Unsere 6 Lesetipps für den Sommer
Ein Urlaub ohne Bücher? Nicht mit uns! Dies sind unsere Tipps für die Lektüre im Liegestuhl.
Für den Urlaub zu packen, ist für viele eine eher lästige Notwendigkeit. Für manche sogar purer Stress. Doch was in den Koffer wandert, ist immer eine – bewusste oder unbewusste – Entscheidung dafür, wie ich meine freien Tage verbringen möchte. Eine Entscheidung, was wichtig und was unwichtig ist. Was nehme ich mit? Die Arbeit (Laptop)? Die unbequeme Eitelkeit oder gesellschaftliche Konvention, die ich eigentlich ablehne (hohe Schuhe, Sakko)?
Wenn man das ein oder andere aus Gewohnheit Eingepackte zu Hause lässt, bleibt zwischen Kleidung und Kulturtasche vielleicht noch Platz für mehr: für Bücher. Denn mit Büchern verhält es sich anders als mit den meisten anderen Habseligkeiten: Sie sind nicht nur Tinte auf Papier – mit ihnen packt man Ideen, Fragen, Gefühle ein. Eine Erfahrung über Nähe und was es bedeutet, sich umeinander zu sorgen. Oder die Frage, in welcher Zukunft wir leben wollen und wie wir mit der Welt um uns herum umgehen möchten.
Falls du noch nach Inspiration suchst, welche Lektüre dich in den Urlaub oder an den See begleiten soll, stellen wir dir heute 6 unserer neu entdeckten Buchfavoriten vor:
»Auf See«: Ein Blick auf die Zeit nach dem Untergang
von Dirk WalbrühlYada ist 17 und lebt in der Ostsee auf »Seestadt«. Von dort sieht man ein Meer voller Algen, Wracks, dahinter alte Windräder. Wir schreiben eine nicht allzu ferne Zukunft Deutschlands,
Zwischen den beiden Protagonist:innen wechselnd, skizziert die Autorin Theresia Enzensberger eine Zukunft, die so nah an unserer liegt, dass es manchmal schaudern lässt. Dazwischen zeigt sie in einer fiktiven Dokumentation, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Individualismus, Privilegiertheit, Menschenfeindlichkeit, Propaganda sowie die Sehnsucht nach Sinn und Anschluss sind die zentralen Themen des Romans, den man wohl streckenweise dystopisch nennen muss. Die Autorin schuf seinen namensgebenden Ort aus den echten Zukunftsvisionen des Silicon Valley und
Doch der Roman ist nicht
Am Ende ist »Auf See« ein sehr menschlicher Roman und eine weibliche Zukunftsperspektive, die Leser:innen dazu animiert, darüber nachzudenken, wie es anders geht –
Theresia Enzensberger: Auf See. Hanser, 272 Seiten, 24 Euro.
»Der große Sommer«: Liebe, Angst und Sommerregen
von Lara MalbergerEine 5 in Latein macht Frieder einen Strich durch den Sommerurlaub: Statt mit der Familie ans Meer zu fahren, muss er die Ferien bei seinem strengen Großvater verbringen und sich auf die Nachprüfungen in Mathe und Latein vorbereiten, damit er es in die zehnte Klasse schafft.
Anders als erwartet wird der Sommer dann aber alles andere als langweilig. In »Der große Sommer« erzählt Ewald Arenz die Geschichte eines Sommers, der das Leben von Frieder, seiner Schwester Alma, seinem Freund Johann und Beate, der Neuen in der Runde, für immer verändert. Neben dem ersten Sprung vom 7,5-Meter-Turm im Freibad und tiefgründigen Gesprächen in warmen Sommernächten sind auch Tod und Verlust Teil der Geschichte.
Vor allem lernt Frieder in diesem Sommer jedoch, was Liebe sein kann: Von der ersten großen Verliebtheit, echter Freundschaft bis zur schwierigen Nachkriegsbeziehung seiner Großeltern, die er erst richtig versteht, als er dort die Ferien verbringt.
Die Geschichte um Frieder war für mich die perfekte Urlaubslektüre (und da ich die vergangenen 2 Wochen Urlaub hatte, weiß ich, wovon ich spreche): Leicht, aber trotzdem tiefgründig. So wie Arenz Hochsommer-Regentage im Freibad beschreibt, konnte ich den warmen Regen beim Lesen riechen, aber auch die aufgeregte Verliebtheit von Frieder und seine Angst nachspüren, als er fast einen Freund verliert.
»Der große Sommer« schafft eine Art Flashback in eigene Jugend-Sommer am See und im Freibad – auch wenn die Geschichte von Frieder in einer anderen Zeit spielt als meine eigenen Sommerferien und er ganz andere Herausforderungen erlebt als ich vor einigen Jahren. Wer sich fragt, was ich damit meine, findet die Antwort in Arenz’ Roman.
