Das ist wirklich wichtig für ein gutes Leben – sagt die längste Glücksstudie der Welt
Die Harvard Study of Adult Development begleitet ihre Teilnehmenden seit 1938. Ein neues Buch der Studienleiter erklärt, warum tiefe Beziehungen zu anderen Menschen zentral sind und wie wir sie pflegen können.
Denken Sie einen Augenblick lang an eine Beziehung, die Sie zu einem Menschen, den Sie mögen, haben, den Sie Ihrem Gefühl nach aber nicht annähernd häufig genug sehen.
Denken Sie nun daran, wie oft Sie diesen Menschen sehen. Jeden Tag? Einmal im Monat? Einmal im Jahr? Überschlagen Sie, wie viele Stunden in einem Jahr Sie mit diesem Menschen verbringen.
Wir, Bob und Marc, telefonieren zwar jede Woche oder sehen uns per Videocall, persönlich verbringen wir jedoch nur 48 Stunden im Jahr miteinander.
Wie wird sich das in den kommenden Jahren summieren? Wenn dieses Buch in den USA erscheint, wird
58 von 10.585 Tagen.
Was macht ein gutes Leben aus?
Das Buch »The good life … und wie es gelingen kann«, basiert auf solider wissenschaftlicher Forschung. Herzstück ist die Harvard Study of Adult Development, ein außergewöhnliches wissenschaftliches Unterfangen, das 1938 begann und entgegen allen Erwartungen heute noch fortgesetzt wird. Bob ist vierter Leiter der Studie, Marc sein Stellvertreter.
Die Studie hatte es sich zum Ziel gesetzt, mehr über die Gesundheit des Menschen herauszufinden, und zwar nicht anhand dessen, was ihn krank macht, sondern anhand dessen, was ihm guttut – ein für die damalige Zeit radikaler Ansatz.
Im Rahmen dieser Studie wurden die Erfahrungen und Erlebnisse im Leben der Teilnehmenden mehr oder weniger so aufgezeichnet, wie sie gerade geschahen, von Problemen der Teilnehmenden in der Kindheit über die erste Liebe bis zum Tod. Wie das Leben der Teilnehmenden war auch der Weg der Studie selbst lang und voller Wendungen: Die Forschenden verfeinerten ihre Methoden im Laufe der Jahrzehnte und dehnten sich aus, sodass sie heute drei Generationen und mehr als 1.300 Kinder der ursprünglichen 724 Mitwirkenden umfasst. Diese Studie entwickelt sich immer noch weiter und ist mittlerweile die längste tiefgehende Längsschnitt- oder
Seit nun schon 84 Jahren folgt die Harvard-Studie denselben Teilnehmenden. Es wurden Tausende von Fragen gestellt und Hunderte von Messungen vorgenommen, um festzuhalten, was den Menschen wirklich gesund erhält und glücklich macht. In all den Jahren der Studie hat sich ein Faktor als absolut entscheidend für die körperliche Gesundheit, die psychische Gesundheit und die Lebensdauer erwiesen.
Und dieser Faktor ist im Gegensatz zu dem, was wahrscheinlich viele Menschen glauben, nicht der berufliche Erfolg, die regelmäßige Bewegung oder die gesunde Ernährung.
Damit wir uns nicht missverstehen: Diese Dinge sind wichtig, sogar sehr wichtig. Doch eines ist noch wichtiger: erfüllende Beziehungen.
Unser Mann in Montana
Sterling Ainsley war ein optimistischer Mensch. Der Materialwissenschaftler hatte sich mit 63 zur Ruhe gesetzt, die Zukunft, die vor ihm lag, sah er als rosig. Sobald er nicht mehr arbeitete, begann er damit, sich seinen persönlichen Interessen zu widmen: Er belegte Kurse zu Immobilienwirtschaft und lernte Italienisch vom Band. Er hatte auch einige Geschäftsideen und las entsprechende Fachzeitschriften für Unternehmer. Nach seiner Strategie zur Bewältigung schwieriger Zeiten gefragt, antwortete er: »Ich versuche, mich vom Leben nicht nerven zu lassen. Ich denke an meine Erfolge zurück und nehme eine positive Haltung ein.«
Es war das Jahr 1986. George Vaillant, der ehemalige Leiter der Studie, unternahm eine lange Interviewreise durch die Rocky Mountains und besuchte Studienteilnehmer in Colorado, Utah, Idaho und Montana. Da Sterling den jüngsten Fragebogen nicht zurückgeschickt hatte, wollte er persönlich bei ihm vorbeischauen. Er traf sich mit ihm in Montana, um gemeinsam zu Abend zu essen. Als George in Sterlings Wagen umstieg und sich anschnallte, hinterließ der Gurt einen Staubstreifen auf seiner Brust. »Ich fragte mich«, schrieb George später, »wie lange den wohl schon niemand mehr benutzt hatte.«
Sterling hatte 1944 in Harvard seinen Abschluss gemacht. Im Zweiten Weltkrieg war er bei der Navy gewesen, dann hatte er geheiratet, war nach Montana gezogen und war Vater von drei Kindern geworden. In den darauffolgenden 40 Jahren hatte er in der Metallherstellung für verschiedene Firmen gearbeitet.
Jetzt war er 64 und lebte in der Nähe eines winzigen Städtchens auf einem rund 450 Quadratmeter großen Rasengrundstück. Dort steht sein Wohnwagen, den er an sein Auto anhängen kann. Er mochte den Rasen, weil ihm das Mähen den Großteil seiner Bewegung verschaffte. Zudem kümmerte er sich um einen Garten mit einem riesigen Erdbeerbeet und Pflanzen mit den »größten Erbsen, die Sie je gesehen haben«, so Sterling. Er lebte in einem Wohnwagen, weil ihn der nur 35 Dollar im Monat für die Anschlüsse kostete und er sich so nicht zu sehr auf einen Ort festlegen musste.
Theoretisch war Sterling noch immer verheiratet, allerdings wohnte seine Frau fast 150 Kilometer weit weg in Bozeman, und sie sprachen nur alle paar Monate miteinander.
Auf die Frage, warum sie sich nicht hatten scheiden lassen, antwortete Sterling: »Das wollte ich den Kindern nicht antun«, auch wenn sein Sohn und seine beiden Töchter erwachsen waren und inzwischen selbst Kinder hatten. Sterling war sehr stolz auf seine Kinder und strahlte, wenn er von ihnen sprach: Seine ältere Tochter war Besitzerin eines Rahmengeschäfts, sein Sohn war Schreiner und die jüngere Tochter war Cellistin in einem Orchester in Neapel.
Seine Kinder seien das Wichtigste in seinem Leben, er schien es aber vorzuziehen, die Beziehung zu ihnen rein auf die Distanz zu pflegen. Sie sahen sich kaum. In seinen Notizen hielt George fest, Sterling scheine seinen Optimismus dazu zu benutzen, seine Ängste zu verdrängen und Schwierigkeiten in seinem Leben aus dem Weg zu gehen. Er versah jede Angelegenheit mit einem positiven Etikett und schob sie dann beiseite. So konnte er glauben, dass alles in schönster Ordnung war, es ihm gut ging, er glücklich war und seine Kinder ihn nicht brauchten.
Im Jahr zuvor hatte seine jüngere Tochter ihn eingeladen, sie in Italien zu besuchen. Er hatte sich dagegen entschieden. »Ich will ihr nicht zur Last fallen«, begründete er es, obwohl er doch genau zum Zweck dieser Reise Italienisch gelernt hatte. Sein Sohn lebte nur ein paar Autostunden entfernt, trotzdem hatte er ihn seit mehr als einem Jahr nicht gesehen. »Ich bin selten da unten«, erklärte Sterling es, »ich rufe ihn lieber an.«
Als er nach seinen Enkelkindern gefragt wurde, antwortete Sterling: »Da engagiere ich mich nicht so sehr.« Sie kämen wunderbar ohne ihn zurecht.
Wer war sein ältester Freund?
Puh, so viele von ihnen sind gestorben. So viele von ihnen sterben. Ich hasse es, jemanden zu mögen. Das tut zu weh.
Er fügte hinzu, er habe einen alten Kumpel von der Ostküste, habe aber auch mit dem seit Jahren nicht gesprochen.
Und von der Arbeit?
»Meine Freunde von der Arbeit sind in Rente. Wir haben uns gut verstanden, aber sie sind weggezogen.« Dann sprach er über sein Engagement bei den VFW, einer Gruppe von Veteranen, die im Ausland gedient hatten, bei denen er es sogar einmal bis zum District Commander geschafft hatte. Allerdings hatte er die Organisation 1968 verlassen. »Es hat mir einfach zu viel abverlangt.«
Wann hatte er das letzte Mal mit seiner älteren Schwester gesprochen, und wie ging es ihr?
Diese Frage schien Sterling zu erschrecken. »Meine Schwester? Sie meinen Rosalie?«
Ja, genau, die Rosalie, von der er den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Studie früher so viel erzählt hatte.
Sterling dachte sehr lange nach und sagte dann, es müsse jetzt 20 Jahre her sein, seit er das letzte Mal mit ihr gesprochen hatte. Angst huschte über sein Gesicht. »Ob sie noch lebt?«
Sterling versuchte, nicht über seine Beziehungen nachzudenken, und war noch weniger geneigt, über sie zu sprechen. Diese Erfahrung machen wir häufig. Wir wissen nicht immer, warum wir tun, was wir tun, oder warum wir nicht tun, was wir nicht tun. Vielleicht verstehen wir auch nicht, was uns dazu bringt, die Menschen in unserem Leben auf Distanz zu halten.
Das schien auch bei Sterling der Fall zu sein. Als er gefragt wurde, wie er seine Abende verbringe, entgegnete er, er sehe fern mit einer 87-jährigen Frau, die in einem Wohnwagen in der Nähe lebe. Jeden Abend ging er zu ihr hinüber, und sie sahen fern und redeten. Irgendwann schlief sie dann ein, und er brachte sie ins Bett, wusch das Geschirr ab, schloss die Jalousien und ging nach Hause. Für ihn kam sie einer Vertrauten am nächsten.
»Ich weiß nicht, was ich mache, wenn sie stirbt.«
Einsamkeit tut weh
Wer einsam ist, hat Schmerzen, das ist nicht metaphorisch gemeint: Einsamkeit hat körperliche Auswirkungen. Sie wird mit einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit, einem geschwächten Immunsystem, einer verminderten Hirnfunktion und einem weniger erholsamen Schlaf in Verbindung gebracht, was einsame Menschen noch erschöpfter und reizbarer macht.
Jüngere Forschungen zeigen, dass Einsamkeit für ältere Menschen doppelt so ungesund ist wie Fettleibigkeit und dass chronische Einsamkeit das Sterberisiko um 26 Prozent erhöht.
Eine Studie in Großbritannien, die Environmental Risk (E-Risk) Longitudinal Twin Study, beschäftigt sich seit Kurzem mit den Zusammenhängen zwischen Einsamkeit, schlechterer Gesundheit und Selbstfürsorge bei jungen Erwachsenen. Die noch laufende Studie umfasst mehr als 2.200 zwischen 1994 und 1995 in England und Wales geborene Menschen. Diese wurden mit 18 von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gefragt, wie einsam sie sich fühlten. Bei denjenigen, die angaben, einsam zu sein, war die Wahrscheinlichkeit von psychischen Problemen, gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen und negativem Verhalten, um Stress zu bewältigen, höher.
Macht man sich dazu noch bewusst, dass durch unsere Gesellschaft gerade eine wahre Welle der Einsamkeit schwappt, haben wir ein ernsthaftes Problem, jüngere Statistiken sollten uns aufhorchen lassen.
In einer online durchgeführten Studie mit 55.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt gab jeder Dritte an, sich häufig einsam zu fühlen. Davon war die einsamste Gruppe die der 16- bis 24-Jährigen, von denen 40 Prozent berichteten, sie seien »oft oder sehr oft« einsam.
In Großbritannien werden die wirtschaftlichen Kosten dieser Einsamkeit – einsame Menschen sind weniger produktiv und wechseln häufiger den Arbeitsplatz – auf mehr als 2,5 Milliarden Pfund jährlich geschätzt – was unter anderem dazu geführt hat, dass ein Ministerium für Einsamkeit gegründet wurde.
In Japan erwarteten 32 Prozent der Erwachsenen, die man vor 2020 befragt hatte, sich in dem Jahr die meiste Zeit über einsam zu fühlen.
In den Vereinigten Staaten ergab eine Studie aus dem Jahr 2018, dass sich drei von vier Erwachsenen moderat bis höchst einsam fühlten. Im Augenblick werden die Langzeiteffekte der Covid19-Pandemie untersucht, die dazu führte, dass Menschen zu einem massiven Ausmaß allein lebten und viele Menschen isolierter als jemals zuvor waren. Für das Jahr 2020 schätzte man, dass sich 162.000 Todesfälle auf Ursachen im Zusammenhang mit sozialer Isolation zurückführen lassen.
Diese Epidemie der Einsamkeit einzudämmen ist schwierig, weil sich das, was den einen Menschen einsam macht, auf einen anderen möglicherweise überhaupt nicht auswirkt. Wir können uns nicht ganz auf leicht beobachtbare Indikatoren verlassen – beispielsweise ob jemand allein lebt oder nicht –, weil Einsamkeit eine subjektive Erfahrung ist. Der eine hat vielleicht einen Partner und eine ganze Reihe von Freunden, fühlt sich aber trotzdem einsam, während eine andere vielleicht allein lebt und nur wenige enge Kontakte pflegt, sich aber sehr verbunden fühlt.
Die objektiven Fakten reichen zur Erklärung, warum jemand einsam ist, nicht aus. Unabhängig von Ethnie, Klasse oder Geschlecht entspringt das Gefühl der Einsamkeit dem Unterschied zwischen der Art von gewünschtem und existierendem Sozialkontakt.
Zurück zum Leben
Es schadet nie, vor allem nicht, wenn wir niedergeschlagen sind, einen Augenblick über unsere Beziehungen nachzudenken und zu überlegen, was wir an ihnen vielleicht ändern könnten.
Sind Sie ein Mensch, der die Dinge gern strukturiert angeht, könnten Sie dafür sogar einen Termin festlegen, etwa jedes Jahr an Neujahr oder am Morgen Ihres Geburtstags. Nehmen Sie sich dann einige Augenblicke Zeit, Ihr soziales Universum zu betrachten, zu überlegen, was Sie nehmen, was Sie geben und wo Sie in einem Jahr stehen wollen. Vielleicht heben Sie sich die Zeichnung Ihres sozialen Universums und die Einschätzung Ihrer Beziehungen auf, um immer wieder nachsehen zu können, was sich in der Zwischenzeit möglicherweise verändert hat. In einem Jahr kann viel passieren.
Zumindest erinnert Sie diese Übung daran, was Ihnen am wichtigsten ist – und das ist immer eine gute Sache. Wir haben im Laufe der Studie festgestellt, dass die über 70- und über 80-jährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder darauf hinwiesen, dass ihnen die Beziehungen zu ihren Freunden und zu ihrer Familie am meisten am Herzen lägen.
Sogar Sterling Ainsley sagte das. Er liebte seine Adoptivmutter und seine Schwester – verlor aber den Kontakt zu ihnen. Einige seiner schönsten Erinnerungen waren Erinnerungen an Freunde – die er nie kontaktierte. Nichts war ihm wichtiger als seine Kinder – die er kaum sah. Man hätte den Eindruck gewinnen können, sie seien ihm egal, doch das war absolut nicht der Fall.
Sterling war recht emotional, wenn er von den Menschen, die er am meisten schätzte, erzählte, und seine Zögerlichkeit, einige unserer Fragen zu beantworten, stand sichtlich im Zusammenhang mit dem Schmerz, den seine Distanziertheit im Laufe der Jahre bei ihm verursachte. Sterling dachte nie wirklich darüber nach, wie er seine Beziehungen führen oder was er tun könnte, um sich angemessen um die Menschen zu kümmern, die er am meisten liebte.
Wenn wir die Erkenntnis – und in jüngerer Zeit auch die wissenschaftlichen Belege – akzeptieren, dass unsere Beziehungen zu den wertvollsten Instrumenten gehören, die es uns ermöglichen, lange gesund und glücklich zu sein, dann ist es ungeheuer wichtig, Zeit und Energie in sie zu investieren.
Titelbild: Dario Valenzuela - public domain