Warum wir wieder Häuser wie im Mittelalter bauen sollten
Im bayerischen Bärnau entsteht eine einzigartige Siedlung: Wandergesell:innen bauen dort traditionelle Fachwerkhäuser nach modernen ökologischen Standards. Sie wollen zeigen, was mit vergessenen Handwerkstechniken alles möglich ist. Ich habe mit angepackt.
Im Mittelalter hören sie Scooter. Zumindest dürften die stampfenden Bässe der deutschen Technolegende auch bis zu den nur wenige Hundert Meter entfernten Lehmhäusern im Mittelalterdorf hinüberschallen. Es gibt da eine ungeschriebene Regel, lasse ich mir sagen: Wer den lautesten Lautsprecher hat, darf über die Musik entscheiden. Doch hier bei den Zimmerern gibt es heute sowieso keine Konkurrenz. Scooter also, um kurz nach 7 Uhr morgens aus der Boombox der Praktikantin.
Die Bässe vermischen sich mit dem Dröhnen der Kreissäge, mit der das Fichtenholz bearbeitet wird. Ein massiver Balken des blassen Holzes reiht sich in der Werkhalle an den anderen. Dicht an dicht liegen sie auf den Arbeitsböcken. Aus ihnen soll einmal ein Fachwerkhaus werden. In erster Linie, damit Besucher:innen des Geschichtsparks Bärnau-Tachov direkt vor Ort übernachten können. So ist das Projekt vor ein paar Jahren geplant gewesen.
Doch inzwischen ist daraus etwas viel Größeres gewachsen. Es ist eine Art Reallabor, worin eine Alternative zur heute gängigen Bauweise erprobt wird. Mit regionalen und ökologischen Baustoffen, mit fast ausgestorbenen Techniken bearbeitet, entstehen hier Häuser, die aktuellen Dämmstandards entsprechen und bei der CO2-Bilanz der Materialien um Längen besser abschneiden sollen als konventionelle Betonbauten. Läuft alles nach Plan, wird das erste Fachwerkhaus noch in diesem Jahr fertiggestellt.
Deshalb bin ich heute hier: Um zu verstehen, wieso in dem kleinen Ort Bärnau an der tschechisch-bayerischen Grenze diese alte Bauweise auflebt; was das Projekt so besonders, aber auch herausfordernd macht. Und ob diese Art zu bauen wieder eine Zukunft hat. Also habe ich einen Tag auf der Baustelle mitgearbeitet.
Von der Denkmalpflege zum Neubau
Armin Hackstein ist die Musikauswahl in der Werkhalle egal. Egal ist ihm auch, dass ich normalerweise die meiste Zeit meines Tages am Schreibtisch sitze und wenig Erfahrung in der Bearbeitung von Holz habe. Der Zimmermann mit dem dichten weißen Bart fragt, mit welchen Werkzeugen ich schon einmal gearbeitet habe (Hobel? Nein, nicht wirklich. Schleifen? Ja.), und ruft mir über den Lärm hinweg wie selbstverständlich knappe Anweisungen zu. Die auf etwa einen halben Meter zugeschnittenen Balken, Riegel genannt, sind schon fast fertig. In manche Seiten der Quader sind Einkerbungen eingefräst. Damit lassen sich die Einzelteile der Fachwerkkonstruktion später einfach zusammensetzen und bei Bedarf auch wieder auseinandernehmen. Schrauben und Metallnägel sind nicht nötig.
Hackstein setzt den elektrischen Hobel an einem der Riegel an und führt ihn in einer einzigen geschmeidigen Bewegung über die Kante. Aus einem Loch an der Seite des Hobels stieben Späne wie aus einer Schneekanone und rieseln auf die Schicht aus Holzschnee zu unseren Füßen. Mit einem Stück Schleifpapier darf ich nun die Kanten nachbearbeiten. Fahre mit dem rauen Papier über das Holz; prüfe mit dem Finger, ob noch ein Splitter zu spüren ist; bessere nach.
Was ihn nach Bärnau geführt hat, frage ich den Zimmermann später. 23 Jahre lang war er selbstständig, zeitweise mit einem Reisegewerbe, später mit einem stehenden Gewerbe. Er hat Erfahrung in der Denkmalpflege und schon einige alte Fachwerkhäuser restauriert. Aber so etwas wie hier, ein neues Fachwerkhaus von null an zu bauen? Bei dem die Balken noch dazu nicht in einer sogenannten Abbundanlage zugeschnitten werden, sondern das meiste klassisch manuell passiert? Das habe er bislang nicht gemacht. Denn das gibt es in Deutschland eigentlich gar nicht mehr. Seit August letzten Jahres lebt er abwechselnd in Bärnau und in seiner Heimat. »Ich will das Projekt von Anfang bis Ende begleiten. Oder zumindest so lange, bis die Skelette aller 4 Häuser stehen«, sagt er.
Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen
Das Gelände, auf dem die Häuser aktuell entstehen, gehört zum
Seit 2018 wird im Geschichtspark außerdem ein burggleicher Königshof von Kaiser Karl IV. errichtet. Handwerker:innen und Wandergesell:innen aus ganz Deutschland wirken an dem Projekt mit, bei dem ausschließlich spätmittelalterliche Handwerksmethoden zum Einsatz kommen. Experimentelle Archäologie nennt sich das Konzept. Damit möchte man herausfinden, ob Bauweisen, die in der Theorie dem Mittelalter zugeschrieben werden, auch in der Praxis so funktioniert haben können.
Damit der Geschichtspark für Familien und andere Besucher:innen mit weiterer Anreise attraktiver wird, sollten Übernachtungsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe geschaffen werden. Zunächst stand die Überlegung von Tiny Houses im Raum. »Wir schlugen dem Verein etwas anderes vor. Warum nicht lieber etwas machen, das zu diesem Ort und zu unserem Wissen passt? Das war die Gelegenheit, traditionelle Bauweisen in die Gegenwart zu übertragen«, erzählt Andreas Mann. Der Steinmetz machte 2019 auf seiner Wanderschaft in Bärnau Halt und lernte auf der Archäologiebaustelle sowohl die Arbeit mit dem Baustoff Kalk als auch viele Gleichgesinnte kennen.
Gemeinsam mit ihnen entwickelte Andreas Mann die Idee des Naturdorfs.
Eine Familie auf Zeit
Einige von den Gleichgesinnten treffe ich am Vorabend in der WG, in der Andreas Mann und die meisten der anderen Handwerker:innen wohnen, 5 Minuten mit dem Auto vom Geschichtspark entfernt. Bei Feierabendbier und -schorle sitzen wir zusammen um den Esstisch: Der Steinmetzmeister und Bauleiter Lukas Ritter sowie der Zimmerer Arthur Duttenhöfer, beide ebenfalls Initiatoren und Reisekameraden von Andreas Mann. Zudem: Eine Zimmerin, die sich als Nele vorstellt und erst kürzlich angereist ist. Armin Hackstein, ein weiterer Zimmerer und ein Tischler. Ein Geselle bekommt nebenbei von einer Freundin einen neuen Haarschnitt verpasst. Andere haben sich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen.
Sie erzählen von den Arbeiten des hinter ihnen liegenden Tages, tauschen sich über ihre generellen Erfahrungen auf Wanderschaft aus. Viele Wörter fliegen durch den Raum, die ich zwar schon irgendwo gehört habe, mit denen ich zunächst aber nichts anfangen kann. Ich fühle mich ein wenig wie ein Alien, der gerade eine andere Welt betritt, mit einer eigenen Sprache und eigenen Regeln.
Romantik-Tippelei,
Ich merke schnell: Hier arbeiten fast ausschließlich Menschen mit, die selbst auf Wanderschaft sind oder waren. Und das ist kein Zufall. Es liegt zum einen an dem Netzwerk, das Gesell:innen während der Zeit ihrer Wanderschaft knüpfen und worüber sie wie eine große Familie miteinander verbunden sind. Über dieses Netzwerk erfahren sie von interessanten Projekten wie dem in Bärnau. Viele von ihnen haben außerdem Erfahrung in der Denkmalpflege. Zum anderen liegt es an einer ähnlichen Sicht auf die Welt und dem Thema Bauen, das Wandergesell:innen zu teilen scheinen.
Naturnahe Materialien und kurze Transportwege
Ihr Vorhaben wirkt ambitioniert: Einerseits sollen die Häuser im Naturdorf in der Theorie mehrere Hundert Jahre überstehen können, im Gegensatz zu den meisten heute entworfenen Gebäuden. Andererseits soll von ihnen so gut wie kein Müll übrig bleiben, müssten sie doch einmal zurückgebaut werden. Letzteres macht zum einen die Fachwerkbauweise möglich. Durch die Steckverbindungen lässt sich die Konstruktion wieder auseinanderbauen, ohne sie zu beschädigen. Auch einzelne morsche Balken können bei Bedarf ausgetauscht werden.
Zum anderen nutzen die Handwerker:innen nur Naturmaterialien, die sich nach dem Rückbau des Gebäudes vollständig recyceln oder für andere Projekte verwenden lassen. Die Transportwege sind kurz:
- Im Fundament sind Granitblöcke aus einem Steinbruch bei Flossenbürg verbaut, das etwa 20 Autominuten von Bärnau entfernt liegt.
- Das Fichtenholz für einen Großteil der Balken des Fachwerks stammt aus dem Stadtwald in Bärnau. Die Dachschindeln auf dem ersten der 4 Gebäude bestehen aus Lärchenholz aus dem Bayerischen Wald.
- Für die Dämmung kommen Abfälle aus der Verarbeitung von Hanf zum Einsatz. Für die Wände sogenannte
- Eine besondere Rolle spielt im Naturdorf der Baustoff Kalk. Er wird als Grundstoff für den Kalkmörtel genutzt, womit das Fundament gestampft und die Granitblöcke befestigt werden. Dazu wird gebrannter Kalk unter anderem mit feinem Schotter vermischt. Außerdem bildet er zusammen mit den Hanfschäben das »Mauerwerk«, womit die Zwischenräume (Gefache) der Holzkonstruktion sowie die Innendämmung ausgefüllt werden. Auch der Putz an den Außenwänden besteht aus Kalk.
- Die Wände werden innen mit Lehm verputzt. Dafür wird größtenteils direkt die Erde genutzt, die durch den Aushub der Baustelle angefallen ist. Zwischen Dämmung und Lehmputz wird die
- Die Scheiben für die Fenster sind mundgeblasenes Flachglas, das eine Glashütte in Waldsassen fertigt.
Der Baustoff der Zukunft?
Nach der Mittagspause, die alle Handwerker:innen gemeinsam im Pausenraum verbringen, wechsele ich von Scooter zu Phil Collins – das heißt: ich gehe zur Baustelle, auf der die Fachwerkhäuser errichtet werden. Das erste der 4 Häuser ist bereits als solches erkennbar. Beim zweiten ist das Fundament schon gestampft, der Granitsockel wächst an diesem Tag Stein für Stein, Mörtelschicht für Mörtelschicht weiter. Markierungen auf dem Boden lassen zumindest erahnen, wo die fehlenden beiden Häuser einmal stehen sollen.
Auf dem türkisen Baustellenradio läuft der Sender 80s80s. Zwischen die größten Hits der 80er-Jahre schiebt sich immer wieder das Klirren von Eisen auf Granit, wenn einer der Steinmetze den nächsten Block in Form bringt. Über allem liegt das sonore Brummen der großen runden Mischmaschine, worin ein Rührarm beständig seine Runde dreht.
Einer der Handwerker kippt oben in die Mischmaschine säckeweise Branntkalk, die Hanfschäben und etwas Zitronensäure. Wenn alle bereit sind – denn jetzt muss zügig gearbeitet werden –, gießt er Wasser hinzu. Das entstandene Gemisch füllt er in Wannen und Eimer. 2 der umstehenden Handwerker:innen schnappen sich je eine Wanne und machen sich damit im Hausinneren daran, ihn in die Gefache zu füllen und festzustampfen.
Ich nehme einen der Eimer und bessere von außen an der Fassade nach. Also an Stellen, an denen der Hanfkalk nicht fest genug gestampft werden konnte und deshalb heruntergebröselt ist. Meist direkt unter den Querstreben des Fachwerks. Dafür greife ich mir eine großzügige Hand der gräulichen Masse, deren Geruch mich entfernt an Bastelgips erinnert. Diese Masse stecke ich in die Löcher und drücke, presse, klopfe, so fest ich kann. Mit jedem Griff in den Eimer spüre ich, wie der Hanfkalk wärmer wird – die Reaktion zwischen Branntkalk und Wasser ist in vollem Gange. Bin ich zu langsam, lässt sich das Material nicht mehr optimal verarbeiten.
Die Arbeit mit Branntkalk ist nicht ungefährlich. Nicht nur, weil bei der Reaktion mit Wasser eine große Menge Energie in Form von Wärme freigesetzt wird, sondern auch, weil er stark alkalisch ist – und dadurch die Haut verätzen könnte. Bei der Sicherheitseinweisung am Morgen habe ich deshalb eingebläut bekommen, immer Gummihandschuhe, Schutzbrille und -maske zu tragen, wenn ich mit dem Material arbeite oder mich in dessen Nähe aufhalte. Ist der Kalk einmal ausgehärtet und dünstet nicht mehr aus, besteht keine Gefahr mehr.
Warum sie für das Naturdorf trotz der etwas schwierigeren Handhabe auf Kalk setzen? Weil es unter anderem für das Klima die weitaus bessere Alternative ist: Allein die konventionelle Herstellung von Beton macht jährlich ungefähr
Noch können Fachwerkhäuser nicht wirtschaftlich gebaut werden
An der perfekten Zusammensetzung für Kalkmörtel und Hanfkalk tüfteln Andreas Mann und sein Team laufend weiter. Genaue Rezepturen gibt es nicht, oder das Wissen darüber ist in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Die Handwerker:innen in Bärnau leisten auf vielen Ebenen Pionierarbeit. Um das Ganze wissenschaftlich zu untermauern, kooperiert der Geschichtspark mit den Ostbayerischen Technischen Hochschulen Amberg-Weiten und Regensburg. Sie wollen untersuchen, ob die Fachwerkhäuser eine Alternative zu konventionellen Beton- oder Ziegelbauten sein könnten.
Vor allem finanziell können sie noch nicht mit hochstandardisierten Bauweisen mithalten. Derzeit rechnen die Betreiber der Via Carolina Naturdorf GmbH mit Kosten von etwa 1,35 Millionen Euro, bis die ersten Feriengäste einziehen können. Zwar erhält das Projekt Fördergelder von der Regierung der Oberpfalz. Doch um alle Kosten decken und die Häuser wirklich fertigstellen zu können, hoffen die Initiatoren auf weitere Privatinvestoren, die an ihre Idee glauben.
Als es keine Arbeit mehr für mich gibt und ich die Baustelle am frühen Nachmittag verlasse, bin ich mir sicher: Wenn ich das nächste Mal hierherkomme, werden sie ihr Ziel erreicht haben. Denn was diese Gruppe von Menschen allein innerhalb des letzten Jahres auf die Beine gestellt hat, hätte zuvor sicher auch kaum jemand für möglich gehalten. Das Radio lasse ich auf der Rückfahrt heute ausnahmsweise ausgeschaltet.
Titelbild: Naturdorf Bärnau - copyright