Mit einer Kühlbox kämpft Norah gegen einen tödlichen Feind
In Kenia sterben jedes Jahr mehr als 64.000 Kinder, weil Impfstoffe zu warm werden und verderben. Die Ingenieurin Norah Magero (34) will das ändern. Mit ihrem tragbaren Solar-Kühlschrank bringt sie Hoffnung in entlegene Dörfer ohne Strom – und rettet Leben.
Ein totes Zebra liegt am Straßenrand. Petroleum-Lastwagen schießen vorbei. Busse hüllen uns in giftige, schwarze Wolken. Wir werden eingekeilt und vom Asphalt gedrängt. Es riecht nach verbranntem Gummi. Die Autobahn 190 von Nairobi runter nach Mombasa ist nichts für schwache Nerven.
Wir stoppen in Makindu, eine Gemeinde etwa 180 Kilometer südöstlich von Kenias Hauptstadt Nairobi, und treffen Norah Magero. Über ihren runden Bauch wölbt sich ein Kleid mit roten und gelben Blumen. Die 34-Jährige bekommt bald ihr zweites Kind. »Diesmal einen Sohn.« Ihre Augen strahlen.
Norah Magero bringt Afrika Hoffnung – und rettet Leben
Norah Magero ist eine Wissenschaftlerin, die Afrika Hoffnung bringt. Sie kämpft gegen einen unheimlichen Feind, der laut Unicef allein in Kenia jedes Jahr 64.500 Kinder unter 5 Jahren tötet. In ganz Afrika sollen es Hunderttausende sein. Sie sterben an »vermeidbaren Krankheiten« wie Lungenentzündung, Durchfall, Gelbfieber.
Viele könnten noch leben, wenn man sie geimpft hätte.
Das Problem sind nicht die fehlenden Impfstoffe. Das Problem sind verdorbene Impfstoffe.
Vakzine müssen durchgehend gekühlt werden, was in einem dürregeplagten und rückständigen Land wie Kenia schwierig ist. Viele ländliche Regionen sind nicht an die Stromversorgung angeschlossen, das Netz ist nicht stabil. Auch in Krankenhäusern fällt häufig der Strom aus, was dazu führt, dass Impfstoffe zu warm werden und verderben.
Norah Magero hat das selbst leidvoll erfahren. 2018 kam ihre Tochter Isabel zur Welt. Sie wollte sie gegen Krankheiten wie Tuberkulose, Diphterie und Keuchhusten impfen lassen. »Wir wurden im Krankenhaus sehr oft abgewiesen, weil die Impfstoffe schlecht geworden waren«, erzählt sie. Erst nach vielen vergeblichen Anläufen hatte die Mutter Glück.
»Nach den Erfahrungen mit meiner Tochter beschloss ich, etwas zu entwickeln, um das Problem der verdorbenen Impfstoffe zu lösen. Und zwar für alle Frauen in ländlichen Gemeinden«, blickt Norah Magero zurück.
Impfstoffe für Tochter zu warm – Mutter suchte Lösung
Ein kühner Plan, selbst für eine gut ausgebildete Frau wie sie. Norah Magero hat an der Universität Nairobi Maschinenbau und Fertigungstechnik studiert und sich mit Energiemanagement befasst – als eine von 9 Frauen unter 100 Studierenden. Ihr Vorbild: Tesla-Chef Elon Musk. »Er macht das Unmögliche möglich«, sagt die Ingenieurin.
5 Jahre später, im Februar 2023, steht Norah Magero auf einem Schotterweg in Makindu. 15.000 Einwohner, viel Wellblech, Staub, Lärm, in den Hütten der Händler frische Mangos und Ananas. Ein paar Hotels, Tankstellen, ein Sikh-Tempel und der Fußballclub »Makindu United«, wo die jungen Spieler vom FC Bayern und Real Madrid träumen.
Norah Magero geht in einen weißgetünchten Flachbau, der auf dem Gelände eines Krankenhauses steht. An der Fassade ein Firmenschild: »Drop Access«. Das Unternehmen hat sie gemeinsam mit ihrem Mann James gegründet. Es ist die Keimzelle des Fortschritts.
»Das sind unsere ›Vacci-Boxen‹«, sagt Norah Magero stolz und deutet auf ein paar chromglänzende Kisten. Auf den Deckeln die Botschaft »Delivering Hope«, was so viel heißt wie »Hoffnung bringen«.
Die »Vacci-Boxen« sind solarbetriebene Mini-Kühlschränke, mit denen man Impfstoffe in entlegene Regionen transportieren kann, auf dem Fahrrad, auf dem Motorrad. Ein Tracking-System überwacht die Temperatur in der Box, die immer zwischen 2 und 8 Grad Celsius liegen sollte. Gibt es ein technisches Problem, kann es meist aus der Ferne behoben werden.
Die Idee: Tragbare, solarbetriebene Mini-Kühlschränke
In dem weißen Flachbau in Makindu werden die Kisten hergestellt. In einem Raum, der kaum größer ist als ein deutsches Wohnzimmer, sitzt Mitarbeiter Samuel auf einer klobigen Solarbatterie. Konzentriert wie ein Arzt bei der Operation, schaut der 25-Jährige in den Körper der Metallkiste, die auf einem Plastikstuhls steht.
Behutsam setzt Samuel die Teile ein: 4 12-Volt-Batterien, Kompressor, Messeinheiten, Thermostat, Kontrollinstrumente, das Display für die Temperaturanzeige. Er schraubt, verkabelt, spritzt Silikon, lötet, bohrt, klebt, klemmt. Eine Taschenlampe braucht der Monteur nicht. Durch die Lamellen der Jalousie schießt grelles Licht in den Raum.
Sein Kollege Fredrick, 37 Jahre alt, mintgrünes T-Shirt mit aufgedruckter Grinch-Figur, nutzt die Kraft der Sonne unterdessen zum Aufladen bereits verbauter Batterien. Er hat vor dem Haus 2 mannshohe Solarplatten aufgestellt, Kabel durch das geöffnete Fenster gezogen und an 2 »Vacci-Boxen« angeschlossen. Mit prüfendem Blick auf die Messgeräte verfolgt er, wie sich die Akkus füllen. »Es funktioniert«, sagt er zufrieden.
Box wird weiterentwickelt: Batterien sollen 72 Stunden halten
Anfangs haben die Batterien 9 Stunden gehalten, dann 10, jetzt 15. »Aber das reicht uns nicht«, sagt Norah Magero. Ihre Techniker arbeiten daran, die Speicherleistung zu erhöhen. So sollen bei der nächsten Generation der »Vacci-Box« die bisher verwendeten Lithium-Ionen-Batterien weitgehend durch Thermobatterien ersetzt werden. »Damit können wir eine Kühlung über 72 Stunden erreichen«, sagt Norah Magero.
Eine Box kostet 2.000 US-Dollar. Das ist viel Geld. Vor allem, wenn man bedenkt, dass man mobile Kühlzellen im Internet schon für ein paar Hundert Euro oder weniger bekommt. Doch der Vergleich hinkt.
»Unsere Kühlboxen werden in Afrika entwickelt und gebaut«, sagt Norah Magero selbstbewusst. »Sie sind viel robuster als diese Amazon-Kühlschränke, speziell für den Transport auf schlechten afrikanischen Wegen konzipiert und technisch viel komplexer als eine Camping-Kühltruhe.«
Um die »Vacci-Box« zuverlässiger und leistungsstärker zu machen, achten die Erfinder auf jedes Detail.
Norah Magero und ihr Mann steigen in ihren Toyota-Transporter und schaukeln über eine staubige Piste auf die Hauptstraße. Nach ein paar Kurven und Kreuzungen biegen sie ab und stoppen vor der Metallbauwerkstatt von Maitha.
Der 40-Jährige mit dem Logo der amerikanischen Basketball-Liga NBA auf dem T-Shirt hat das Design der »Vacci-Box« entworfen und stellt die Bleche für die Außenhülle des Kühlschranks mit einem Laserschneider her.
Heute geht es um die Räder. Norah und James waren mit den alten nicht zufrieden und haben bei einem neuen Anbieter bestellt. »Jetzt gibt es ein Problem«, sagt Norah Magero. »Sie lassen sich nicht auf die Achse der Box schieben. Das Loch in der Mitte ist zu klein.«
Maitha greift zum Messschieber und legt ihn an die Felge des Rads. Er könnte das bestehende Loch aufbohren und damit größer machen, doch dann wäre das Konstrukt vielleicht nicht mehr so stabil. »Er wird eine Lösung finden«, lacht Norah Magero. »Er findet immer eine Lösung.«
So optimistisch waren die Macher der »Vacci-Box« nicht immer. In den vergangenen 5 Jahren gab es auch Zweifel, sogar Rückzugsgedanken.
»Ich habe aus dem Nichts ein Team aufgebaut und einfach losgelegt«, erzählt Norah Magero. Mehr als einmal stand das junge Unternehmen, das auf Preisgelder bei Wettbewerben und Zuschüsse von Unterstützern angewiesen war, vor dem finanziellen Aus.
Hinzu kam die Skepsis bei Bekannten und Geschäftsleuten. »Einige machten sich über uns lustig und sagten, unser Design sei hässlich und vieles mehr. Sie glaubten nicht an uns.« Das alles habe sie verunsichert. »Ich war enttäuscht von mir selbst und dem ganzen Projekt.«
Norah Magero: »Am Ende sind wir wieder aufgestanden«
Praktische Probleme belasteten die Firma zusätzlich. Die zur Herstellung der »Vacci-Box« benötigten Werkstoffe waren schwer zu beschaffen und sehr teuer, Lieferungen oft unpünktlich. Lange fanden sich keine Partner, die Teile des Kühlschranks zu bezahlbaren Preisen produzieren wollten.
Die weltweite Covid-19-Pandemie bremste Norah Magero und ihr Team komplett aus. »Aber am Ende sind wir wieder aufgestanden.«
Es hat sich gelohnt. Im Juni 2022 wurde Norah Magero für ihre Solar-Kühlbox mit dem angesehenen »Afrika-Preis für technische Innovationen« ausgezeichnet – als erste Kenianerin und als zweite Frau überhaupt.
»Norah Magero verkörpert die Idee, dass ein Einzelner, der etwas Neues schafft, eine ganze Gemeinschaft verändern kann«, begründete die Jury die Entscheidung. Um den mit 27.000 Euro dotierten Preis hatten sich Dutzende Unternehmer aus 9 Ländern südlich der Sahara beworben.
Wir besuchen einen Mediziner, der seit August 2022 Impfstoffe mit der »Vacci-Box« ausfährt. Das öffentliche Krankenhaus, in dem er arbeitet, liegt etwa 3 Autostunden von Makindu entfernt, tief in der Savanne, wo das Nomadenvolk der Massai lebt.
Monatelang hat es hier nicht geregnet. Schirmakazien, die mit ihren ausladenden Kronen Schatten für Mensch und Tier spenden sollen, sind grau und kahl, als hätte sie jemand mit einem Flammenwerfer bearbeitet.
Mitten in der ausgemergelten Landschaft steht ein Flachbau mit rotem Wellblechdach, das »Kiloh Dispensary«. Ein paar Pritschen, einige Schachteln Medikamente im Regal, Holzbänke für Patienten. Wartende Frauen halten ihre Babys und Kleinkinder im Arm.
Victor Kiprotich arbeitet hier seit 2019. Statt eines Kittels trägt der 26-Jährige Jeans und Polohemd. Darüber eine gelbe Weste mit einer aufgedruckten Botschaft an alle Mütter: »Impfe und schütze Dein Kind jetzt!« In Brusthöhe schimmert das Emblem des kenianischen Gesundheitsministeriums.
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Die Regierung in Nairobi weiß, wie wichtig es ist, Kinder gegen Tuberkulose, Polio, Diphtherie, Keuchhusten, Tetanus, Gelbfieber, Malaria, Pneumokokken oder Rotaviren zu impfen. Jedes Kind, das an solchen vermeidbaren Krankheiten stirbt, ist eines zu viel.
Impftag in Savanne: Jedes sterbende Kind ist eines zu viel
Im »Kiloh Dispensary« ist heute Impftag. Nach und nach holt Doktor Kiprotich 16 Mütter mit ihren Kleinen ins Behandlungszimmer. Die Mädchen und Jungen werden gewogen und gemessen, der Arzt notiert die Werte.
Dann nimmt er eine Ampulle aus der Kühlbox und zieht eine Spritze auf. Die Nadel sticht ins Fleisch. Der kleine Arm zuckt. Ein spitzer Schrei, Tränen schießen in die Augen. Ein kurzer, intensiver Kampf gegen den Schmerz, dann ist alles vorbei.
»In unser Krankenhaus kommen viele Mütter mit ihren Kindern, die in der Gegend leben«, sagt Kiprotich. »Aber nicht alle schaffen es bis hierher, um sich kostenlos impfen zu lassen.«
Deshalb fährt der Arzt mit dem Motorrad zu ihnen, auf dem Gepäckträger eine »Vacci-Box« voller gekühlter Impfstoffe. Mindestens 4 Mal im Monat steuert er entlegene Dörfer im Umkreis von 15 Kilometern an. In den Hütten empfangen ihn die Schwächsten mit offenen Armen.
»Die ›Vacci-Box‹ wurde von der regionalen Gesundheitsbehörde angeschafft«, berichtet Kiprotich. Er wünscht sich, dass weitere Krankenhäuser damit ausgestattet werden. Denn die Box sei wichtig. »Sie rettet Leben.«
»Technische Innovationen wie der Solar-Kühlschrank tragen dazu bei, die Gesundheitsversorgung insbesondere in entlegenen Gebieten zu verbessern«, weiß auch Ninja Charbonneau, Sprecherin des Deutschen Komitees für Unicef.
Kühlbox für Impfstoffe hilft Afrika, aber auch Deutschland
Ein funktionierendes Gesundheitssystem wiederum könne helfen, »die Lebensverhältnisse der Menschen zu stabilisieren und ihnen Perspektiven in ihrer Heimat zu geben«.
Wenn die Menschen im Globalen Süden nicht fliehen müssen vor Armut, Hunger, Epidemien, Konflikten oder den Auswirkungen des Klimawandels, wenn sie hoffnungsvoller als bisher in die Zukunft blicken können, dann ist das auch gut für uns in Deutschland.
Norah Magero wird die Welt nicht retten können. Aber sie zeigt, wie sich Afrika selbst helfen kann. Die Tochter eines Zuckerindustrie-Managers und einer Universitätsdozentin, die mit 4 Geschwistern nahe des Victoriasees aufwuchs, hat unternehmerischen Mut.
Die Ostafrikanerin will ihre »Vacci-Boxen« auf dem gesamten Kontinent vertreiben. Sie will Jobs schaffen und ausbilden. »Ich träume von einer kompletten Produktionsstätte mit über 200 Mitarbeitern.«
»Vacci-Box«-Erfinderin Magero spürt große Verantwortung
Bislang haben sie und ihr Team, zu dem 5 Mitarbeiter, 2 Praktikanten, 2 Berater sowie 5 Vertragspartner gehören, 23 Impfstoff-Kühlschränke an kenianische Krankenhäuser verkauft. Umsatz: 46.000 US-Dollar. Ein bescheidener Anfang. Doch die Auftragsbücher füllen sich. Derzeit liegen 100 Bestellungen aus mehreren afrikanischen Ländern vor.
Norah Magero sagt, sie sei »sehr stolz« auf das, was sie erreicht habe. Aber ihre Augen verraten: Da ist noch etwas anderes.
»Manchmal habe ich Angst.«
»Manchmal weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll – als Gründerin, Unternehmerin, Ehefrau und Mutter.«
Dieser Text wurde von Zeitenspiegel Reportagen und BurdaForward produziert, gefördert vom European Journalism Center im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Die Förderung wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
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Titelbild: Frauke Berger | Vorlage: Alissa Everett - copyright