LK-99 – Was die Sensations-Nachrichten aus der Wissenschaft wirklich bedeuten
Nachrichten weltweit berichten von einem Durchbruch und einer wissenschaftlichen Sensation: ein neues Material, das die Welt verändern könnte. Was das bedeutet und was wir bereits darüber wissen, erfährst du in diesem Text.
Es passiert sehr selten, dass die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft so aufgeregt ist wie dieser Tage. Kein Wunder, denn was ein koreanisches Forschungsteam vor rund 2 Wochen verkündet hat, könnte einer der größten technischen Durchbrüche unserer Zeit sein.
»Die Physik steht möglicherweise an der Schwelle einer Revolution«, schreibt etwa das Universitätsmagazin
Das neue Material heißt LK-99 und soll der erste Supraleiter sein, der bei Raumtemperatur und Normaldruck funktioniert (englisch: room-temperature superconductor) und damit Elektrizität nahezu ohne Verlust und Wärmeentwicklung leiten kann. Eine solche Erfindung könnte unsere Welt genauso stark prägen wie die Erfindung des Transistors im Jahr 1948 – also das klitzekleine Bauteil, das Computer, Smartphones und Internet erst möglich machte. Mit dem neuen Material würde die Welt mit einem Schlag einen Sprung bei Technologien machen, die heute noch teilweise Science-Fiction sind – von Quantencomputern über Kernfusion bis zu Magnetschwebetechnik. Für die Forschenden gäbe es mit Sicherheit den Physik-Nobelpreis und ewigen Ruhm in den Geschichtsbüchern. Und du, liebe:r Leser:in, würdest einen Meilenstein der Menschheitsgeschichte miterleben, dessen volle Auswirkungen wir nur erahnen können.
Das alles würde wahrscheinlich so eintreten … FALLS sich der verkündete Durchbruch bewahrheitet.
Denn es mehren sich berechtigte Zweifel. Und wenn so viel auf dem Spiel steht, ist erst einmal viel Skepsis angesagt. Ist LK-99 also eine bahnbrechende Entdeckung oder nur ein Sommermärchen und eine gewaltige Mogelpackung? Es wäre nicht die erste auf diesem Gebiet. Und wie können wir in solchen Momenten überhaupt wissen, was wahr und was falsch ist?
Was wollen die Forschenden in Korea nun entdeckt haben?
Zahllose Wissenschaftler:innen
Das ist doch Wissenschaft! Warum gibt es da jetzt Zweifel?
Mehrere Aspekte an der LK-99-Entdeckung sind allerdings auffällig und entsprechen nicht dem normalen Gang der Wissenschaft. Da wäre etwa die Tatsache, dass es sich bei den Veröffentlichungen nicht um tatsächliche Studien in einem international renommierten Magazin wie Science oder Nature handelt, sondern um Manuskripte. Diese haben keine in der Wissenschaft sonst übliche Qualitätsprüfung durchlaufen. Denn beim internationalen Forschungsserver arXiv ist das nicht nötig – da geht es lediglich um eine »Vorschau«. Nun könnte man das noch als Enthusiasmus erklären, möglichst schnell andere Forschungsteams an der »Jahrhundert-Entdeckung« teilhaben zu lassen – und sich die Lorbeeren dafür zu reservieren.
Doch wer sich die Veröffentlichung genauer anschaut, findet weitere Unstimmigkeiten. Der Hauptautor der Arbeit, Lee Sukbae, beschuldigte einen Co-Autor, Kwon Young-Wan von der bekannten Korea University Graduate School of Converging Science and Technology, die Manuskripte ohne sein Einverständnis hochgeladen zu haben.
Noch merkwürdiger wird es aber, wenn man sich die Person Lee Sukbae ansieht. Das US-Magazin Bloomberg machte sich auf die Suche nach dem Quantum Energy Research Centre, bei dem Lee an Quantencomputern arbeitet. Die Journalist:innen fanden aber nur ein geschlossenes Büro in einem
Internationale Forschungsteams konnten mittlerweile LK-99 selbst herstellen, aber keine Supraleit-Eigenschaft finden.
Das alles sollte zu äußerster Vorsicht mahnen und mindestens daran erinnern, dass Wissenschaftler:innen keine Götter mit Laborkittel sind, sondern fehlbare Menschen mit Eitelkeiten und Fehlern. Die Frage, die sich aufdrängt, ist diese: Sieht so ein Jahrhundertdurchbruch aus, mit einer so mangelhaften Kommunikation und Intransparenz? Anders gefragt: Warum sollte jemand seine Karriere mit eventuell falscher Forschung ruinieren?
Der koreanische Wissenschafts-Superstar, der seine Karriere mit gefälschten Studien ruinierte
Um die Jahrtausendwende war nicht Supraleitung das heißeste Thema der Wissenschaft, sondern Stammzellenforschung und Klonen. Ein koreanischer Wissenschaftler nutzte die Gunst der Stunde: Hwang Woo-suk, einer der berühmtesten Fälscher von wissenschaftlicher Forschung aller Zeiten.
Hwang, der ursprünglich Doktor der Tiermedizin war, gab 2004 bekannt, er habe menschliche Stammzellen aus einem geklonten Embryo entnommen. Was folgte, waren internationale Sensationsmeldungen einer eher unkritischen Presse, die an heutige Sensationsmeldungen über den Supraleiter erinnern. Das US-amerikanische Magazin Time kürte den von Hwang geklonten Hund »Snuppy« 2005 gar zur »erstaunlichsten Innovation des Jahres«. Hwang wurde in Korea in kürzester Zeit zum von der Politik umgarnten Superstar und Nationalhelden. Denn dort wollte man das Land als Wissenschaftsstandort etablieren und es vor allem mit den USA aufnehmen. Auf dem Höhepunkt des Hypes wurde Hwang deshalb zum ersten »obersten Wissenschaftler« ernannt, der als wissenschaftliche Arbeit 11 maßgeschneiderte Stammzellenlinien präsentierte und bahnbrechende
Das erste Verdachtsmoment an Hwangs »Forschung« ähnelt dem aktuellen Fall bei den Supraleitern: Vorabberichte, Behauptungen und Manuskripte einer sensationellen Entdeckung ohne wissenschaftliche Peer-Reviews, also die Bewertung einer wissenschaftlichen Arbeit durch unabhängige Gutachter:innen desselben Fachgebiets.
Doch später lieferte Hwang sogar eine Studie mit Peer-Reviews in der renommierten Zeitschrift Nature – die mittlerweile längst zurückgezogen ist. Auch die Fachmagazine können sich also irren. Und er ist nicht der einzige berühmte Fälscher, dem Nachrichten und Wissenschaftler:innen auf den Leim gingen.
- Der deutsche Physiker Jan Hendrik Schön arbeitete 2001 an den renommierten US-Bell Laboratories an Nanotechnologie mit organischen Halbleitern und fiel durch sensationelle Behauptungen und eine
- Die renommierten chemischen Physiker Dev Thapa und Anshu Pandey des Indian Institute of Science in Bangalore veröffentlichten 2018 einen Vorabbericht auf arXiv (ja, derselbe Preprint-Server!) und
Also ist LK-99 nur ein Schwindel?
Was wir von LK-99 lernen können – egal, ob es sich als Sensation oder Ente erweist
Die ernüchternde Antwort ist: Ob LK-99 nun der große Supraleiter-Durchbruch ist, können wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Die Fälle aus Indien, den USA und Südkorea rufen zumindest in Erinnerung, dass auch in der Welt der Wissenschaft nicht alles immer stimmen muss und sogar Menschen mit akademischen Titeln lügen können. In jedem Fall sind große Behauptungen mit weitreichenden Folgen, Intransparenz und schlechte Kommunikation klare »red flags«, die uns aufhorchen lassen sollten. Die Gemeinsamkeiten all dieser Fälle können uns dabei helfen, kritischer und besser mit angeblichen »Durchbrüchen« umzugehen:
- Medialer Hype verzerrt die Fakten: Wann immer es um Wissenschaft geht, tendieren Journalist:innen dazu, ihrem Sensationsdrang nachzugeben. Sicher, Videos von schwebenden Materialien beeindrucken und das Sich-Ausmalen von Zukunftstechnologie ist unterhaltsam. Doch wenn dann über
- Wissenschaftliche Standards haben ihren Sinn: Sensationsmeldungen über Vorab-Studien und Manuskripte erzeugen Misstrauen in die Wissenschaft an sich, wenn sie sich als Ente erweisen. Dabei ist Wissenschaft vor allem eines – eine bewährte Methode zur Wissensgewinnung, die auf Sorgfalt, Kooperation und gegenseitige Kontrolle setzt. Das, was viele kritische Stimmen gerade motiviert, sind weder Neid noch Gehässigkeit. Sie suchen so vehement nach Fehlern bei LK-99, weil diese kritische Überprüfung schlichtweg Teil der Methode ist und man sie ernst nimmt.
Wer Außergewöhnliches behauptet, muss auch außergewöhnliche Belege liefern
- Gedämpfte Erwartungen sind realistischer: Hoffen darf man trotzdem. Doch Durchbrüche in der Forschung, die unsere Welt auf den Kopf stellen, sind extrem selten. Das trifft auch auf die Supraleiter-Forschung zu. Neuerungen auf dem Feld drehen sich oft nur um bessere Materialien, die weniger extreme Kühlung oder Druck benötigen. Und selbst wenn sich das Material doch noch als die Nadel im Heuhaufen erweisen sollte, dürften von jetzt bis zu einer Veröffentlichung in Science oder Nature noch Jahre mit Feedback, Kritik und Peer-Reviews vergehen. Offen sind auch Fragen, wie sich ein solches Material dann anwenden ließe: Denn selbst ein Machbarkeitsbeweis sagt noch nichts darüber aus, bis zu welcher Stromstärke das Material belastbar wäre, ab welchen Temperaturen es sich anders verhielte, ob sich aus LK-99 auch Drähte und Leiterbahnen fertigen ließen, ob die Industrie das Material außerhalb eines Labors industriell herstellen könnte und zu welchem Preis.
Und wie geht es weiter? Möglicherweise haben in einigen Wochen genug Forschungsteams das Material nach Bauplan der koreanischen Forschenden repliziert und können mehr über die Eigenschaften von LK-99 sagen.
Das wissen wir schlichtweg noch nicht.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily