Bin ich »normal«?
Hat mein Körper eine normale Form? Habe ich zu wenig Sex – oder zu viel? Menschen sind von Fragen wie diesen besessen. Dabei hat die Sehnsucht nach Vergleichen und Normen auch eine dunkle Seite.
Die Geschichte des Normalen, wie wir es kennen, begann am Neujahrstag 1801, als der italienische Priester und Astronom Giuseppe Piazzi bei der Suche nach einem Planeten zwischen Mars und Jupiter am Himmel einen neuen Stern entdeckte. Bis zum 11. Februar verfolgte Piazzi die Bewegungen des Sterns – den er nach der römischen Göttin des Ackerbaus Ceres nannte –, dann verlor er ihn durch die zunehmende Nähe zur Sonne aus den Augen. Im Oktober (vor der Erfindung des Internets verbreiteten sich Neuigkeiten sehr viel langsamer als heute) erreichten die von Piazzi veröffentlichten Daten den 24-jährigen deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß.
Nachdem es Piazzi nicht gelungen war, genügend Messungen vorzunehmen, um Ceres’ Umlaufbahn zu bestimmen, errechnete Gauß mithilfe einer mathematischen Formel einen Durchschnitt, den er in einem Graphen darstellte. Die so entstandene glockenähnliche Kurve hatte eine abgerundete Kuppe in der Mitte und lief zu beiden Seiten flach aus. Gauß behauptete, dass Ceres an dem Punkt wieder auftauchen würde, der exakt in der Mitte dieser Kurve liege. In der nächsten klaren Nacht zeigte sich, dass der junge Mathematiker recht hatte. Schon bald verband man den Namen des deutschen Sternsuchers mit der Glockenkurve, und noch heute wird sie manchmal als Gauß-Verteilung bezeichnet. Zu Beginn jedoch nannte man sie die »Fehlerkurve«.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily