Stromrechnung: 0 Euro. Dieses Dorf versorgt sich selbst mit Solarstrom
Ein kleines Dorf im Norden Indiens produziert seit Kurzem mehr Solarstrom, als es verbraucht. Doch als Vorbild für den Rest des bevölkerungsreichsten Landes der Welt taugt es nur bedingt.
Wenn am Ende des Monats im kleinen indischen Dorf Modhera die Stromrechnungen kamen, mussten die Einwohner:innen früher bangen, wie sie die Summen begleichen sollten. Für viele Haushalte betrug die Rechnung bis zu 2.000 Rupien (22 Euro) im Monat. Heute schauen sie den Abrechnungen freudig entgegen, denn seit Kurzem zahlt hier niemand mehr für Strom. Im Gegenteil: Viele Haushalte erzielen inzwischen ein zusätzliches Einkommen, indem sie überschüssigen Strom ins Netz einspeisen.
Der Grund: Das rund 80 Kilometer von
Im Rahmen eines groß angelegten Solar-Elektrifizierungsprojekts, das von der Regierung finanziert wird, wurden im vergangenen Jahr auf über 1.300 der 1.700 Häuser im Dorf Solarmodule mit je 1 Kilowatt Leistung installiert. Hinzu kommt ein 15-Megawattstunden-Batteriespeicher – das entspricht der Kapazität von rund 300 Elektroautos – sowie ein 6-Megawatt-Freiflächen-Solarkraftwerk. Das gesamte System erzeugt insgesamt rund 6.300 Kilowattstunden Strom pro Tag, von denen etwa 6.000 Kilowattstunden in Modhera verbraucht werden. Das System erzeugt also mehr als genug Strom, um den eigenen Bedarf zu decken. Der Rest fließt ins Netz. Dadurch ist das Dorf ein Netto-Energieerzeuger geworden – das erste seiner Art in Indien.
Das Sonnenprojekt hat Licht und Schatten
Die rund 6.500 Einwohner von Modhera sind hauptsächlich Töpfer:innen, Kunsthandwerker:innen, Schneider:innen, Schuhmacher:innen und Bäuerinnen und Bauern. Befreit von den hohen Stromrechnungen konnten viele von ihnen elektrische Nähmaschinen, eine Klimaanlage oder elektrische Töpferscheiben anschaffen und die Menge der von ihnen produzierten Schuhe, Kleidungstücke oder Tonwaren nahezu verdoppeln. Das Geld, das sie beim Storm nun sparen, ermöglicht es ihnen andererseits, in bessere Bildung zu investieren oder hochwertigere Lebensmittel zu kaufen.
Doch während die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen in Modhera offensichtlich sind, gibt es einige Kritikpunkte. Es ist unklar, ob das Projekt auch längerfristige Vorteile haben wird – oder ob sich die Bewohner:innen einfach an niedrigere Strompreise gewöhnen und der wirtschaftliche Aufschwung vorübergehen wird.
Dr. Niti Mehta erforscht Wirtschaft im ländlichen Raum und ist stellvertretende Direktorin am Sardar Patel Institut für Wirtschaft. Es sei einerseits wichtig, eine sozioökonomische Folgenabschätzung durchzuführen, bevor solche Großprojekte in Angriff genommen werden. Gleichzeitig glaubt sie, dass es noch zu früh sei, um die Auswirkungen des Projekts endgültig zu bewerten: »Wir werden ein paar Jahre warten müssen, um zu sehen, wie sich das entwickelt. Dann können wir bewerten, wie sich die Senkung der Stromrechnungen und die Einkommenssteigerung durch den Verkauf von Strom ans Netz […] auf das Familieneinkommen auswirken.«
Für die Menschen im Nachbarort Sajjanpura zeigen sich schon heute die Schattenseiten der riesigen Solaranlagen. In Sajjanapura leben etwa 1.000 Dorfbewohner:innen, von denen die meisten der Bakshi-Panch-Gemeinschaft angehören und Teil einer niedrigen Kaste des indischen Kastensystems sind. Viehzucht ist in dieser Kaste die Hauptbeschäftigung und primäre Einnahmequelle; nur wenige der Betroffenen besitzen eigenes Land. Die Flächenanlage, die Teil des neuen Energiesystems ist, wurde in der Nähe von Sajjanpura errichtet – und nimmt 12 Hektar erstklassigen Weidelands ein. Jetzt, da die Bewohner:innen ihre Tiere nicht mehr auf diesen Gründen grasen lassen können, haben sie mit gestiegenen Viehfutterkosten zu kämpfen.
Einige von ich ihnen sind verzweifelt angesichts des Verlusts des Weidelands; sie mussten Teile ihres Viehbestands verkaufen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Einer von ihnen ist der Landarbeiter und Viehzüchter Sunil Singh, der 2 seiner 9 Rinder verkauft hat. Ein anderer Bewohner, der 10 Büffel besitzt, berichtete, dass die Kosten für den Kauf von Heu für die Fütterung seines Viehs bis zu 60.000 Rupien pro Monat betrügen – rund 670 Euro. Der Verkauf der Milch, die sie produzierten, bringe hingegen nur 30.000–40.000 Rupien pro Monat ein, 330–440 Euro. Ein Verlustgeschäft.
Zwar wurde den Hirt:innen alternatives Weideland zugeteilt, um die Verluste durch die Solaranlagen zu kompensieren. Doch die Dorfbewohner:innen sagen, dass die 12 verlorenen Hektar zu den besten Weideflächen gehörten und die alternativen Parzellen kein adäquater Ersatz seien. Sie befänden sich zu weit weg, um sie täglich aufsuchen zu können, oder würden von anderen Bauern als Ackerflächen genutzt.
Alexander Hogeveen Rutter ist Experte bei der International Solar Alliance (ISO). Die Organisation hat sich der Verbreitung von Solarstrom weltweit verschrieben. Um solche Konflikte um Land zu vermeiden, schlägt Hogeveen Rutter vor, für die Planung derartiger Solarprojekte Tools wie SiteRight zu verwenden. Damit könne »der Konflikt mit bestehenden Nutzern minimiert werden. Solaranlagen und -speicher können erhöht gebaut werden, um eine gleichzeitige landwirtschaftliche Nutzung des Landes, etwa durch Beweidung, zu ermöglichen«, sagt er.
Ein Modell für ganz Indien? Wohl kaum
Nicht nur die Einwohner:innen von Sajjanapura zahlen einen hohen Preis für das Solarprojekt – sondern auch der indische Staat. Das Solarprojekt, von der Zentralregierung und der Landesregierung von Gujarat gemeinsam ins Leben gerufen, kostete die Steuerzahler 80
»In Indien gibt es aber mehr als 650.000 Dörfer«, sagte Jaychand Shiv, Programmdirektor für erneuerbare Energien am
Obwohl er es für eine gute Demonstration für ländliche Fotovoltaikprojekte halte, sagt Shiv, er glaube nicht, dass das Projekt in der Form im ganzen Land repliziert werden könne. »Erstens ist Land eine begrenzte Ressource, nicht jedes Dorf hat ausreichend unfruchtbares Land für [Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien] zur Verfügung. Die Nutzung von Grünland oder landwirtschaftlichen Flächen für solche Projekte ist nicht ratsam. Zweitens erfordert es eine enorme Investition. Wir haben nicht die finanziellen Kapazitäten, um diese Art von Geld in allen Dörfern in Indien zu investieren«, sagte er.
Ein weiteres Problem: Wer wird später die Wartung und Reparaturen der Anlage bezahlen? In ganz Indien gibt es Tausende von Mini-Solarnetzen, die aus Mangel an Mitteln für die Instandhaltung stillgelegt wurden. Indiens Drang, eilig neue Solarprojekte zu entwickeln, könnte dazu führen, dass bestehende Anlagen vernachlässigt werden und nicht mehr betrieben werden können.
Energiewende auf Indisch
Indien erzeugt nach China den zweitmeisten Kohlestrom der Welt. Jeder Wechsel hin zu erneuerbaren Energiequellen, so klein er auch sein mag, ist gut, um die globalen Klimaziele zu erreichen. Doch die Umstellung auf saubere Energie hat auch in Indien ihren Preis. Die Kosten sind für die meisten Entwicklungsländer – auch das zeigt das Beispiel Modhera – noch zu hoch. Sie können die finanziell schwächsten Menschen in die Armut treiben. Die Reduktion des Kohleverbrauchs etwa wird sich in Indien auf die 3,6 Millionen Menschen auswirken, die direkt oder indirekt im Kohlebergbau und im Kohlesektor des Landes beschäftigt sind.
Internationale Klimakomitees konzentrieren sich häufig auf die größten Kohlenstoffemittenten wie China, die USA, Indien, Russland oder Japan. Doch nicht jede Kilotonne freigesetzten Kohlenstoffs gleicht der anderen: Indien mag der drittgrößte Kohlenstoffemittent der Welt sein. Betrachtet man aber die Pro-Kopf-Emissionen, fällt Indiens Wert sehr niedrig aus. Daher erscheint es vielen im Land ungerecht, dass Entwicklungsländer wie Indien einen großen Teil der globalen Kohlenstoffreduktion tragen sollen.
Und doch hat sich Indien in den vergangenen Jahren wieder und wieder strengeren Klimazielen verschrieben. Am 26. August 2022, 2 Monate vor dem UN-Klimagipfel COP27, verpflichtete sich das Land dazu, bis 2030 50% seines Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Bis 2070 will es Netto-Null-Emissionen erreichen. In den Jahren 2014–2021 hat Indien seine Kapazitäten für erneuerbare Energien um 250% erhöht.
Der Übergang zu saubereren Kraftstoffen ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir die Hoffnung haben wollen, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Doch Indien ist noch nicht bereit, sich vollständig auf Solarenergie zu verlassen. Obwohl es eines der wenigen Länder der Welt ist, die bis zu 300 Tage Sonnenschein im Jahr haben, ist Solarenergie in Indien noch kein praktikabler Ersatz für Kohle und fossile Brennstoffe – aufgrund der Kosten, des Flächenbedarfs und der lokalen sozialen Belange.
Rutter vom ISO glaubt daher: »Es wird eine Kombination aus Solar-, Wind-, Wasser-, Geothermie-, Bio- und Gezeitenenergie erforderlich sein, abhängig von der Verfügbarkeit der lokalen Ressourcen.« Dem stimmt Shiv zu: »Wir können uns nicht nur auf Solarenergie verlassen, um unsere Dörfer mit Strom zu versorgen.«
Übersetzung aus dem Englischen von Felix Austen.
Der Artikel erschien in seiner Originalfassung beim Magazin Unbias the News, mit dem wir gemeinsam das Chain-Reactions-Projekt durchführen.
This project was funded by the European Journalism Centre, through the Solutions Journalism Accelerator. This fund is supported by the Bill & Melinda Gates Foundation.
Dieses Projekt wurde vom European Journalism Center im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator gefördert. Die Förderung wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
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Titelbild: Illustration: Walker Gawande (Bearbeitung: Perspective Daily) - copyright