Zynismus ist keine Lösung! Ein Text gegen Verbitterung in Krisenzeiten
Inflation, Krieg, KI-Arbeitslosigkeit? Die Sorgen von heute und morgen scheinen erdrückend. Dabei geht es auch anders.
Schaust du optimistisch in die Zukunft?
Falls du jetzt nicht aus voller Überzeugung »Ja« antwortest, ist das ganz normal.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine scheint kein Ende zu finden, die hohen Energiepreise lassen
»Krise« – »Super-GAU« – »dramatische Folgen« finden sich erschreckend häufig in den Schlagzeilen. Klar, Krisen und Katastrophenmeldungen klicken sich gut und füllen auch deshalb die
Und tatsächlich: Einem Großteil der Menschen hierzulande ist angst und bange, wenn sie an die Zukunft denken. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von Ende 2022 schaut mehr als die Hälfte (51%) der Befragten mit »großen Befürchtungen« auf die kommenden Monate,
Wer dann nicht aufpasst, landet schnell bei einer Weltsicht, über die ich bereits vor 7 Jahren in meinem ersten Text für Perspective Daily geschrieben habe: dem Zynismus. Damals wie heute gilt: Zynismus ist eine Sackgasse –
So gehen wir ihm nicht auf den Leim und finden den Weg in eine bessere Zukunft.
Das schädliche »Ach, es wird eh alles immer schlimmer«-Gefühl
Mit Askese und Bedürfnislosigkeit hat der Zynismus von heute aber nichts mehr zu tun – auch wenn manche modernen Zyniker ihre Ansichten gern mit antiken Lehren zu rechtfertigen versuchen. Die antiken Kyniker würden über »Kopf in den Sand«-Gefühle wohl nur spöttisch die Nase rümpfen.
Was wir unter »Zynismus« verstehen
Der Duden definiert zynisch als »eine gefühllose, mitleidlose, menschenverachtende Haltung, […] die besonders in bestimmten Angelegenheiten, Situationen als konträr, paradox und als jemandes Gefühle verachtend und verletzend empfunden wird«.
Wenn wir heute über Zynismus reden, dann über das, was die moderne Psychologie als »destruktiv-skeptische
Dahinter steht auch keine Ideologie oder Lehre. Eine zynische Weltsicht schert sich nicht um andere Menschen, sondern nur um sich selbst. Der Sinn dahinter ist die bizarre Idee eines persönlichen, mentalen »Schutzwalls« durch eingeübte emotionale Distanz. Anders gesagt: Wer nichts und niemanden an sich heranlässt, sich für nichts einsetzt, keine Hoffnungen hegt und alles spöttisch abtut und ablehnt, wird auch nie mehr enttäuscht.
Zynische Menschen erwarten überall und jederzeit Lügen, Betrug und stets das Schlechteste. Die Menschheit sei eben so, man sei nur Realist. Die Erwartung einer schlechten Zukunft ist dann nur eine logische Konsequenz. Verschlimmert sich die Lage, ist das sogar gut für Vollblut-Zyniker:innen – denn dann bestätigt sich die eigene schwarzmalerische Weltsicht.
Das darf man alles durchaus als naiv bezeichnen.
Wo sich Zynismus grundlegend irrt und scheitert
Ja, es sind Menschen, die Kriege führen, Massenvernichtungswaffen bauen, Hilfesuchende im Mittelmeer ertrinken lassen und auf Grundnahrungsmittel spekulieren. Das sind Fakten. Doch die Welt wird nicht nur immer schlechter. Das ist auch ein Fakt.
Auf der Website OurWorldInData sammelt der Ökonom Max Roser Daten und Zahlen aus der ganzen Welt. So lässt sich etwa nachlesen, dass noch vor dem 19. Jahrhundert 50% aller weltweit geborenen Kinder die Pubertät nicht erreichten. 2023 liegt die Überlebensrate bei 95%. Die Gründe sind verbesserte Hygiene- und Lebensstandards, bessere Sozialpolitik und
Der Mensch ist nicht nur schlecht. Menschen sind im Kern soziale Wesen mit Empathie.
Und haben wir nicht gerade erst gemeinsam eine globale Pandemie durchlebt? Nein, es war sicher nicht alles gut und einiges ist aufzuarbeiten, aber dennoch hat ein Großteil unserer Gesellschaft gezeigt, dass ihr der Schutz von vulnerablen Menschen so wichtig ist, unbequeme Masken zu tragen, Gewohnheiten zu ändern (Hygiene!) und auf manche Freiheiten zu verzichten. Der Historiker Rutger Bregmann hat sogar ein ganzes Buch über das

Nein, das »Ach, es wird eh alles immer schlimmer«-Gefühl bringt uns nicht weiter. Für den Einzelnen ist es potenziell schädlich, für eine Gesellschaft wird es schnell destruktiv.
So schädlich ist Zynismus für dich
Studien zeigen, dass eine solche Geisteshaltung negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben kann: Zynismus zählt zu den Symptomen von Burn-out und gilt damit als Vorstufe zur Depression. Eine US-amerikanische Studie mit mehr als 100.000 Frauen aus dem Jahr 2009 stellte sogar einen Zusammenhang zwischen zynischer Lebenseinstellung und koronaren Herzerkrankungen (und somit einer erhöhten Sterblichkeit) fest. Auch für die Karriere ist Zynismus schädlich: Zyniker verpassen häufiger »wertvolle Gelegenheiten zur Kooperation« und haben im Schnitt niedrigere Einkommen.
Es gibt viele Menschen, die alles für eine bessere Zukunft geben
Just als ich diesen Text im Homeoffice schreibe, klingelt es an der Tür und reißt mich aus meinen Textgedanken. Es ist ein junger Mann – vielleicht 23 – mit blauem UNICEF-T-Shirt, der mir eine kleine Essenspackung vor die Nase hält. Darin befindet sich »Plumpy Nut«-Erdnusspaste für
Ich kann doch nicht die ganze Welt retten …
Ja, der Hunger ist auch im 21. Jahrhundert noch immer nicht besiegt,
Es ist nur ein Projekt von vielen da draußen, die alle eines gemeinsam haben: Sie bauen auf Spenden und vor allem den Schultern von eifrigen Helfer:innen auf, die sich eben nicht mit Zynismus betäuben und abwenden, sondern für eine bessere Welt kämpfen – mit ihrer Zeit und ihrer Kraft und minimaler Aufwandsentschädigung.
Paul W. könnte jeder von uns sein – nur mit Zynismus klappt das nicht. Ob er sich auch manchmal Zukunftssorgen hingebe, frage ich ihn.
Auf jeden Fall. Ich habe auch Zukunftssorgen. Aber ich habe gelernt, dass nicht mehr so nah an mich heranzulassen. Ich habe persönlich auch viele Schicksalsschläge erleiden müssen. Doch dadurch geht mir das, was auf der Welt falsch läuft, näher. Ich finde das Projekt wirklich gut und glaube, dass es Potenzial hat, die Welt ein Stückchen besser zu machen.
Wir müssen wieder lernen, uns gemeinsam eine positive Zukunft auszumalen
»Das Reden über Probleme schafft Probleme, das Reden über Lösungen schafft Lösungen.« Dieses weitverbreitete Zitat des US-amerikanischen Therapeuten und Autors Steve de Shazer war zwar nicht auf
Genau hier liegt das Problem. Denn obgleich einzelne Menschen und Organisationen unermüdlich an einer besseren Zukunft arbeiten, haben wir als Gesellschaft irgendwie aufgehört, uns ein besseres Morgen auszumalen. Große gesellschaftliche Entwürfe werden in der Politik kaum diskutiert.
Auch ein schneller Blick in die Literatur bestätigt, dass wir uns vor allem auf Negatives konzentrieren und dass das kein rein deutsches Problem ist. Literaturkritiker Doğuş Sarpkaya stellt in einer Zusammenschau der (türkischen) Science-Fiction des 21. Jahrhunderts fest:
Dabei sind die Impulse da, wenn man genauer hinschaut. Hier einige Beispiele:
Zukunftsbilder zum Lesen
Zukunftsbilder öffnen einen hoffnungsvollen Denkraum, der auch Konstruktivem Journalismus nahe ist: Eine Welt, wie sie sein könnte, wenn wir uns um Lösungen kümmern, anstatt wegzusehen. So etwa kann man es im gerade erst erschienenen Buch Zukunftsbilder 2045 von Ute Scheub, Stella Schaller, Lino Zeddies und Sebastian Vollmar lesen. Dort beschrieben sind Mikro-Zukunftsideen, sortiert in 16 Städte in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Mal geht es um eine bessere Nutzung von Wasserflächen, dann um gemeinsames Zusammenleben im öffentlichen Raum oder um die Abläufe einer Kreislaufwirtschaft. Ähnliche Überlegungen gibt es auch bei den Zukunftsbildern der Scientists for Future, die auf Basis wissenschaftlicher Überlegungen realistische, aber lebenswerte Zukunftsszenarien ausmalen.
- Wir können auch anders: In ihrem 2022 veröffentlichten Sachbuch beschreibt Nachhaltigkeitswissenschaftlerin und Politikökonomin Maja Göpel das, was im Angesicht der Klimakrise nötig wäre: die »Große Transformation«. Denn die Realität wird uns sowieso einholen; mit Treibhausgasprozessen lässt sich nicht verhandeln. Göpels Zukunft ist eine, die erst mal verunsichern kann, aber genauso viele Chancen bietet: Die Art, wie wir leben, wird sich in wenigen Jahrzehnten fundamental verändern – ob wir wollen oder nicht. Doch wer die Hintergründe durchdringt, kann sie mitgestalten. Und dabei ist vieles möglich! Nicht umsonst nennt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk Göpel eine »professionelle Mutmacherin«.
Mein Kollege Felix Austen hat mit Maja Göpel in ihrer Rolle als Leiterin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung (WBGU), der wichtigsten Umweltberatung der Bundesregierung, gesprochen.
- Feministische Spekulation: Sie heißen Ursula K. Le Guin, Octavia E. Butler oder Anja Kümmel. Die Vertreterinnen des sogenannten »spekulativen Feminismus« haben einen ganz eigenen Blick auf die Welt und Zukunft. Sie denken in ihren Romanen nicht einfach nur die Gegenwart weiter, sondern suchen kreativ danach, wie es anders geht. Dabei setzen sie sich oft mit Systemen (der Männer) auseinander, die unterdrücken und ausbeuten, in Klassen einteilen und uns von der Natur entfremden. Und sie verstehen sich souverän in der Rolle, die der klassischen Science-Fiction stets zugeschrieben wird: als politische Werke auf der Suche nach einer besseren – in ihrer Perspektive sozialeren und gerechteren – Welt.
Lena Bäunker hat sich für Perspective Daily die Werke des spekulativen Feminismus genauer angeschaut.

- Utopia 2048: Lino Zeddies ist eigentlich Ökonom. Heute beschäftigt er sich als Coach hauptberuflich mit dem Entwickeln von inspirierenden Zukunftsvisionen. Er bringt anderen bei, was zu viele als Erwachsene vergessen haben oder sich nicht mehr trauen: Utopien zu denken, also sich eine erstrebenswerte Welt auszumalen und zu hoffen. Denn das bedeutet immer auch, sich verletzlich zu fühlen und etwas Inneres preiszugeben. Er ist davon überzeugt, dass nur so »Realutopien« entstehen: kleinere, hoffnungsvolle Projekte und Ansätze, die er für sein Buch »Utopia 2048« zusammengetragen hat.
Meine Kollegin Désiree Schneider hat mit Lino Zeddies gesprochen, eine eigene Utopie geschrieben und 4 Tipps zum utopischen Denken zusammengetragen:
Was alle diese Impulse gemein haben, ist etwas, was auch die Lehre der antiken Kyniker ausgemacht hat: Die schleichende Erkenntnis, dass das aktuelle Gesellschaftssystem mit seinen Hierarchien, Gewohnheiten und Konventionen viele Menschen nicht glücklich macht und dass es eine Alternative geben muss – auch wenn diese erfordert, alles auf den Kopf zu stellen, was unsere Gesellschaft ausmacht.
Titelbild: Midjourney | Doğu Kaya - copyright