Es gibt viele Bücher über die Zukunft. Die von Frauen könnten uns am meisten voranbringen
Ursula K. Le Guin, Octavia E. Butler, Anja Kümmel: Autor:innen feministischer Spekulation stellen sich neue Lebensweisen vor und animieren uns, darüber nachzudenken, wie es anders geht.
Nach einer gescheiterten Revolution verlässt eine Gruppe von Anarchist:innen ihren Heimatplaneten Urras. Ihrer Anführerin folgend, lassen sie sich auf dem Wüstenmond Anarres nieder und bauen eine neue Gesellschaft auf, die auf den Idealen von Gleichheit, Solidarität und Freiheit beruht. Es ist eine Gesellschaft ohne Regierung, ohne Polizei, ohne Privateigentum, ohne Geld und ohne Eheschließungen. »Wir haben nichts als unsere Freiheit […]. Wir haben keine Gesetze als das eine und einzige Prinzip der gegenseitigen Hilfe. […] Wir sind Teiler, nicht Besitzer. Wir sind nicht wohlhabend. Keiner von uns ist reich, keiner von uns ist mächtig«, beschreibt ein Anarresti seine Heimat.
Dieses Szenario entwirft Ursula K. Le Guin in ihrem Roman »Planet der Habenichtse« (1974). Der Roman erzählt die Geschichte von Shevek, einem genialen theoretischen Physiker, dessen Entdeckungen auf Anarres aber kaum gewürdigt werden. In der Hoffnung auf mehr Anerkennung begibt sich Shevek auf eine Reise zum kapitalistischen, hochtechnisierten Planeten Urras. Dort will er seine Forschungen vollenden.
Ich begegnete dem Roman im letzten Jahr, als Forderungen nach einer Umgestaltung der Gesellschaft immer lauter wurden. Inmitten der Klimakatastrophe und wachsender sozialer Ungerechtigkeiten erkennen immer mehr Menschen, dass wir nicht einfach weiter so leben und arbeiten können wie bisher.
Warum fasziniert mich dann gerade ein Roman aus den 80er-Jahren und fühlt sich so zeitaktuell an?
Mit meiner Erfahrung bin ich nicht allein. Immer mehr Menschen entdecken die Literatur visionärer schreibender Frauen und queerer Menschen heute wieder. Denn sie leisten etwas, was wir dringend brauchen: Neue Ideen abseits von kapitalistischen Werten, rassistischen und patriarchischen Strukturen sowie egoistischen Lebensentwürfen.
Romane wie »Planet der Habenichtse« denken voraus, wie es anders gehen könnte – wenn wir nur wollten. Und sie zeigen uns auch, wo solche Antworten Irrwege einschlagen und sogar scheitern könnten. Immer sind es aber faszinierende Geschichten, die mich noch lange nach der letzten Seite beschäftigen.
Feministisches Spekulieren und Weltmacherei
Ursula K. Le Guin gilt als Vertreterin des sogenannten
Was in ihren Werken auffällt: Viele feministische, spekulative Fiktionen geben imaginären Welten und Gesellschaftsformen Gestalt. Dabei geht es weder darum, der »realen Welt« zu entfliehen, noch geht es darum, die Zukunft vorherzusagen.
Vielmehr steht feministisches Spekulieren für das
Kein Wunder, dass feministische Fiktion inhaltlich oft von Geschlechterfragen, race, Klasse, der Beziehung zwischen Mensch und Natur und weiteren Ausbeutungs- und Unterdrückungssystemen handelt.
»Indem alltägliche gesellschaftliche Themen in andere Kontexte, in andere Gesellschaften, auf andere Planeten gesetzt werden, halten viele Werke des spekulativen Feminismus uns einen Spiegel vor. Damit hilft er uns, Probleme in unseren eigenen Strukturen zu erkennen«, erklärt mir die Philosophin Hannah Wallenfels im Interview. Sie kennt sich aus, studiert die Geschichte der feministischen Theorie und der Belletristik – und fand selbst in den Texten einen Weg, um mit ihrer Frustration über die vorherrschende Kultur umzugehen, sagt sie.
Je mehr ich feministische Spekulationen las, desto mehr hinterfragte ich, was ich für allgemeingültig hielt. Ich begann, mir vielfältigere Möglichkeiten vorzustellen, in der Welt zu leben.
Es geht im spekulativen Feminismus also darum, die Gegenwart in eigenen erschaffenen Welten neu zu erzählen. Und diese Werke dienen nicht nur der Vorstellung, sondern sie sind auch politisch: Viele fordern implizit eine Transformation des sozialen und politischen Systems und mehr soziale Gerechtigkeit.
Nun könnte man erwidern: Ist das nicht ein wenig hoch gegriffen? Das sind doch nur unterhaltsame Bücher, die kaum die Welt verändern werden … oder?
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily