China steckt in der Krise. Nach diesem Text kannst du mitreden
Immobilienblase, Arbeitslosigkeit, Überalterung: Das Reich der Mitte wankt. Das hat weitreichende Folgen, nicht nur für den Weltmarkt. Was dahinter steckt, verständlich erklärt.
Die Schlagzeilen, die in den vergangenen Wochen über China zu lesen waren, lassen kaum Gutes ahnen:
Immobilienkrise spitzt sich zu: Chinas Kampf gegen eine schwache Wirtschaft
Konjunktur: 2023 sieht für China zunehmend wie ein Jahr zum Vergessen aus
Stagnation und Deflation: China braucht ein Update – oder eine Revolution
Was ist da los? Droht dem Reich der Mitte nach dem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der letzten Jahrzehnte die Puste auszugehen?
Dieser Text liefert Antworten auf diese komplizierte Frage – kleinschrittig und ohne, dass du dafür großes Vorwissen haben musst.
Wenn du trotzdem testen willst, wie viel du schon über China weißt, hier zum Einstieg ein kurzes Quiz zu den wichtigsten Eckdaten des Landes:
Egal wie du abgeschnitten hast: Die gute Nachricht ist, dass du jetzt so oder so die wichtigsten Fakten über die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt kennst. Die schlechte Nachricht: Aufgrund der enormen Größe des Landes beeinflussen die Entwicklungen in der Volksrepublik die Wirtschaftslage auf der ganzen Welt – auch in Deutschland.
Höchste Zeit also, dein Wissen über China und die schwierige wirtschaftliche Situation dort zu vertiefen. Los geht es!
Warum blicken Beobachter:innen derzeit mit Sorge auf China?
Wirtschaftlich kannte die Volksrepublik in den vergangenen Jahren nur einen Kurs: Wachstum. »China hat sich in den letzten 30 Jahren extrem gut entwickelt. Noch in den 1980er-Jahren zählte es zu den ärmsten Ländern der Welt. Doch seither hat es sich wirtschaftlich geöffnet und viel westliches Know-how ins Land geholt. Heute und auch in näherer Zukunft ist es für viele Produkte der größte Markt der Welt«, sagt Manuel Vermeer. Vermeer ist China-Experte am Ostasieninstitut der Hochschule Ludwigshafen und berät seit über 30 Jahren Unternehmen, die in China und Indien tätig sind.
Doch mit Ausbruch der Coronapandemie und der folgenden rigiden Null-Covid-Politik geriet Chinas Wirtschaft zunehmend unter Druck: Umfangreiche Kontrollen, restriktive Regeln für den Personenverkehr und strikte Lockdowns bei nur wenigen Infektionen sorgten für
China steuert nicht auf eine Krise zu, sondern ist bereits mittendrin.
Doch die aktuellen Probleme Chinas sind vielschichtiger. Allmählich schlagen strukturelle, wirtschaftliche und finanzpolitische Faktoren durch, die bereits wesentlich länger schwelen.
»Grundsätzlich ist es für Volkswirtschaften, die noch nicht weit entwickelt sind, erst einmal relativ leicht, schnell zu wachsen. Es kommt aber zu einem Wendepunkt, sobald die aufholende Entwicklung zu anderen Ländern abgeschlossen ist. Dann wird es schwieriger, Wachstum zu generieren«, erklärt Sandra Heep, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft Chinas und Leiterin des Chinazentrums an der Hochschule Bremen. Und an genau diesem Punkt sei China angelangt.
Die offensichtlichen Folgen: Das Wirtschaftswachstum stagniert, der wichtige Immobiliensektor und viele Kommunen sind hoch verschuldet und die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Und im Hintergrund droht ein massiver demografischer Umbruch, das Land auf Jahrzehnte zu lähmen.
Ist eine Immobilienkrise die Wurzel allen Übels?
In den letzten Wochen war es vor allem der chinesische Immobilienkonzern Evergrande, der für Schlagzeilen sorgte und Angst vor einer akuten Finanzkrise in China schürte. Im Juli vermeldete das größte Bauunternehmen Chinas einen Verlust von 72 Milliarden Euro in den letzten 2 Jahren. Insgesamt belaufen sich die Schulden von Evergrande sogar auf umgerechnet 300 Milliarden Euro.
