»Man kann nicht erwarten, dass sich alle für Demokratie begeistern«
Menschen mit Migrationshintergrund zahlen wie alle anderen Rundfunkgebühren, doch deutsche Programme erreichen sie kaum, sagt Nalan Sipar. Die Journalistin weiß, woran es hakt und wie sie besser über die anstehende Schicksalswahl in der Türkei berichtet.
9. Mai 2023
– 9 Minuten
Deutschlandradio/Simon Detel
Wenn am 14. Mai in der Türkei gewählt wird, ist auch die türkische Community in Deutschland aufgerufen, über die Zukunft des Landes zu entscheiden. Gegenüber stehen sich der derzeitige Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und der Führer der Opposition Kemal Kılıçdaroğlu (CHP).
Die freie Journalistin und Medienunternehmerin Nalan Sipar kam im Jahr 2000 aus der Türkei nach Deutschland. Wenn sie über die Wahlen in der Türkei berichtet, wendet sie sich vorrangig an ein türkischsprachiges Publikum in Deutschland, hat aber ebenso das Ziel, den Austausch zwischen der migrantischen Community und der deutschstämmigen Mehrheit zu stärken. Genau an solchen Medienangeboten mangele es in Deutschland, erklärt Nalan Sipar im Interview.
Fabian Lehmann:
Frau Sipar, unseren ersten Interviewtermin mussten Sie absagen, weil Sie von einem Tag auf den anderen in die Türkei geflogen sind, um den aussichtsreichsten Herausforderer des türkischen Präsidenten Erdoğan, zu interviewen. Wie lief das Gespräch?
Nalan Sipar:
Ich war natürlich sehr aufgeregt. Ich bekam den Anruf mit dem Terminvorschlag für das Interview und 3 Stunden später bin ich geflogen. Am Ende hat das Interview dann nicht wie geplant in der Parteizentrale stattgefunden, sondern im Wagen von Kemal Kılıçdaroğlu auf dem Weg zu seinem nächsten Termin. Es war aber schön, weil ich zu so einem historischen Zeitpunkt das Interview machen konnte; jetzt, wo die Türkei und das Schicksal des Landes vom Ausgang der Wahlen abhängt.
Sie sind als Kurdin in der Türkei aufgewachsen und haben nach Ihrem Umzug nach Deutschland im Jahr 2000 als freie Journalistin für die Deutsche Welle, Deutschlandfunk, WDR und rbb gearbeitet. Das Journalistennetzwerk der Neuen deutschen Medienmacher*innen geht davon aus, dass lediglich 5–10% der Journalist:innen in Deutschland eine Migrationsgeschichte haben, obwohl der Anteil der migrantischen Bevölkerung . Deckt sich diese Einschätzung mit Ihren eigenen Erfahrungen?
Nalan Sipar:
Zu 100%. In den Redaktionen gab es immer ein bis maximal 2 Journalisten mit Migrationshintergrund.
Wie reagierten Ihre Kolleg:innen in den Redaktionen, wenn Sie dort Themen angeboten haben, die sich speziell an ein migrantisches Publikum wenden?
Nalan Sipar:
Die Antwort war meistens: Das interessiert unsere Zielgruppe nicht. Ich habe dann immer gefragt, wer die Zielgruppe ist und wer das definiert. Menschen mit Migrationshintergrund zahlen auch Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Redaktionen müssten es als ihren Auftrag verstehen, Content für migrantische Communitys zu produzieren. Aber es gibt gar nicht so viele Journalisten mit Migrationshintergrund. Das ist also ein strukturelles Problem.
Ich finde das sehr problematisch. Insbesondere, wenn diese Sender sagen, dass sie Vielfalt in den Redaktionen wollen. Einzelne Kollegen sind daran interessiert, aber diejenigen, die einen Richtungswechsel vorgeben könnten, nicht.
Bereits 2007 hat die ARD Integration und kulturelle Vielfalt als Querschnittsaufgabe definiert, die sich im gesamten Sendeprogramm niederschlagen soll. Seit 2016 bietet der WDR mit seinem Online-Nachrichtenportal Nachrichten auf Farsi und Arabisch an. Auch der öffentlich-rechtliche Radiosender COSMO bietet Inhalte in vielen verschiedenen Sprachen an. Zeigt das nicht, dass sich in den letzten Jahren etwas bewegt hat?
Nalan Sipar:
Ich kann die Arbeit dieser Programme nicht beurteilen und weiß nicht, inwiefern sie den Bedarf abdecken. Die Sender müssten offenlegen, wie viele Journalisten mit Migrationshintergrund dort arbeiten. Inwiefern hat sich deren Anteil seit 2007 erhöht?
Ich selbst habe bei COSMO Türkisch meine journalistische Karriere begonnen. Den Sender gibt es seit 50 Jahren, aber die Budgets wurden in den letzten Jahren ständig gekürzt. COSMO setzt stark auf Podcast. Aber Podcast ist kein Medium für türkische Menschen in Deutschland. Die Uni Bielefeld hat in einer untersucht, über welche Kanäle sich Menschen mit Migrationshintergrund über die Coronapandemie informierten. Sie haben festgestellt, dass es hauptsächlich Social-Media-Quellen sind, allen voran Youtube. Da frage ich mich, inwiefern ein Podcast für diese Zielgruppe Sinn ergibt.
Mittlerweile bauen Sie Ihr eigenes Medienunternehmen in Berlin auf. Wie ist es Ihnen gelungen, in den vergangenen 3 Jahren ein Vertrauensverhältnis zur türkischsprachigen Community in Deutschland herzustellen?
Nalan Sipar:
Indem ich Content geliefert habe. Ich hatte anfangs 300 Abonnenten auf Youtube. Die Gründung meines Unternehmens fiel in die Zeit der Coronapandemie. Es war alles unklar. Menschen hatten Angst, weil sie keine Informationen hatten. Mich haben damals Fragen erreicht wie: »Sind türkische Gene immun gegen das Coronavirus?«, weil die Menschen das im türkischen Fernsehen gesehen hatten.
Fake News haben sich damals schneller verbreitet als das Virus selbst. Insbesondere in der deutsch-türkischen Community habe ich eine Skepsis gegen den deutschen Staat wahrgenommen. Ich habe gemerkt, dass ich so objektiv wie möglich sein muss, wenn ich das Vertrauen dieser Menschen haben möchte. Also keine Meinung, keine Empfehlungen, keine Herabwürdigungen meiner Zuschauer im Sinne von: »Seid ihr bescheuert, natürlich müsst ihr das und das machen.« Ich habe in den ersten 100 Tagen der Pandemie 86 Videos online gestellt. Ich habe darin immer gesagt, ich gebe euch die Fakten, aber ob ihr euch impfen lasst oder nicht, ist eure Entscheidung.
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 habe ich dann den ins – eine Aufgabe, die eigentlich die Bundeszentrale für politische Bildung hätte übernehmen können. Ich habe die Wahlversprechen der 5 Parteien auf Türkisch vorgestellt und in Interviews und gefragt, wie sie das Zusammenleben zwischen den Deutschtürken und der Mehrheitsgesellschaft sehen.
Bleiben wir beim Thema Wahlen. Am 14. Mai sind in der Türkei Präsidentschaftswahlen. Bei den Wahlen 2018 war der Zuspruch für Erdoğan und die AKP bei den rund 1,5 Millionen türkischen Wahlberechtigten in Deutschland . Das ist wohl auch der Verbreitung regierungstreuer türkischer Medien in Deutschland zuzuschreiben. Meinen Sie, dass türkische Wähler:innen hierzulande kritischer mit der türkischen Regierung wären, wenn sie das deutsche Nachrichtenangebot erreichen würde?
Nalan Sipar:
Vielleicht etwas. Aber man muss sich da nichts vormachen. Ich habe kürzlich ein . Darin spreche ich mit einem jungen Mann, der in Deutschland aufgewachsen ist und sagt, dass er die AKP wählen würde. Ich habe ihn gefragt, wie er sich informiert, und er sagte: über türkische Medien, aber auch die Tagesschau. Er sieht sich also deutsche Programme an, aber offensichtlich erreichen sie ihn nicht.
Ich glaube, es geht um das Gefühl der Zugehörigkeit: Glaube ich dir, dass du mit mir sprechen willst? Verstehst du wirklich, wie ich mich fühle? Ich glaube, dass die deutschen Medien das nie hinbekommen werden, weil sie einfach nicht die kulturelle DNA der Community ansprechen. Es muss jemand aus der Community sein. Ich weiß, wie ich türkische Menschen in Deutschland ansprechen kann.
Bei einigen deutschen Kollegen, mit denen ich in den letzten 13 Jahren zusammengearbeitet habe, sehe ich außerdem eine Haltung der nach dem Motto: Wir wissen doch, dass Demokratie die beste Regierungsform ist. Wie kann es sein, dass die Deutschtürken das nicht verstehen? Aber man kann nicht von allen erwarten, dass sie sich für Demokratie begeistern. Das sieht in der deutschen Bevölkerung ja nicht anders aus.
Wenn Sie selbst über die Wahl in der Türkei berichten, untertiteln Sie ihre Videos in Deutsch. Gibt es denn nicht genügend Nachrichtenangebote auf Deutsch über die Wahl in der Türkei?
Nalan Sipar:
Ich lebe hier in Deutschland. Ich habe ein Bedürfnis, von den Sorgen meiner Community zu berichten. Ich finde es schade, wenn COSMO wichtige Themen nur für die türkische Community sendet. Wir kennen all diese Probleme. Aber diejenigen, die an diesen Problemen beteiligt sind, erfahren das nicht. Es gibt kein Gespräch untereinander. Es ist doch problematisch, dass sich kein Sender die Mühe macht, einen Dialog zu initiieren.
Wenn mein Gegenüber meine Sprache nicht versteht, können wir unsere Probleme nicht lösen. Da ist so viel Potenzial, das verloren geht.
Sie haben einmal den als Vorbild benannt und von der Vision eines türkisch-deutschen Senders gesprochen. Wie aber lässt sich so eine Vision als private Unternehmerin umsetzen?
Nalan Sipar:
Die Vision ist ein privates arte, aber nicht im Fernsehen, denn das ist tot, sondern auf Youtube. Viele fragen mich dann, wie ich damit Geld verdienen will. Aber das muss man sich genauso vorstellen wie bei privaten Fernsehsendern. Unternehmen können Werbung auf meinem Kanal schalten oder Content sponsern. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung steht Demokratieförderung als Ziel. Vielleicht wird gemeinnütziger Journalismus zukünftig auch gefördert.
Das Oppositionsbündnis unter Kemal Kılıçdaroğlu ist ein ernst zu nehmender Gegner für Erdoğan. Was ist Ihre persönliche Prognose für den Ausgang der Wahl?
Nalan Sipar:
Ich habe keine Ahnung. Die Umfragewerte schwanken und sind nur bedingt verlässlich. Insofern habe ich keine verlässliche Grundlage für eine Aussage. Ich weiß nur, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen wird.
Fabian Lehmann ist freier Journalist und Kulturwissenschaftler und hat sich in der Forschung für seine Doktorarbeit mit zeitgenössischer Kunst in Namibia beschäftigt. Sein Anspruch: Nah dran zu sein am Geschehen. Und das gilt für eine Reportage über die Olivenernte in Palästina ebenso wie für Lehmbau-Modellprojekte in der Prignitz.