Warum du nicht frei entscheidest, diesen Text zu lesen
Ist unser lieb gewonnenes Gefühl, frei entscheiden zu können, schlichtweg falsch? Wenn ja, wer ist dann für unsere Taten verantwortlich?
11:48 Uhr. Ein heißer Sommertag. Der junge Mann steht ca. 70 Meter über der Erde auf der Aussichtsplattform der Universität Texas und schießt. Die Kugel tötet einen ungeborenen Säugling im Bauch seiner Mutter. Das nächste Opfer ist der Vater des Babys, der sich schützend über seine Freundin beugt.
Was motiviert eine solche wahnsinnige Tat? Die Schlussfolgerung liegt nahe: Charles Whitman ist entweder geisteskrank, ein bösartiger Mensch – oder beides. Als die Polizei sein Haus durchsucht, findet sie
Ich verstehe mich in letzter Zeit selbst nicht mehr. Ich sollte ein durchschnittlich vernünftiger und intelligenter junger Mann sein. Doch seit einiger Zeit (ich kann mich nicht erinnern, wann es begann) bin ich Opfer zahlreicher ungewöhnlicher und irrationaler Gedanken. Diese Gedanken kommen ständig wieder, und es benötigt einen ungeheuren mentalen Aufwand, um sich auf sinnvolle und zielführende Aufgaben zu konzentrieren. […] Ich wünsche mir, dass nach meinem Tod eine Autopsie vorgenommen wird, um zu überprüfen, ob es eine sichtbare körperliche Störung gibt.
Einen Tag nachdem der Polizist Ramiro Martinez die Schießerei mit einem tödlichen Schuss beendet hatte, erfolgte die Autopsie von Charles Whitmans Gehirn. Dabei finden die Ärzte einen kleinen Tumor. Dieser hat sehr
Der Fund wirft die Frage auf: Ist Charles Whitman verantwortlich für seine Taten? Hat er aus freien Stücken gehandelt? Oder ist der kleine, bösartige Zellklumpen in seinem Kopf für sein Verhalten verantwortlich?
Ist dein Wille »frei«?
Unser Alltagsverständnis sagt uns, dass wir weitestgehend selbst entscheiden, was wir tun. Wenn wir nicht gerade an einer psychischen Krankheit leiden oder unter vorgehaltener Pistole zu einer Handlung gezwungen werden. Mit anderen Worten: Wir haben einen Willen und der ist frei. Auf dieser Annahme fußen unsere Vorstellungen von Gut und Böse und damit auch
Es tut mir aufrichtig leid, dass dies der einzige Weg ist, um ihr Leiden zu beenden. Aber ich denke, dass es das beste war. […] Falls es einen Gott gibt, lass ihn meine Taten verstehen und entsprechend über mich richten.
Was aber meinen wir genau, wenn wir vom »freien Willen« sprechen? Wenn wir in der Eisdiele zwischen Schokolade und Banane entscheiden,
Diese einfache Vorstellung, dass zumindest einige menschliche Handlungen »frei« sind, führt uns jedoch schnell in eine Sackgasse.
Position 1: Ja, der Wille ist frei!
An der Theke angekommen, wählen wir Schokoeis, ganz einfach, weil wir daran gedacht haben. Nichts und niemand hat unsere Wahl verursacht, außer uns selbst. Diese Annahme – die in der Philosophie des Geistes als Libertarismus bezeichnet wird – widerspricht jedoch allem, was wir über die Physik wissen. Eine Sache wird immer durch eine andere verursacht, das altbekannte Prinzip von Ursache und Wirkung.
Vertreter des Libertarismus bringen beides unter einen Hut, indem sie zwischen Ereignissen und Handelnden unterscheiden. Sie erkennen also einerseits an, dass physikalische Ereignisse immer durch vorherige physikalische Ereignisse bedingt sind – so wie die Eiskugel, die auf dem Boden landet, weil sie aus der Kelle gefallen ist. Handelnde sind allerdings dennoch in der Lage, eine Kausalkette zu starten, die durch nichts anderes zuvor bedingt wurde. So haben sie die Möglichkeit, das Universum zu beeinflussen – sie können Dinge selbst ermöglichen.
Ganz so einfach lässt sich der freie Wille jedoch nicht verteidigen. Denn schließlich steht die Frage im Raum, woher diese neuen, freien Entscheidungen der Handelnden kommen: Sind sie zufällig? Was bringt einen Handelnden dann dazu, eine bestimmte Option statt einer anderen zu wählen?
Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschieden, meine Frau, Kathy, zu töten, heute Abend nachdem ich sie von der Arbeit beim Telefonunternehmen abgeholt habe. Ich liebe sie innig, und sie ist mir eine so feine Ehefrau gewesen, wie es sich ein jeder Mann nur wünschen kann.
Charles Whitman hat also
Ein Gefühl allein reicht jedoch nicht für ein überzeugendes Argument –
Position 2: Alles hat eine Ursache!
Das erste Mal erschüttert wurde die Wunschvorstellung vom freien Willen durch die mittlerweile weltberühmten Experimente des amerikanischen Neurowissenschaftlers
Genau diese Aufgabe gab Benjamin Libet seinen Versuchsteilnehmern, während er gleichzeitig ihre Gehirnströme per
»Der Mensch hat keinen absoluten, oder freien, Willen. Seine Handlungen sind durch Ursachen bedingt, die wiederum durch Ursachen bedingt sind, […] bis ins Unendliche.« – Baruch Spinoza, Philosoph (1632–1677)
Basierend auf dem Konzept von Ursache und Wirkung vertreten die sogenannten Deterministen eine dem Libertarismus entgegengesetzte Position.
Stattdessen sorgen unsere Wünsche, Überzeugungen und Stimmungen für eine bestimmte Handlung. Weil wir Bananeneis nicht so lecker finden, fällt die Wahl leicht. Im Determinismus sind unsere Entscheidungen einfach die unvermeidlichen Ergebnisse einer Reihe mentaler Vorgänge, die sich in einer ganz bestimmten Reihenfolge miteinander verbinden und
Ist die Idee eines freien Willens also reif für den Mülleimer?
Unangenehme Fragen
»Der Mensch kann tun, was er will; er kann aber nicht wollen, was er will.« – Arthur Schopenhauer, Philosoph (1788–1860)
Du könntest besonders clever sein und jemand anderen für dich zwischen Schoko und Banane entscheiden lassen. Oder noch besser, eine Münze werfen!
So einfach ist die Rettung des freien Willens nicht: Deine Entscheidung, jemand anderen oder die Münze wählen zu lassen, wäre ebenso bedingt (durch deine mentalen Zustände) wie alles andere auch. Solltest du jetzt einen Anflug von Ärger verspüren, weil wir schreiben, dass keine deiner Entscheidungen frei ist, wäre auch dieses Gefühl bedingt. Du bist verwirrt oder gar gelangweilt von der Debatte? Auch dafür gibt es eine unweigerliche Erklärung. Selbst wenn du dich jetzt entscheidest, diesen Artikel nicht weiterzulesen, wäre das bereits bestimmt. Deterministen gehen davon aus, dass wir nicht selbst bestimmen können, bestimmte Dinge zu fühlen und auf bestimmte Weise zu reagieren. Es lohnt sich jedoch auch nicht, sich Sorgen darüber zu machen, ob die Welt determiniert ist oder nicht, denn – egal wie sehr wir es uns wünschen –
Die Ärzte schlussfolgerten, dass der Tumor, den sie während der Autopsie im Gehirn von Charles Whitman fanden, sehr wahrscheinlich entscheidend dafür war, dass der junge Mann seine gewalttätigen Fantasien in die Realität umsetzte. Damit steht die Frage im Raum: Inwieweit ist er als Person selbst schuldig? Und wo ziehen wir dann die Grenze bei der Frage nach Verantwortung, Schuld und Unschuld? Charles Whitmans Gehirntumor ist
Denn neue Erkenntnisse aus der Psychologie und den Neurowissenschaften zeigen uns nicht nur, dass
Wenn unser vollständiges Verhalten durch Umgebung und Biologie verursacht wird – nicht zwangsläufig durch einen Tumor, sondern durch gefährliches Gedankengut unserer Eltern, Kriegserfahrungen oder bestimmte Gene, die uns aggressiver machen – finden wir dann nicht in jedem von uns eine »Art Tumor«?
Um die Frage nach der Verantwortung klären zu können, brauchen wir eine andere Debatte …
Wer ist denn nun verantwortlich?
Nehmen wir an, Charles Whitman wäre festgenommen und nicht erschossen worden. Wäre dann der Tumor als Ursache für sein Verhalten bestätigt und dieser nicht entfernt worden, hätte der junge Mann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Kontrolle über sein Leben zurückgewonnen.
Dieser massive, muskuläre Jüngling schien vor Feindlichkeit zu triefen, als er unser Gespräch mit der Aussage begann, dass etwas mit ihm passierte und dass er nicht er selbst zu sein schien. […] Wiederholte Versuche, seine genauen Erfahrungen zu analysieren, waren nicht sehr erfolgreich, mit Ausnahme seiner lebhaften Referenz sich »vorzustellen, den Turm mit einem Jagdgewehr zu besteigen und zu beginnen, Menschen zu erschießen.
Wenn wir das Gefühl »sich frei fühlen« gleichsetzen mit »Kontrolle haben«, sieht die Frage nach der Verantwortung schon weniger undurchsichtig aus. Auch wenn wir keine Kontrolle darüber haben, ob wir niesen müssen, können wir kontrollieren, ob wir unseren Naseninhalt auf dem Mittagessen des Sitznachbarn verteilen. Auch wenn wir im angeheiterten Zustand weniger Kontrolle über unser Handeln haben, können wir in den meisten Fällen kontrollieren, ob wir (viel) Alkohol trinken oder nicht. Wir können Kontrolle sogar erlernen: Während wir als Kleinkinder unsere Blase nicht kontrollieren können, lernen wir schnell, es nicht immer und überall laufen zu lassen.
Das Schöne an
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Kritischen Denken!
Mit Illustrationen von Robin Schüttert für Perspective Daily