Hinzu kommt, dass die Chines:innen einen Großteil ihrer Ersparnisse in den Immobiliensektor gesteckt haben: »Die Preise kannten in den letzten Jahrzehnten nur eine Richtung: nach oben. Als Anleger konnte man da bisher nicht viel falsch machen. So wurden auch Wohnungen gekauft, bei denen nie die Absicht bestand, diese auch zu beziehen. Viele von ihnen waren nicht einmal fertig gebaut«, erklärt Manuel Vermeer. Nicht zuletzt aufgrund dieser Spekulationen entstanden in China 60 Millionen Wohnungen, die heute leer stehen oder nicht fertig gebaut wurden.
»Unternehmen wie Evergrande haben daran viel Geld verdient, sich aber gleichzeitig extrem verschuldet. Das ging so weit, dass die Kommunistische Partei zuletzt eingriff und den Immobilienbereich durch strengere Kreditvergabekriterien wieder auf eine seriöse Basis stellen will«, erklärt Manuel Vermeer.
Diese Bereinigung führt zu Problemen, denn das ganze Kartenhaus aus auf Pump finanzierten Immobilien gerät so ins Wanken: Wohnungen werden nicht fertiggestellt, Kredite nicht zurückbezahlt und Kleinanleger:innen laufen Gefahr, ein Großteil ihrer Ersparnisse zu verlieren.
Warum junge Männer plötzlich für 2 Eltern- und 4 Großelternpaare sorgen müssen
Eines der zentralsten Probleme der Volksrepublik ist jedoch ein strukturelles, das sich noch über viele Jahrzehnte hinweg auswirken wird und auch uns in Deutschland nicht fremd ist: der demografische Wandel.
China ist in den vergangenen Jahren unter anderem deshalb so stark gewachsen, weil es von der sogenannten demografischen Dividende profitiert hat. In den Jahren 1950–1980 wuchs die Bevölkerung des Landes stark an, was für eine große Zahl von jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter sorgte, die den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten erst möglich gemacht haben. Angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums setzte die chinesische Regierung seit den 1980er-Jahren dann die Ein-Kind-Politik durch, die die Zahl der Kinder pro Familie begrenzte. Die Folge: Auf zu viele Alte, die aus den geburtenstarken Jahrgängen vor 1980 stammen, folgen inzwischen zu wenige Junge, die in Lohn und Brot stehen.
Die demografische Dividende ist allmählich aufgezehrt. »Die Alterung der chinesischen Gesellschaft hat auch negative Folgen für das Wirtschaftswachstum: Mit weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter steigen die
Auf der anderen Seite stehen fast 11 Millionen gut ausgebildete Hochschulabsolvent:innen, die Jahr für Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen und nicht ausreichend Arbeitsplätze abseits der Industrieproduktion vorfinden. Im Juni 2023 erreichte die offizielle Jugendarbeitslosigkeit bei den 16–24-jährigen Städter:innen einen Rekordwert von 21,3%.
»Das ist doppelt problematisch: Einerseits geht auf diese Weise ein ungeheures Potenzial verloren, andererseits stehen diese jungen Menschen auch unter einem enormen gesellschaftlichen Druck, Geld zu verdienen. Viele haben aufgrund der Ein-Kind-Politik keine Geschwister und müssen somit eigentlich ihre Eltern und Großeltern im Alter finanziell unterstützen«, erklärt Manuel Vermeer. Fachleute sprechen diesbezüglich schon seit Jahren vom sogenannten 4-2-1-Problem, also der Aussicht für junge Männer, als Haupternährer nach einer Heirat für die Versorgung von 2 Eltern- und 4 Großelternpaaren einstehen zu müssen. Eine prekäre Situation, die sich zu einem nicht zu unterschätzenden Unruhepotenzial ausweiten könnte.
Die große Vertrauenskrise: Xi Jinping und die Kommunistische Partei
Wie zu Beginn gesagt, sind viele der aktuellen Probleme Chinas das Resultat einer gewissen Sättigung: »Wenn eine sich entwickelnde Volkswirtschaft die wirtschaftlichen Aufholprozesse abgeschlossen hat, braucht es ein neues Wachstumsmodell. Dieses beinhaltet eine neue Schwerpunktsetzung weg von Investitionen hin zu einem Fokus auf den Konsum und die Förderung von Forschung und Innovation«, so Sandra Heep.
Gerade diese Faktoren – Innovation und Forschung – würden in dem politisch rigiden System Chinas jedoch erschwert. Besonders letztere stehe für die chinesische Regierung im Fokus und werde staatlich stark gefördert, um die Rolle als »Werkbank der Welt« nach und nach hinter sich zu lassen. Der Ansatz, Innovation staatlich »von oben« zu verordnen, habe jedoch Grenzen: »In Chinas zunehmend repressivem politischen System sind der Kreativität enge Grenzen gesetzt.«
Besonders das autoritäre Ein-Parteien-System schränke die Entfaltungsmöglichkeiten der Bevölkerung enorm ein. »Unter Xi Jinping steht die Partei klar über allem. Vor seinem Amtsantritt im Jahr 2012 hatten wir eine vorrangig an der Wirtschaft orientierte Politik. Und das führt zu weiteren Problemen«, berichtet Manuel Vermeer. Ein anschauliches Beispiel dafür biete der Fall des chinesischen Multimilliardärs und
Der selbstbewusst auftretende und mächtig gewordene Unternehmer hatte die Regierung zuvor wiederholt öffentlich kritisiert. Am Ende soll Parteichef Xi Jinping höchstpersönlich und in letzter Minute den 30 Milliarden Euro schweren Börsengang untersagt haben.
Für einen wirtschaftlichen Kurswechsel bräuchte es laut Sandra Heep jedoch ein gänzlich anderes Vorgehen: »In aufholenden Volkswirtschaften kommt normalerweise irgendwann der Punkt, an dem sich der Staat aus der Wirtschaft zurückzieht. In China beobachten wir das genaue Gegenteil: Die Kommunistische Partei intensiviert die politische Kontrolle über die Wirtschaft. Und dieser Umstand verschärft die strukturellen Probleme.«
Statt Wirtschaftswachstum und Aufstiegsversprechen treten also zunehmend Kontrolle und Repression in den Vordergrund, um die Herrschaft der Kommunistischen Partei und Xi Jinpings zu legitimieren.
Es geht der chinesischen Führung nicht mehr primär um Wirtschaftswachstum. Vielmehr liegt der Fokus zunehmend auf politischer Kontrolle und nationaler Sicherheit.
Die Folge ist ein Vertrauensverlust in die chinesische Staatsführung auf vielen Ebenen, der sowohl In- als auch Ausländer:innen erfasst und Fragen aufwirft, ob Investitionen in diesem Umfeld sinnvoll und sicher sind.
Fehlender Konsum: Warum viele Chines:innen zu wenig Geld in der Tasche haben und sich daran so bald nichts ändern wird
Die negative Stimmung in China wirkt sich nicht zuletzt auch auf Konsument:innen aus: Wer unsicher ist, was die Zukunft bringt, legt Geld lieber beiseite, anstatt es auszugeben.
Und das sei genau das, was die chinesische Wirtschaft aktuell nicht brauche, erklärt Sandra Heep: »Es wäre jetzt an der Zeit, den Konsum der breiten Bevölkerung zu fördern, aber das passiert im Moment nicht. Zwar verspricht die Kommunistische Partei Wohlstand für alle. Doch werden kaum geeignete Maßnahmen ergriffen, um die soziale Ungleichheit abzumildern und den Wohlstand gleichmäßiger zu verteilen.«
Das sieht auch Manuel Vermeer so und verweist noch mal auf die mitunter schwierige Situation der schwindenden Zahl von jungen Menschen in China: »Wenn ich als junger Mensch arbeitslos bin oder mein ganzes verfügbares Einkommen in die Unterstützung meiner älteren Familienmitglieder stecken muss, kann ich nichts konsumieren. Somit ist der Ausbau sozialer Sicherungssysteme ein wichtiger Baustein, damit Privatleuten auch Geld zum Ausgeben bleibt.«
Doch danach sieht es nicht aus. Die Staatsführung ist nicht unbedingt für soziale Wohltaten zugunsten des einfachen Volkes bekannt: »Xi Jinping hat sich sehr deutlich dagegen ausgesprochen, so etwas wie einen Wohlfahrtsstaat errichten zu wollen, was eine erstaunliche Aussage für eine formal kommunistische Partei ist«, so Sandra Heep.
Generell hege sie Zweifel daran, ob die politische Führung des Landes in ihrer jetzigen Form dazu in der Lage sei, die vielschichtigen Probleme anzugehen: »Die politische Führung Chinas verfügte über lange Zeit hinweg über große ökonomische Expertise. Mittlerweile ist es aber so, dass bei der Vergabe von Führungspositionen vor allem politische Loyalität gegenüber Parteichef Xi Jinping gefragt ist. Auf diese Weise entwickelt sich eine Echokammer, in der sich aus einer Atmosphäre der Angst heraus niemand mehr traut, auf Probleme hinzuweisen.«
Was bedeutet Chinas Krise für den Rest der Welt?
Der politische und wirtschaftliche Kurswechsel verändert auch Chinas Außenpolitik. Zum einen fürchten Expert:innen, dass China auf internationaler Ebene eine stärkere Konfliktbereitschaft an den Tag legen könnte. Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, in denen autoritär geführte Staaten auf außenpolitische Aggression setzen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
»Wenn der innere Druck im Land zu groß wird, besteht die Gefahr, dass Xi Jinping sich noch mehr auf sein öffentliches Versprechen konzentriert, die Republik Taiwan in die Volksrepublik zurückzuholen – notfalls mit Gewalt«, sagt Manuel Vermeer. Xi Jinping verkündete zuletzt, man könne die Taiwan-Frage nicht »von Generation zu Generation weitergeben«. US-Geheimdienste gehen zudem davon aus, dass China im Jahr 2027 militärisch in der Lage dazu wäre,
Je nachdem wie sich die USA und ihre Verbündeten im Falle eines Angriffs auf Taiwan verhalten würden, wären die Risiken für einen globalen Konflikt unkalkulierbar. »Unter dem Strich sind verschiedene Szenarien denkbar, und alle davon sind real und gefährlich. Wie es sich tatsächlich entwickelt, hängt davon ab, wie die USA agieren und wie wir in Deutschland als Teil der EU und der NATO betroffen sind«, sagt Vermeer.
Was bedeutet all das für uns in Deutschland?
Doch selbst wenn westliche Staaten nicht aktiv in einen militärischen Konflikt eingreifen würden, wären die wirtschaftlichen Verwerfungen enorm, wie der Krieg in der Ukraine aktuell zeigt. Sowohl China als auch Taiwan sind weltwirtschaftlich relevant und eng mit zahlreichen Ländern verflochten und für unterschiedlichste Lieferketten von großer Bedeutung. Beide Länder liefern essenzielle Güter, die als Vorprodukte für die westliche Industrie kaum zu ersetzen sind.
Zudem würde es schwieriger werden, Waren in die Region zu verkaufen, was schon allein aufgrund der schieren Größe Chinas besonders für eine Exportnation wie Deutschland kaum abschätzbare wirtschaftliche Folgen hätte.
Fakt ist: Die Probleme, die sich aus Chinas Wirtschaftslage ergeben, sind auch ohne Taiwan-Konflikt schon jetzt groß genug: »In Deutschland haben wir in den letzten 30 Jahren von China profitiert. Da ist natürlich der Automobilsektor, der durch das Chinageschäft enorm reich geworden ist. Hier verändert sich zurzeit ohnehin vieles, da die deutschen Hersteller die E-Mobilität weitestgehend verschlafen haben und in diesem Bereich fast keine Marktanteile in China haben. Trotzdem verkaufen Mercedes, VW und Co. nach wie vor 30–40% ihrer Autos in China«, berichtet Manuel Vermeer.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die wirtschaftliche Situation Chinas mit der deutschen verknüpft ist. Die Folgen für Wachstum und Exporte seien laut Sandra Heep schon heute spürbar, während Manuel Vermeer der Meinung ist, dass die negativen Effekte hierzulande erst in Zukunft Wirkung zeigen würden.
So oder so ist klar: Wir haben es nicht nur mit einer vorübergehenden Flaute in China zu tun. Vielmehr erleben wir einen tiefgreifenden Wandel, der sich bereits seit Jahren abzeichnet und mit dem es umzugehen gilt. In diesen Zeiten ist es wichtig, dass Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern definiert, was die eigenen Interessen in dieser Region sind.
Dazu gehört auch das Ziehen von klaren roten Linien. Konfrontation oder Rückzug seien allerdings keine echten Optionen, sagt Manuel Vermeer: »Wir müssen mit China reden. Wir müssen in Kontakt bleiben und nicht das tun, was die Amerikaner wollen: nämlich »Decoupling«, also einen Rückzug aus China. Das mag für deren Wirtschaft gut sein. Doch für uns in Europa ist das aus meiner Sicht der falsche Weg«, sagt Manuel Vermeer.
Anstatt Brücken abzubrechen, erscheint es ratsam, weiter an den zwischenstaatlichen Beziehungen und einem konstruktiven Dialog zu arbeiten. Denn egal wie sich China weiterentwickelt: Ignorieren können wir es sicher nicht.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily