnung ist, wie ich bin«
Wie hat sich dein eigenes Leben verändert, seit du weißt, dass du ADHS hast?
Angelina Boerger:
Ich habe angefangen, alles ein bisschen anzupassen. Beruflich trete ich hier und da etwas kürzer und mache Dinge so, wie es in meinen Rhythmus passt. Vor allem habe ich auch akzeptiert, dass es Dinge an mir gibt, die andere vielleicht als »nicht normal« betiteln würden – und beschlossen, dass es für mich eigentlich total in Ordnung ist, wie ich bin, und dass ich das annehmen kann. »Es gab keinen Moment, in dem ich mich für mein ADHS geschämt habe«
Ich bin offen in die Kommunikation gegangen. Ich glaube, jeder Mensch, der mich kennt, weiß mittlerweile von der Diagnose und ich werde auch nicht müde, darüber zu sprechen. Ich hatte keinen Moment in meinem Leben seit der Diagnose, in dem ich mich für mein ADHS geschämt habe.
Ich glaube, darüber zu reden ist einfach ein ganz wichtiger Faktor, um Vorurteile und Stigmata abzubauen. Deshalb habe ich auch ins Leben gerufen, meinen Insta-Account, auf dem ich über ADHS informiere. Ich kann aber natürlich auch verstehen, wenn Menschen sagen, dass sie das erst mal niemandem erzählen wollen. Sowas kann heutzutage leider immer noch negative Konsequenzen haben. Das finde ich schrecklich.
In ausgeschriebener Form heißt ADHS »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung«. Manche Menschen sprechen auch von einer Krankheit. Du tust dich schwer damit, ADHS so zu sehen. Wieso?
Angelina Boerger:
Es gibt einfach diesen sehr, sehr negativen, defizitären Blick auf das Thema. Dieses Gefühl von: Du bist krank. Du bist nicht normal. Es wäre gut, wenn man das heilen könnte. Wenn es weg wäre. Und das ist oft etwas, was von außen kommt. Weil man nicht systemkonform ist, weil man immer wieder aneckt und das Gefühl hat, in dieser Welt nicht so zurechtzukommen, wie es erwartet wird. Die Frage ist, wieso kann es da nicht mehrere Möglichkeiten geben? Wieso müssen alle Menschen gleich funktionieren? Wieso müssen alle Menschen das Gleiche leisten, um den gleichen Wert zu haben? »Es ist schwierig für mich, ADHS einfach als Störung oder Erkrankung zu klassifizieren«
Das sind Dinge, die man sich fragen kann. Und man muss überlegen, ob man von diesem Bild des gestörten, kranken, nicht normalen Menschen abrückt. Ja, Menschen mit ADHS funktionieren in gewissen Dingen anders, sie brauchen vielleicht auch eine gewisse Unterstützung. Ich will den Leidensdruck nicht schmälern.
Aber vieles entsteht dadurch, dass dieses System nicht so gestaltet ist, dass ein Mensch mit ADHS darin zurechtkommt. Er wird behindert. Das macht es für mich so schwierig, ADHS einfach als eine Erkrankung oder Störung zu klassifizieren.
»Dass das Hirn anders funktioniert, kann auch eine Bereicherung sein«
In deinem Buch schreibst du, dass du deine ADHS nicht abgeben würdest, wenn jetzt tatsächlich jemand kommen würde und sagen würde: »Hey, komm, ich heile das.« Was sind für dich die guten Seiten daran?
Angelina Boerger:
Ich liebe einfach die Art, wie ich auf die Welt blicke. Wie ich denke, wie ich fühle, wie ich handle. Das sind alles Dinge, die ich nicht missen möchte, weil sie einfach mit einer großen Portion an guten Gefühlen verbunden sind. Ich nehme die Welt in ihren Einzelteilen wahr und erfreue mich daran. Ich bin sehr fantasievoll, sehr kreativ, sehr empathisch, sehr mutig, sehr offen. »Es braucht diese Menschen genauso«
Ich würde mir wünschen, dass diese Sachen auch wahrgenommen werden. Dass eben diese Art, wie das Hirn anders funktioniert, auch wirklich eine Bereicherung sein kann. Für uns alle im Miteinander. Es braucht diese Menschen genauso in Freundschaften, Partnerschaften, in der Schule, im Job.
Trotzdem gibt es jeden Tag Situationen, in denen ich am Limit bin, wo ich nicht mehr kann, wo ich auch traurig bin, wo es mich verzweifeln lässt, wo es mich halt wirklich behindert und ich mich aufrege. Aber es ist so ein »Ich leb halt damit und das hat gute und schlechte Seiten«.
Was müsste sich ändern, damit sich die Sichtweise auf ADHS auch in der Gesellschaft ändert?
Angelina Boerger: Auch Gehirne können vielfältig sein. Menschen mit ADHS – – müssten die Möglichkeit haben, teilzuhaben und mitzuentscheiden.
Würden wir mit am Tisch sitzen und Entscheidungen treffen, könnten wir gemeinsam eine Welt gestalten, in der alle Platz haben und in der nicht über andere entschieden wird. Das kann sich auf alles beziehen: Auf Lehrpläne, das ganze Schulsystem, auf die Art, wie wir Arbeit sehen. Es gibt so viele Möglichkeiten, so viele Schrauben, an denen man drehen kann.
Gibt es etwas, was man selbst tun kann, um Menschen mit ADHS im Umfeld zu unterstützen?
Angelina Boerger:
Als Allererstes kann man sich über das Thema informieren. Mehr, als nur einen Artikel zu lesen oder einen Podcast zu hören. Deswegen bin ich so dankbar, dass ich dieses Buch schreiben durfte. Es ist zum einen den Menschen gewidmet, die ADHS haben oder den Verdacht haben. Aber es richtet sich irgendwie fast noch mehr an alle, die nicht ADHS haben. Ich habe dieses Bedürfnis klarzumachen, wie wir ticken, wie unsere Welt aussieht und was das mit uns macht, wenn wir nicht so angenommen werden, wie wir sind.
Ich glaube, das Allerwichtigste ist dieses Wissen. Dann kann man gemeinsam schauen: Welche Bedürfnisse gibt es? Was sind Strategien, die helfen können im Miteinander? Was brauche ich von dir? Was brauchst du aber auch von mir als Mensch mit ADHS? Dazu braucht es eine große Portion Geduld und Verständnis auf beiden Seiten.
Das Netz ist voller Tipps und Ratschläge – und Menschen, die damit ihre Probleme lösen wollen. Doch meistens gibt es nicht »die« eine richtige Lösung. Aber was ist sinnvoll? Und was kann weg? Um so nah wie möglich an eine Antwort heranzukommen, hat Lara Wissenschaftsjournalismus mit Schwerpunkt Biowissenschaften und Medizin in Dortmund und Digital Journalism in Hamburg studiert.