Damit wir nicht verdummen, brauchen wir mehr Forscherinnen
80% der Professoren sind männlich – und Akademiker bekommen wenig Kinder. Beides hat den gleichen Grund, den wir einfach beheben können (wenn wir wollen).
Mittwochmorgen, 9:30 Uhr, irgendwann im Mai 2015 im westfälischen Münster. Etwa 20 Frauen sitzen um den großen Tisch in der Bibliothek. Mit der Vorstellungsrunde beginnt der Workshop »Teamwork und Führungskompetenz für Forscherinnen«. Unter anderem sind dort:
Klar, so ein Treffen könnte in jeder Branche, auf jeder Karriereebene stattfinden. Selbstverständlich könnten da auch Männer sitzen, mit ihren Zweifeln und ihren Ängsten.
Dennoch ist die Situation von Eltern – und besonders von Müttern – in der Wissenschaft außergewöhnlich. Und sie betrifft uns alle.
Der Weg eines Forschers
Bevor wir über die Lösung des Dilemmas sprechen können, braucht es ein wenig Basiswissen über
Im Jahr 2015 begannen in Deutschland etwa 84.000 Schulabgänger ein naturwissenschaftliches oder mathematisches Studium,
Um in die akademische Forschung einsteigen zu können, gehört eine
Für eine
Nach der feierlichen Überreichung des Doktortitels beginnt der ganze Ernst des Forscherdaseins. Mit der Promotion wird aus dem Doktoranden ein Postdoc, ein »Bewohner« des wissenschaftlichen Mittelbaus. Meist verlassen Postdocs das Institut, an dem sie promoviert haben, und
Die aktive Forschung gerät ab jetzt immer weiter in den Hintergrund. Vielmehr betreut der Postdoc nun selbst Doktoranden oder Studenten im Labor, wirbt
Wenn es weiterhin gut läuft, hat der Postdoc irgendwann andere Forscher um sich herum geschart und nennt sich dann Arbeits- oder
Es bleibt die Königsdisziplin: Im Jahr 2015 forschten und lehrten an deutschen Universitäten insgesamt gut 5.500 Professoren in Naturwissenschaften und Mathematik,
Des Forschers höchste Ehrung, der
Die Luft für Frauen an der Spitze der Naturwissenschaften ist also dünn. Nicht nur viele Hochschulen wollen das ändern.
»Science: It’s a Girl Thing!«
Im Workshop sitzen nur Frauen, weil sich das Angebot explizit an diese richtet. Frauenförderung, Karriereförderung von Naturwissenschaftlerinnen, Geschlechtergleichstellung … das Kind hat viele Namen. Das Ziel bleibt aber gleich:
Beim »typischen Wissenschaftler« denken viele Menschen sicher an den Typus Einstein. Wüstes Haar, Nickelbrille, einen dampfenden Erlenmeyerkolben in der Hand.
Mehr Mädels in die Forschung? Klar! Am besten mit Stöckelschuhen und Lippenstift – dachte sich die EU 2012 und fertigte ein Werbevideo an.
Der Slogan:
Spurensuche in der Vergangenheit
Für eine hervorragende Wissenschaft brauchen wir hervorragende Forscher. Sie prägten und prägen auch heute noch die Wissenschaftslandschaft in Deutschland sowie auf der ganzen Welt. Die Wissenschaft war lange eine reine Männerdomäne, abgesehen von wenigen Pionierinnen wie
Auch wenn heute viele Frauen ganz selbstverständlich in ehemaligen »Männerberufen« arbeiten,
Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die an Hochschulen befristet beschäftigt sind, haben tendenziell seltener Kinder als altersgleiche Hochschulabsolventinnen und -absolventen. […] Der wissenschaftliche Nachwuchs bleibt häufiger endgültig kinderlos als andere Hochschulabsolventinnen und -absolventen.
Etwa 3/4 der
Ist Kinderlosigkeit aufgrund fehlender Planungssicherheit nicht einfach Jammern auf hohem Niveau?
Nach dem »Dr.« ab in die Unsicherheit
Um das Ausmaß der Planungs(un)sicherheit einzuordnen, hilft vor allem eine Zahl:
Ungefähr die Hälfte der befristeten Wissenschaftlerverträge hat eine Laufzeit von unter einem Jahr. Dank
Und was passiert nach den 12 Jahren? Festanstellungen für den wissenschaftlichen Mittelbau gibt es so gut wie gar nicht. Dann heißt es für Frauen und Männer: Entweder eine Professur oder Academia adé – nur knapp jeder Fünfte Dr. bleibt nach seinem Abschluss in der Forschung.
Stelle dir vor, du hast erfolgreich den klassischen wissenschaftlichen Karrierepfad absolviert: 5 Jahre Studium, 3–5 Jahre Promotion und dann 2 Jahre lang den ersten Postdoc. Du bist Anfang bis Mitte 30 und stehst an der Schwelle zum Arbeitsgruppenleiter.
Das erwartet dich:
- Arbeitsaufwand: Es wird erwartet, dass du erheblich mehr als die vertraglich »vorgeschlagenen« 40 Stunden pro Woche arbeitest. Und – Wissenschaft ist Passion – du machst es sogar gern. Schließlich bist du noch immer im
- Mobilität: Wieder umziehen, denn in den seltensten Fällen gibt es freie Stellen vor Ort. Erneut heißt es, Freunde und Bekannte hinter dir zu lassen; abermals ein befristeter Vertrag.
- Finanzen: Es ist nicht so, dass Postdocs am Hungertuch nagen. Dennoch liegt
Diese Situation ist wohlbekannt und auch weitestgehend akzeptiert, sowohl unter den Postdocs als auch ihren Vorgesetzten.
Es ist schwer, zum Beispiel Universitätsprofessoren deutlich zu machen, dass sie Menschen fördern sollen, von denen sie doch aber wissen und die ja sogar aufgefordert sind, den Laden möglichst schnell wieder zu verlassen.
All das trifft dich zu einer Zeit,
In dem Moment, wo das erste Kind kommt, beginnt eine Retraditionalisierung der Familienverhältnisse. Und das ist nicht bildungsabhängig, das beobachten wir auch bei Akademikern.
In Zahlen: 74% der Wissenschaftlerinnen, aber nur 26% der Wissenschaftler unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt des ersten Kindes. Und während das Gros der Mütter länger als 1/2 Jahr Arbeitsauszeit nimmt, nutzen 4/5 der Männer gerade mal einen Monat Elternzeit. Wenn (und falls!)
Also alles wie
Im Workshop haben wir schon lange die wissenschaftliche Ebene verlassen. Es wird viel gejammert, wie schwer Mütter es doch haben. »Nicht nur die Arbeit, auch das Kind, Wäsche, putzen, einkaufen …« – »Und der Mann?« – »Ja, der arbeitet doch.« – »Du doch auch.« – »Stimmt.« – »Lass ihn doch mal das Kind zum Kindergarten bringen. Oder ins Bett.« Zögern. »Nein, das kann er nicht.« Hier sitzen hauptsächlich deutsche Frauen, obwohl die meisten Labore international besetzt sind. Logischerweise stehen auch die Frauen und Männer aus anderen Ländern irgendwann vor der Entscheidung, eine Familie zu gründen, ob nun hier in Deutschland oder anderswo. Wir sprechen englisch, die internationale Sprache der Wissenschaft. Das kann also nicht das Fehlen internationaler Kolleginnen erklären. Ist ihre Abwesenheit ein Zufall oder ist das Problem der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft in Wahrheit ein deutsches?
Ein Blick über die Landesgrenzen
Die
Auch dort ist sie Hauptgrund für die niedrige Frauenquote in höheren Karrierestufen. Im europäischen und weltweiten Vergleich liegt
Auch dafür gibt es Gründe.
Es gibt sie doch: Die forschenden Eltern
Die Perspektiven von 2 passionierten Forschern stehen hierfür symbolisch. Beide stecken in der Situation und haben sich bewusst für Wissenschaft und Familie entschieden.
Beide haben einen langen Weg der Ausbildung und Qualifikation hinter sich und arbeiten jetzt in Vollzeit. Sie finanzieren sich und ihre Arbeitsgruppen über eigene Projektanträge.
Was hält dich in der akademischen Forschung?
Ich habe nie groß gezweifelt.
Ich bin Vollblutforscher und Bastler.
Hast du mit Vorurteilen und Selbstzweifeln zu kämpfen?
Das ist immer noch in den Köpfen, aus der Tradition heraus: Die Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt, der Mann schafft das Geld heran. Und das ist auch noch immer so in meinem Kopf, weil es mir so vorgelebt wurde.
Politik und Hochschulen haben erkannt,
- Elterngeld
- Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ermöglicht den zügigen Wiedereinstieg in den Beruf.
- An vielen Hochschulen gibt es Notfall-Betreuungsangebote für Kinder, wenn diese krank sind und deshalb Kindergarten oder Schule nicht besuchen können, sowie Ferienbetreuungsprogramme für (Schul-)Kinder.
- Schwangere und stillende Wissenschaftlerinnen dürfen nur eingeschränkt im Labor arbeiten; an einigen Universitäten können sie für dieses Zeiten Laborhilfen beantragen.
Das ist am allerwichtigsten, dass man eine gute Betreuung hat, auf die man sich verlassen kann. Eigentlich sollte jedes Institut, jede Uni genügend Plätze für die Kinder ihrer Mitarbeiter haben.
An anderen Stellen muss noch gefeilt werden: Der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ist wichtig. Wenn aber
Es wird gezielt versucht, Frauen zu fördern, um Frauen in Führungspositionen zu bekommen. Viele Frauen trauen sich nicht, den Weg weiterzugehen, weil Vorbilder fehlen, weil sie überall nur Männer sitzen sehen.
Auffällig ist, dass sich viele Familienförderprogramme ausschließlich an Frauen richten. Auch hier überwiegt offenbar weiterhin die traditionelle Rollenverteilung – die Frau als Familienverantwortliche. Ein paar ganz praktische Verbesserungen ließen sich von heute auf morgen umsetzen:
- Besprechungen, Seminare und Vorträge statt um 18 Uhr zu familienfreundlicheren Zeiten beginnen lassen.
- Still- und Wickelräume sowie Eltern-Kind-Räume für gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern am Arbeitsplatz einrichten.
- Kommunikation von Angeboten: Es reicht nicht, dass eine Universität sich familienfreundlich nennt, aber niemand die Angebote kennt.
- Flexible Arbeitsmodelle:
Beispielsweise muss in Berufungsverfahren nicht nur auf Paper und
Ohne Eigeninitiative geht es nicht.
Man muss sich manchmal unbeliebt machen. Das System belässt in bequemer Weise die alten Zustände lieber so, wie sie sind. Dennoch muss man mal frech voranschreiten und einige Sachen einfordern. Wenn die Uni sich auf die Fahne schreibt, familienfreundlich zu sein, dann muss man sie manchmal daran erinnern.
Vieles ist hausgemacht, und viel passiert auch in den Köpfen der Frauen. Sie müssen sich mehr zutrauen, draufgängerischer sein. Nicht immer zweifeln, grübeln und nachdenken und sagen: ›Ich schaffe es nicht‹. Einfach mal mutig sein und machen. Auf jeden Fall braucht man Hilfe, und man muss den Mut haben, Hilfe anzunehmen.
Warum brauchen wir Eltern in der Wissenschaft?
Kinderlose können arbeiten, wann und wie lange sie wollen, können nach Belieben an wichtigen Konferenzen teilnehmen … Eltern sind definitiv weniger flexibel. Manchmal wird ihnen deshalb geringere Leistungsfähigkeit, mangelnder Ehrgeiz und Leistungswille unterstellt. Inklusive geringerer Wertschätzung und Förderung durch Vorgesetzte.
Dabei kann es so einfach sein, die Stärken der Eltern zu nutzen – und das gilt natürlich nicht nur für die Naturwissenschaftler:
- Effizienz: Arbeitende Eltern sind es gewohnt, punktgenau zu organisieren, den Tagesablauf klar zu strukturieren.
- Soziale Kompetenz: Sie sind im Umgang mit kleinen, uneinsichtigen Mitmenschen geschult – und geduldig. Das erfordert Einfühlungsvermögen und Kooperationsfähigkeit.
- Kreativität: Die Kommunikation mit forschungsfremden Menschen und anderen Eltern in Kindergarten und Schule erweitert die eigene Perspektive. Eine Quelle für Gedankenexperimente und neue Ideen.
Ein Kind ändert die Perspektive und erweitert den Horizont um einiges. Man sieht die Welt anders, ist bei vielen Dingen gelassener. Der Fokus auf die Dinge ändert sich, und ich denke, das täte auch vielen Wissenschaftlern einfach mal gut.
Ein Fazit:
Aus Erfahrung weiß ich, dass viele Mitarbeiter, die wegen ihrer Kinder einen Tag nicht da sind, dann abends mal länger bleiben oder am Wochenende kommen und die Zeit nachholen.
Letztendlich geht es nicht darum, ob im Labor ein Mann oder eine Frau steht, ein Vater oder eine Mutter. Viel wichtiger ist, wer dort nicht steht. Denn jeder Forscher, weiblich oder männlich, der nach langer Ausbildung und enthusiastischer Arbeit sein Handtuch schmeißt, weil er an Selbstverständlichkeiten wie der Gründung einer Familie, an Alltäglichem wie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf scheitert, weil er nicht zum fünftem Mal umziehen oder zum zehnten Mal einen Jahresvertrag unterschreiben möchte, ist verschenktes Potenzial.
Das kann sich weder die Wissenschaft noch Deutschland leisten.
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