So geht Radfahren in der schönsten Fahrradstadt der Welt
Keine Stadt der Welt ist so radfreundlich wie Utrecht. Wie das Fahrradparadies funktioniert, zeige ich dir auf einer gemeinsamen (Video-)Radtour durch die niederländische Stadt und ihre Geschichte.
Seit Langem treiben mich 2 Fragen um: Wie sieht die perfekte Fahrradstadt aus – und gibt es sie in der Realität? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, bin ich im Mai 2023 ins niederländische Utrecht gefahren. Viel hatte ich von dieser Stadt mit 360.000 Einwohner:innen im Vorfeld gehört, doch als ich ankam, verschlug es mir die Sprache. Schnell war mir klar: Ich habe es gefunden, das Fahrradparadies auf Erden. Lasst mich euch mitnehmen in eine unglaubliche Stadt.
Das größte Fahrradparkhaus der Welt
Das Wunder von Utrecht beginnt bereits am Bahnhof. Dort empfängt mich das größte Fahrradparkhaus der Welt. Auf 3 Stockwerken bietet es Platz für 12.500 Fahrräder und eine Fahrt durch das futuristische Gebäude zeigt schnell: Es ist voll und wird rege genutzt. Reihe an Reihe parken die Fahrräder der vielen Zugpendler:innen, die morgens auf 2 Rädern zum Bahnhof und auf Schienen weiter nach Amsterdam fahren. Damit das Fahrrad auch nach der Arbeit an seinem Platz steht, wird das Parkhaus 24/7 bewirtschaftet. Es ist die ersten 24 Stunden gratis, so bleibt es für die meisten Pendler:innen kostenfrei und bietet damit einen guten Anreiz, Fahrrad und Zug zu kombinieren. Während man als Radfahrer:in in Deutschland an Bahnhöfen meist vergeblich nach diebstahl- und wettergeschützten Abstellmöglichkeiten sucht, hat Utrecht die perfekte Bike-&-Ride-Infrastruktur längst geschaffen.
Weiter geht es ins Zentrum. Auf 3 Meter breitem, rötlich schimmerndem Asphalt rolle ich umgeben von anderen Radfahrer:innen der Innenstadt entgegen. Rot ist die charakteristische Farbe für Hollands weltbekannte Radwege, die häufig kopiert und doch selten erreicht werden. Die Farbe sticht sofort ins Auge und lässt das Grau der Straße verblassen. Niederländische Radwegeplaner:innen haben verstanden, dass ihr Produkt auffallen muss, damit Menschen es benutzen.
Und das zeigt offenbar Wirkung. Wie ein Schwarm Fische bahnen wir uns den Weg durch die Stadt. Das Gefühl, in einer Traube aus Gleichgesinnten in die Pedale zu treten, kenne ich hierzulande höchstens von Fahrraddemos. In Hollands viertgrößter Stadt ist das Alltag. Doch niemand skandiert etwas, keiner protestiert oder hebt ein Schild in die Höhe, alle fahren friedlich ihrer Wege – denn Fahrraddemos gibt es in Utrecht schon lange nicht mehr.
Utrecht war schon vor 100 Jahren ein Fahrradparadies
Das Fahrrad hat in Utrecht eine lange und bewegte Geschichte.
Verkehrszählungen belegen, dass allein über eine der Brücken täglich 12.000 Radfahrer:innen, aber nur einige Hundert Autos fuhren. Das Auto hatte einen marginalen Anteil von 3% am Verkehrsaufkommen und wurde von den Fahrradmassen verschluckt. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war die Blütezeit des Fahrrads. Utrechts Gemeinderat schätzte, dass 40% der Wählerschaft eines besaß. Bei einer Bevölkerung von damals 150.000 Menschen ergibt das 70.000 Fahrräder. Das stählerne Zweirad war systemrelevant und beflügelte die Wirtschaft. Ende der 1930er-Jahren gab es 200 Fahrradläden in der Stadt –
Nach 1945 wuchs und veränderte sich Utrecht. Die einst so stolze Fahrradnation wurde in den Nachkriegsjahren auch von der Autofaszination gepackt. Selbst wenn der Radverkehr zunächst weiter stabil blieb, gossen Verkehrsplaner:innen die autogerechte Stadt in Asphalt. Während der Anteil des Autos stieg, nahm der des Fahrrads ab.
Der Pkw kam – und Utrecht wehrte sich
Doch der Siegeszug des Pkw zeigte schnell seine Schattenseiten. Die schleichende Verdrängung des Fahrrads aus dem öffentlichen Raum, die Zunahme tödlicher Unfälle und die Ölkrise 1973 führten zu einem Umdenken. Unter dem Schlachtruf »Stop de Kindermoord« formierte sich in den 1970er-Jahren in den ganzen Niederlanden Widerstand gegen die »Autokratie«. Jahr für Jahr eroberten sich die Radfahrer:innen im ganzen Land den Raum zurück. Kinder errichteten Straßenbarrikaden, um Straßen von Autos zu befreien und darauf Spielplätze zu erschaffen. Sie trafen dabei auf verständnislose Erwachsene und aggressive Autofahrer. Im Grunde ähnlich wie in Deutschland heute – jedoch vor über 50 Jahren.
Heute dominiert das Zweirad das Stadtbild erneut und nirgendwo sieht man das so deutlich wie an den Utrechter Kreuzungen. Hier staut sich das, was zuvor floss. Bei jeder Ampelphase sammeln sich Dutzende Radfahrer:innen und warten geduldig. Schaltet die Ampel auf Grün, geht es los: Von allen 4 Seiten strömen die Zweiräder herbei und bevölkern für einige Augenblicke die gesamte Kreuzung. Denn niederländische Kreuzungen sind nach dem Prinzip »Rundum Grün« geschaltet: Alle Fahrräder bekommen gleichzeitig grünes Licht, sodass sie in einem Schwung auch links abbiegen können.
»Rundum grün« fürs Fahrrad
In Deutschland braucht es dafür meistens 2 Schritte. Weniger geübten Radfahrer:innen mag das zunächst anspruchsvoll erscheinen. Doch nach einigen Malen bekommt man ein Gespür für die holländische Radmentalität. Dann reichen ein Blick, ein Lächeln und eine Geste aus, um jeden noch so fest gezurrten Verkehrsknoten zu lösen. Während sich die Vorteile von »Rundum Grün« in den Niederlanden längst gezeigt haben, hat sich das in Deutschland noch nicht rumgesprochen. Gerade beendete der neue Berliner Senat einen solchen Feldversuch in Berlin Mitte –
Utrechts bekannteste Kreuzung liegt im Stadtviertel Vredenburg. Zeitraffer, die die Kreuzung aus der Vogelperspektive zeigen, gehen regelmäßig in den sozialen Netzwerken viral. Hier ist der Rückstau der wartenden Fahrräder bisweilen so lang, dass es nicht alle über die Grünphase schaffen. Für die Utrechter Verkehrsplaner:innen ein großes Ärgernis, soll der Radverkehr doch seinen Titel als schnellstes Verkehrsmittel der Stadt beibehalten. Um dieses Problem zu lindern, installierte die Stadt smarte Ampeln, die nach Bedarf die Länge der Grünphasen anpassen,
Ich überquere die Kreuzungen in der ruhigen Mittagszeit noch bei einer Grünphase, in der späteren Rushhour wird es schon enger. Doch erst mal begebe ich mich ins Zentrum der Stadt. Sofort erwartet mich ein Netzwerk von Kanälen und zahlreichen Brücken. Die Utrechter Grachten sind das Wahrzeichen des historischen Stadtkerns. Sie beleben und beruhigen das Zentrum und geben der Stadt ihr liebliches Antlitz. Es sind kaum Autos unterwegs, obwohl sie offiziell nur auf wenigen Straßen verboten sind. Ein Grund dafür ist der Mangel an Parkplätzen: Sie wurden in den 1970er-Jahren stückweise abgeschafft und in umliegende Parkhäuser verwiesen. Utrecht hat verstanden, dass ein Auto nur so gut ist wie der Parkplatz, den man ihm bereitstellt.
Fast autofrei ist es in der Innenstadt herrlich still. Ich höre Menschen statt Motoren, Klingeln statt Hupen und surrende Räder statt quietschender Reifen. Von der Verödung, vor der in Deutschland regelmäßig bei Abwesenheit von Autos gewarnt wird, spürt man nichts. Hier lädt der öffentliche Raum zum Aufhalten ein, nicht zum schnellen Durchfahren.

Die Radwege enden nicht am Ortsschild
Während ich gemächlich durch die Gassen fahre, fällt es mir schwer zu glauben, dass dieses Idyll einst bedroht war. Zwar entkam die Stadt im Gegensatz zu Rotterdam knapp der Zerstörung durch die Nazis, doch nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ära des Automobils, welche sich bereits vor den Kriegsjahren angedeutet hatte, nun nicht mehr aufzuhalten. Weder Politiker:innen noch Stadtplaner:innen wollten diesem »Fortschritt« im Weg stehen.
1958 beauftragte die Stadtregierung den deutschen Verkehrsplaner Max Feuchtinger, um die Stadt an das motorisierte Zeitalter anzupassen. Feuchtinger schlug vor, den Ringkanal trockenzulegen und daraus eine Ringstraße zu machen. Seine Pläne zogen die Wut der Bevölkerung auf sich. Sie wehrten sich mit Erfolg: 3/4 des Kanals wurden gerettet, die Ringstraße abgespeckt. Auch andere Pläne, das mittelalterliche Zentrum nach Vorbild des zerstörten Rotterdams autogerecht zu gestalten, wurden verhindert. Heute ist die Stadt dabei, Fehler der autozentrierten Verkehrsplanung von damals zu korrigieren. So wurde der einstige Stadttunnel stillgelegt und renaturiert.
Nachdem ich einige Stunden in Utrechts Innenstadt verbracht habe, möchte ich wissen, ob die Fahrradstadt auch außerhalb des Zentrums spürbar ist. In vielen deutschen Städten herrscht das Phänomen, dass Radwege quasi mit dem Ortsschild enden. Dahinter ist man als Radfahrer:in auf sich allein gestellt. Hier ist das Gegenteil der Fall: Die Qualität der Radwege scheint sich mit jedem Kilometer, den ich mich von der Stadt entferne, sogar zu verbessern. Utrecht hat viel Geld in sogenannte Radschnellwege investiert, die die Außenbezirke bequem mit dem Zentrum verbinden. Damit will die Stadt Pendler:innen und Studierenden die Möglichkeit geben, auch ohne Auto zur Arbeit oder zur Uni zu gelangen.
Anschließend verlasse ich Utrecht und fahre übers Land zurück nach Amsterdam. Auch hier muss man nicht auf sichere Radwege verzichten. An Weiden und Wiesen vorbei, auf rot glänzenden Radwegen, verarbeite ich die Eindrücke, die mir Utrecht geschenkt hat.
Mein Besuch in Utrecht hat mir die Hoffnung gegeben, dass Wandel möglich ist. Dass Mobilität auch jenseits von Autos funktioniert und von den Menschen gerne angenommen wird. Die Stadt zeigt, wie bereitwillig sich Menschen für eine aktive und klimafreundliche Mobilität entscheiden, wenn man ihnen die Voraussetzungen dafür bietet. Das Ideal, eine Radinfrastruktur für »all ages« und »all wages« zu bauen, ist hier gelungen. Ob jung oder alt, reich oder arm: In Utrecht ist Radfahren nicht von Alter oder Geldbeutel abhängig, sondern allein von der rationalen Abwägung, welches Verkehrsmittel mich am besten zum Ziel bringt.
All die Debatten, die wir in Deutschland führen, über Autos, die Breite der Radwege und das Festhalten an einzelnen Parkplätzen, erscheinen in Utrecht absolut unwirklich. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch hier bald mutige Politiker:innen finden, die Menschen ins Zentrum ihrer Planung stellen und nicht Autos. Und wer immer noch zweifelt: Kommt nach Utrecht und schaut es euch an. Ihr werdet danach anders denken. Versprochen.
Titelbild: Ingwar Perowanowitsch - copyright