Ewald Arenz: Der große Sommer. DuMont, 320 Seiten, 12 Euro.
»3000 Yen fürs Glück«: Sage mir, wie du dein Geld ausgibst, und ich sage dir, wer du bist
von Julia TappeinerRomane von Autor:innen aus anderen Ländern zu lesen,
»3000 Yen fürs Glück – ein Familienroman über die Kunst des Sparens« von Hika Harada führt uns nach Japan. Dabei bekommt man nicht nur Einblicke in den dortigen Umgang mit Geld. Man lernt auch viel darüber,
Die Fragen, die der Roman aufwirft, gehen aber über Ländergrenzen hinaus: Habe ich genug Geld? Was bin ich bereit, für finanzielle Sicherheit zu opfern? Was macht mich glücklich?
4 Frauen der Familie Mikuriya stellen sich diese Fragen. Großmutter Kotoko, weil sie sich um ihre Rente sorgt. Schwiegertochter Tomoko, weil sie in ihrer Ehe unglücklich ist und nicht weiß,
Der Roman ist voller kluger Tipps zum richtigen Umgang mit Geld für jede Lebenslage. Doch wer jetzt zum Gähnen angesetzt hat, sei beruhigt: Die Geschichte liest sich so locker, die Handlungen bleiben so spannend – man merkt gar nicht, dass man nebenbei sein Finanzwissen auffrischt.
Das Buch geht dabei unmaskiert auf unbezahlte Sorgearbeit und andere Ungerechtigkeiten ein, die auf traditionelle Geschlechterrollen zurückgehen – beim Lesen bemerkt man kaum, wie moralisch aufgeladen all diese Themen sind, so gut erzählt und in die Geschichte eingewoben sind sie. Stattdessen porträtiert die Autorin die 4 Frauen als selbstbestimmt und zeigt ihren Leser:innen durch die Entscheidungen ihrer Protagonistinnen auf,
Hika Harada: 3000 Yen fürs Glück: Ein Familienroman über die Kunst des Sparens. Aus dem Japanischen von Cheyenne Dreißigacker. dtv, 304 Seiten, 23 Euro.
»Fuzz«: Die Natur hält sich an kein Gesetz
von Maria StichVandalismus, Hausfriedensbruch, Mord: Die US-amerikanische Autorin Mary Roach begibt sich für ihr neuestes Buch an Orte, an denen regelmäßig kleine wie große Verbrechen geschehen. Nur, was tun, wenn die »Verbrecher:innen« keine anderen Menschen sind, sondern Tiere und die ein oder andere Pflanze? Alte Gerichtsdokumente zeigen, dass im 17. Jahrhundert in Italien sogar Raupen angeklagt wurden, weil sie an den Orchideen in einem Garten genascht hatten. Die Angeklagten erschienen aber – Überraschung – nicht zu ihrem eigenen Prozess. Heute gibt es solche Verfahren nicht mehr, doch die Konflikte bestehen fort.
Natürlich handelt es sich dabei nicht um kriminelle Handlungen im eigentlichen Sinne. Tiere folgen nicht den Gesetzen, sondern ihren Instinkten.
Die Interessen von Mensch und Natur kollidieren immer wieder. Roach schreibt von Bären, die in einem Luxus-Skigebiet die Mülltonnen von Restaurants plündern. Von Elefanten, die sich in Westbengalen mit Bier betrinken, die Ernte auf den Feldern der lokalen Bevölkerung zerstören oder gar Menschen tottrampeln. Von einem Leoparden, der zum Menschenfresser wurde. Mit einem scharfen Auge fürs Detail und mit humoristischen Beobachtungen in noch so ernsten Situationen ergründet die Autorin, welche traditionellen und technischen Lösungen für Konflikte mit Tieren gefunden werden.
Dabei wird mit jedem Kapitel klarer, dass es im Kern keine Bären-Probleme, keine Elefanten-Probleme, keine Leoparden-Probleme sind. Meist ist der Mensch selbst das Problem. In
Mary Roach liefert keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Dafür jede Menge Stoff zum Schmunzeln und Nachdenken. Zum Beispiel darüber, wie wir auch hier in Deutschland
Mary Roach: Fuzz: When Nature Breaks the Law. Norton & Company, 307 Seiten, 21,50 Euro. Bislang nur auf Englisch erhältlich.
»22 Bahnen«: Wenn aus der Schwester ein Mutterersatz wird
von Maryline BoudotTildas Alltag ist strikt durchgetaktet. Neben ihrem Mathematikstudium hat sie einen Nebenjob an einer Supermarktkasse. Zusätzlich kümmert sie sich aufopferungsvoll um ihre 10 Jahre alte Schwester Ida – und um ihre Mutter, denn die ist alkoholabhängig und depressiv. Der wichtigste Ort in Tildas Leben ist das Schwimmbad; hier kann sie abschalten und den Stress des Alltags vergessen.
Ich atme den Chlorgeruch tief ein, schmeiße meinen Rucksack auf die Bank neben Ursulas bunten Korb, ziehe das Kleid über meinen Kopf und springe kopfüber ins Wasser, tauche in den tiefen Bereich bis zum Grund, setze mich auf den Boden und schaue mir das Geschehen im Becken von unten an. Viele unkoordiniert zappelnde Kinderbeine, ein paar mehr oder weniger koordiniert zappelnde Seniorenbeine, tauchende Kinderkörper, gemischte Beine am Beckenrand.
Als Tilda eine Promotionsstelle in Berlin angeboten wird, ist sie hin- und hergerissen. Sie freut sich über die Chance auf ein neues Leben in der Großstadt. Doch wer kümmert sich dann um Ida? Tilda will ihre kleine Schwester auf die unberechenbaren Launen ihrer Mutter vorbereiten. Doch dann eskaliert die Situation zu Hause …
»22 Bahnen« erzählt von der Selbstermächtigung zweier Schwestern, die sich nach Normalität sehnen. Trotz ihrer vielen Schicksalsschläge und scheinbar aussichtslosen Situation versucht Tilda ihrer kleinen Schwester eine schöne Kindheit zu ermöglichen.
Mich hat (besonders) die Hingabe der großen Schwester sehr berührt. Der Roman von Caroline Wahl ist zur gleichen Zeit fesselnd, witzig und kraftvoll. Kein Wunder, dass sich die Verlage um das Manuskript gestritten haben und »22 Bahnen« direkt auf der Spiegel-Bestsellerliste gelandet ist.
Caroline Wahl: 22 Bahnen. DuMont, 208 Seiten, 22 Euro.
»Gott hassen«: Ein roher, düsterer Gedankendiamant
von Désiree SchneiderWas habe ich da gerade gelesen?
Das ist meine erste Reaktion, nachdem ich die 240 Seiten von »Gott hassen« in einem Rutsch aufgesogen habe. Durch den Titel und den Klappentext hatte ich einen autobiografisch inspirierten Roman über das eintönige Leben einer jungen Protagonistin im Norwegen der 90er-Jahre erwartet, die vom christlichen Konservatismus ihrer Familie erdrückt in die Black-Metal-Szene und den Hass abtaucht. Die das Leben kritisch hinterfragt und ihre Jugend irgendwann verarbeitet. Diese Geschichte erzählt das Buch auch – nur überraschend anders. Stellenweise liest es sich wie ein Essay, dann wie ein Gedicht, ein surreales Drehbuchskript, ein düsterer Tagebucheintrag. Nach und nach setzen sich diese Fragmente zu einem Kunstwerk zusammen.
Zu Beginn des Buches war ich verwirrt von den abrupten Satz-Enden, Szenenwechseln und Gedankensprüngen – bis ich mich von meinen Erwartungen gelöst und mich der Bildsprache der Autorin Jenny Hval hingegeben habe. Wahrscheinlich wollte sie genau dies bei ihren Leser:innen erreichen. Denn in ihrem Buch kritisiert die Autorin, die auch Sängerin und Tonkünstlerin ist, die starren und festgefahrenen Formen von Kunst.
Zwischen 1990 und 1998 hasse ich Gott, und ich sage das mit der Überzeugung einer echten Südnorwegerin, in der Hoffnung, mithilfe der Sprache ein Grenzland zu erreichen, ein Land zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Materie und Metaphysik. Deswegen schreiben wir, um neue Orte zu finden, Orte weit weg von Südnorwegen.
Auf der Selbstfindungsreise durch die Jugend der namenlosen Protagonistin behandelt Jenny Hval viele ernste Themen. Die Leser:innen lernen etwas über die Geschichte der Hexenprozesse, Feminismus, das Christentum sowie die Black-Metal-Szene in Norwegen und wie solche Subkulturen von Unternehmen als Lebensstil verkauft werden. Die Autorin kritisiert die mediale Vermüllung, das menschliche binäre Denken und das kapitalistische System, worin wir leben.
Ihre Gedanken lesen sich roh, rau und laut – und regen zum Denken an. Ihre Sprache ist düster, direkt und teilweise explizit, auch was Gewaltszenen und sexuelle Beschreibungen betrifft. Doch unter der dunklen, bildgewaltigen Sprache liegen viele geniale Gedanken.
Nun wünsche ich mir vor allem eines: Eine andere Person, die das Buch auch gelesen hat, damit wir gemeinsam darüber philosophieren können. So etwas hat schon lange kein Buch mehr in mir ausgelöst.
Jenny Hval: Gott hassen. Aus dem Norwegischen von Clara Sondermann. März Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.
Redaktionelle Bearbeitung: Maria Stich und Désiree Schneider
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily