Kostenloser Nahverkehr? Klingt gut, aber …
Seit 10 Jahren fahren Bürger:innen der estnischen Hauptstadt Tallinn umsonst Bus, Bahn und Tram. Was hat das gebracht? Und wieso hat das kleine Tartu knapp 200 Kilometer südlich trotzdem das bessere Verkehrskonzept? Ein Besuch vor Ort.
2013 machte Tallinn weltweit Schlagzeilen: Die Einwohner:innen der estnischen Hauptstadt sollten fortan kostenlos Bus, Bahn und Tram fahren. Tallinn war die erste größere europäische Stadt, die eine Utopie real werden ließ und dafür bis heute gefeiert wird. Doch weist sie wirklich einen Weg zu nachhaltiger Mobilität in der Stadt?
»Ich war schon vor der Einführung skeptisch und bin es immer noch, wenn ich mir die Zahlen anschaue«, sagt Mari Jüssi, Mobilitätsexpertin bei der nationalen Verkehrsbehörde. Sie sitzt in einem Nachbarschaftscafé im südwestlichen Tallinner Stadtteil Uus Maailm und löffelt noch fix eine Fischsuppe aus einer hellgrauen Keramikschale. Dann stellt Jüssi ihren Laptop auf den Tisch und öffnet bunte Torten- und Kurvendiagramme. Sie zeigen die Verkehrsentwicklung in Tallinn. »2013 wurde der gratis ÖPNV eingeführt und man sieht: Im ersten Jahr fuhren tatsächlich mehr Menschen Bus und Bahn«, so Jüssi. »Aber das war damals in vielen Städten so, weil sich die Wirtschaft nach der Krise 2008–2011 wieder erholt hatte.« 6,5% waren es im ersten Jahr, später schwankte es, mal knapp 1% mehr, mal knapp 1% weniger Nutzer:innen.
Bezeichnend vor allem: »Gleichzeitig nahm der Anteil des Autos kontinuierlich zu.« Machten Autos 2000 nur 34% des Pendler:innenverkehrs aus, stieg der Wert in den Jahren bis 2012 auf 44% und bis 2022 weiter auf 49%. Während der ÖPNV im Jahr 2000 die Hälfte des Pendler:innenverkehrs ausmachte, waren es 2012 nur noch 42%, letztes Jahr nur noch 29%, auch wegen der Pandemie. »Der kostenlose ÖPNV ist also keine Erfolgsgeschichte, wie die Stadt behauptet.«
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily