Selbst das Gefängnis bringt sie nicht zum Schweigen
Ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini lebt der Widerstand gegen das Regime im Iran. Viele Aktivist:innen sind inhaftiert, doch sie lassen sich nicht brechen.
Vor uns liegt ein in der Geschichte beispielloses Dokument. Ein seltsames Protokoll. Interviewerin und alle Interviewten sind politische Gefangene. Ihre Gespräche finden in den iranischen Gefängnissen statt, wo weder Journalistinnen und Journalisten noch Vertreterinnen und Vertreter der Menschenrechtsorganisationen Zugang haben. Eine einzigartige Idee, eine große Leistung von Narges Mohammadi.
Diese im Geheimen erstellten Notizen wurden aus dem Gefängnis hinausgeschmuggelt, im Ausland gedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt. Uns liegen die Interviews von dreizehn Frauen vor, aus denen wir erfahren, mit welchen perfiden Methoden die Verhörbeamten versuchen, den Opfern das Gefühl zu geben, sie seien für immer allein und aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Eindeutiges Ziel: die Persönlichkeiten zu zerstören, Gefangene zu brechen, den geringsten Widerstand unmöglich zu machen.
Doch dieses Buch, dieses aus der Gemeinsamkeit und Solidarität entstandene Werk, beweist eine innere Stärke von Frauen, die die zerstörerische Auswirkung der Folter überwindet. Dieses Buch ist ein Zeugnis für die Kraft gegenseitigen Vertrauens, das es möglich gemacht hat, an einem außerordentlichen Ort sogar über tabuisierte Themen ein vertrauensvolles Gespräch zu führen. Ein Symbol großer Zusammengehörigkeit und seelischer Verwandtschaft.
Vorwort von
»Ich fühlte mich so stark, dass ich dachte, ich könnte alles ertragen«
von Sima KianiSima Kiani ist eine
Übersetzung ins Deutsche von
Am 9. März 2017 wurde ich um 7:50 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Ich hörte, wie jemand lange meine Türklingel drückte. Ich beeilte mich, die Tür aufzumachen. Vor mir standen sieben Geheimdienstbeamte. Sie zeigten mir einen Durchsuchungsbeschluss, betraten das Haus brüllend und begannen sofort, es zu durchsuchen und uns zu bedrohen. Meine betagten Eltern waren ebenfalls anwesend und gerieten aufgrund des plötzlichen Auftauchens von sieben Männern in den frühen Morgenstunden in Panik. Die Geheimdienstler versuchten meine Mutter einzuschüchtern und sagten ständig, dass sie, wenn sie kooperieren würde, sehr bald, in etwa zwei, drei Stunden freigelassen werden würde. Nach der Durchsuchung des Hauses wurde ich in die Ermittlungsstelle von Schahr-e Rey gebracht und dort verhört. Dabei versuchten sie, mir ordentlich Angst einzujagen.
Dann wurde ich zum Untersuchungsrichter geführt und von dort aus zum
Erst dann wurde mir klar, dass ich alleine in einer Einzelzelle sein würde, ich wusste aber immer noch nicht, wo ich mich befand oder in welchem Trakt des Evin-Gefängnisses ich war. Ich durfte allerdings meine Familie kontaktieren, nachdem die ersten Formalitäten erledigt waren.
Zwei Tage später kamen die Vernehmer und sagten, dass sie mir genug Zeit gegeben hätten, um allein zu sein und mir gut zu überlegen und herauszufinden, wo ich überhaupt gelandet war.
So begannen die Verhöre. Ich wurde zehn Tage lang ununterbrochen vernommen. Die Vernehmer waren höflich, die Atmosphäre war aber enorm bedrohlich. Sie drohten mir, meine Familie zu verhaften, wenn ich nicht reden würde, oder mich in ein anderes Gefängnis zu verlegen, damit ich meine Familie nicht mehr sehen konnte. Während meiner Einzelhaft durfte ich meine Familie zwei- oder dreimal anrufen. Meine Familienmitglieder erkundigten sich mehrmals nach mir, auch am Gefängnistor bei der zuständigen Person, aber es wurde ihnen jedes Mal gesagt, dass niemand mit meinem Namen sich dort aufhalte.
An zehn aufeinanderfolgenden Befragungstagen befand ich mich in einem Raum, den sie nicht einmal Verhörraum, sondern einen »Raum für Dialog und Verhandlungen« nannten. Er war geräumig und entsprechend eingerichtet. Die Verhöre wurden von Angesicht zu Angesicht und ohne Augenbinde durchgeführt. Sie sagten, dies sei kein Verhör, sondern lediglich ein Gespräch. Trotzdem wurde ich zehn Tage lang bedroht und eingeschüchtert. Abends, am Ende des Verhörs, stellten sie mir stets ein paar Fragen über die Personen, mit denen ich gearbeitet hatte, über meine Aktivitäten oder über meine Vergangenheit. Sie gaben mir dann ein paar Vordrucke, die ich in meiner Zelle ausfüllte und auf denen ich ihre Fragen beantwortete. Morgens lasen sie meine Erklärungen und sagten ausnahmslos, dies sei nicht das, was sie erwarteten. Dann begannen sie erneut mit den Drohungen, dass ich selbst nach den Vernehmungen nicht freigelassen werden würde, dass sie mich in ein anderes Gefängnis verlegen würden. Ich würde so lange dortbleiben, bis mein Körper verfaule.
Während des Verhörs ließen sie mich oft stundenlang allein im Raum. Ich musste warten, ohne zu wissen, worauf. Was mich in dieser Zeit, auch in der Einzelhaft, massiv quälte, war, dass ich nicht wusste, was ich mit der Zeit anfangen sollte. Es gab kein Buch und keine Zeitung, mit denen ich mich ablenken konnte. Nichts. Es war außerordentlich schwierig für mich, die Zeit und die Tage so tatenlos zu verbringen. Zum Teil betete ich oder versuchte zu schlafen, damit ich nicht mehr wahrnehmen konnte, wie die Zeit so langsam verstrich. Da meine Zelle in der Nähe des Büros der Gefängniswärter war, in dem der Fernseher ständig lief, versuchte ich, zwischen allen anderen Geräuschen, die Worte herauszuhören. Ich machte Fortschritte und konnte im Laufe der Zeit nach und nach mehr verstehen. Die zehn Tage, an denen ich verhört wurde, waren besser auszuhalten, weil etwas zu tun war.
Tatsächlich litt ich so sehr unter Einsamkeit und Isolation, dass ich lieber verhört werden wollte, als allein in meiner Zelle bleiben zu müssen. Eines Tages wurde ich zu einem Fahrzeug geführt, statt wie immer im Verhörraum ausgefragt zu werden. In Begleitung einer Leibwächterin musste ich mich mit verbundenen Augen in ein Auto setzen. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir offenbar unser Ziel erreicht. Ich durfte in ein Gebäude eintreten, die Leibwächterin aber nicht. Sie wurde abgewiesen. Ich hörte nur Männerstimmen und ein reges Kommen und Gehen. Ich musste etwa eine halbe Stunde mit dem Gesicht zur Wand im Flur sitzen. Dann hörte ich einen Mann, dem wohl meine Unruhe und Besorgnis aufgefallen waren, sagen, dass die Vernehmer sich verspätet hätten und nun unterwegs seien.
Ungefähr eine Stunde später kamen sie endlich und brachten mich in einen sehr kleinen Raum. Einer der Vernehmer, der immer bei meinen Verhören dabei gewesen war, saß auch da. Sie befahlen mir zu schreiben, dass ich meine Taten bedauern und versprechen würde, mit den Geheimdienstlern zusammenzuarbeiten. Als ich dies ablehnte, begannen sie brutal zu drohen, dass sie unverzüglich meine Freunde und Familienmitglieder verhaften würden, und fragten wieder, ob ich bereit sei, mit dem Geheimdienst zu kollaborieren. Ich verneinte wieder.
Daraufhin änderten sie ihre Taktik, versuchten mehr Druck auf mich auszuüben und erklärten, dass ich bis dato noch kein »ordentliches Verhör« erlebt hätte, ab morgen würde ich es aber zu spüren bekommen, und dass ich selbst schuld sei, dass sie mich nun anders behandeln und verhören würden, nämlich mit verbundenen Augen einer Wand gegenübersitzend. Das hätte ich selbst zu verantworten. Sie taten es auch tatsächlich, nachdem ich wieder mit dem Auto zurückgebracht worden war. Ich glaube, mich an einen anderen Ort zu bringen, war ein Einschüchterungsversuch.
Kurzgefasst: Nach massiven Drohungen und psychischem Druck wurde ich in meine Zelle zurückgeschickt. Ab dem nächsten Tag begannen die Verhöre vor der Wand. Sie endeten am 20. März, dem Vortag des Neujahrsfestes. Damit waren die Verhöre abgeschlossen. Meine Unterschrift stand auf den Verhörprotokollen, die sie »Geständnisse« nannten.
Sie befahlen mir zu schreiben, dass ich meine Taten bedauern und versprechen würde, mit den Geheimdienstlern zusammenzuarbeiten
Der Beginn der Neujahrsfeiertage war die schlimmste Zeit meiner Einzelhaft. Die Tage waren träge, die Zeit verging langsam. Es gab nichts, mit dem ich mich beschäftigen konnte. Der April war sehr regnerisch. Mein einziger Zugang zur Außenwelt war ein kleines Fenster an der Decke, das mit einem Gitter versehen war. Drei- oder viermal am Tag öffnete der Gefängniswärter die Tür, um mir Essen, Tee oder Medikamente zu geben. Ich wartete ungeduldig auf diese Mahlzeiten, nach denen ich die Tageszeit messen und einordnen konnte. Zum Beispiel gab es Frühstück zwischen halb acht und acht und Mittagessen zwischen zwölf und zwölf Uhr dreißig, gegen sieben Uhr gab es Abendbrot. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte ich, damit mir kein Wort, kein Ton in der Umgebung entgehen konnte. So konnte ich mich einigermaßen beschäftigen.
Ich litt enorm unter Schlaf- und Appetitlosigkeit. Insgesamt konnte ich vielleicht eine Stunde oder zwei Stunden schlafen. Trotzdem hatte ich auch angenehme Zeiten, die allmählich länger und intensiver wurden. Ich habe mich nie Gott und dem
Geistig stellte ich mir vor, dass ich in einem Kloster oder Tempel wäre. Meine Haftzeit habe ich als eine Gelegenheit wahrgenommen, die mir das Leben geschenkt hat, um nachzudenken, zu beten und bei mir und dem Heiligen Bahaʾullah zu sein.
Das Gefühl, aus diesen sehr schweren Zeiten das Beste machen zu müssen, war einzigartig. Eine derartige Erfahrung hatte ich zuvor noch nie gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich mir wünschen konnte, erfüllt werden würde, aber ich wollte nichts als die Zustimmung und die Anerkennung des Heiligen Bahaʾullah. Es war ein seltsames Gefühl. Ich dachte, dass der Heilige mich aus dem Alltag genommen und mir eine außergewöhnliche Gelegenheit geboten hatte, um mit ihm allein zu sein. Diese Momente waren so intensiv, dass ich sie nicht beschreiben kann. Ich fühlte mich so stark, dass ich dachte, ich könnte alles ertragen.
Während der dreizehntägigen Neujahrsfeiertage hatte ich kein Verhör. Mir wurde nur alle zwei Tage ein zwanzigminütiger Spaziergang gegönnt. Allmählich, als die Wächter mich besser kennengelernt haben, erlaubten sie mir sogar eine halbe Stunde, auf die ich immer ungeduldig wartete.
Es war eine wohltuende Zeit in meiner Einzelhaft. Ich durfte oft im Hinterhof, der mit einer transparenten Wellplatte bedeckt war, im Regen spazieren gehen. Da konnte ich laut beten, weinen und intime Gespräche mit »meinem Herrn« führen. Ich fühlte mich jedes Mal sehr erleichtert, wenn ich anschließend in die Zelle zurückging.
Je länger meine Haftzeit dauerte, desto weniger schlief ich. Ich konnte fast nicht mehr schlafen, nur alle paar Stunden einige Minuten dösen. Ich konnte ebenfalls fast nichts essen und litt unter Nierenproblemen und Flüssigkeitsmangel. Aufgrund von übermäßigem Stress und geringer Flüssigkeitszufuhr stieg mein Blutdruck sehr stark, und ich musste am 4. April die Gesundheitsabteilung im Gefängnis aufsuchen.
Am 5. April sagte mir der Wächter um neun Uhr morgens: »Mach Dich auf den Weg und geh runter. Die Vernehmer sind zurück und wollen mit Dir reden.« Ich ging runter in den Vernehmungsraum. Die Vernehmer waren von meinem Anblick schockiert. Der erste Satz von einem von ihnen war: »Ich sehe schon, dass achtundzwanzig Tage Einzelhaft bei Dir Spuren hinterlassen haben. Du siehst echt fertig aus.« Ich fragte: »Warum haben Sie mich hier festgehalten? Ich bin krank. Meine Eltern brauchen mich.« Sie antworteten: »Du musst immer noch vernommen werden. Wenn die Ermittlung abgeschlossen ist, kannst Du gehen.«
Ich bin zuversichtlich, dass die Zukunft meines Landes leuchtend und frei sein wird
Nachdem sie bemerkt hatten, wie stark ich mich nach Freiheit sehnte, sagten sie: »Wir können Dich aber nicht so einfach gehen lassen. Wir wollen einen Film mit Dir drehen. Abgesehen davon: Das Verhör wird auch nach Deiner Entlassung noch anhalten …«
Und so war es auch. Das heißt, ich wurde nach meiner Freilassung mehrmals angerufen, in die Ermittlungsstelle der Stadt bestellt, verhört und bedroht. Bis sie mir sagten: »Mit Dir kommen wir nicht weiter, wir sind in einer Sackgasse gelandet.« Erst dann haben sie aufgehört, mich zu sich zu bestellen.
Ich lehnte zuerst ab, gefilmt zu werden. Sie sagten, dies sei die einzige Bedingung für die Freilassung, und damit basta. Während der Einzelhaft hatte ich bis dato mehr als sieben Kilo abgenommen und litt unter Flüssigkeitsmangel. Infolge der Beschwerden hatte ich starke Schmerzen an der linken Niere, und mein linkes Auge war fast blind. Der Arzt, den ich nach meiner Freilassung aufgesucht habe, stellte fest, dass die Hornhaut aufgrund von Angstzuständen stark geschädigt worden war. Am nächsten Tag, das heißt am 6. April, wurde der Druck härter und die Drohungen intensiver. Sie brüllten und wiederholten ständig: »Du bleibst hier, bis zu dem Tag, an dem Dich alle vergessen. Wir verlegen Dich in einen anderen Knast. Du darfst bis zum Prozess niemanden mehr sehen.«
Sie betonten immer wieder: »Die einzige Bedingung für die Freilassung ist, dass Du gefilmt wirst, sonst gibt es keinen Gerichtsprozess.« Und sie erklärten mir: »Vor der Kamera sagst Du das, was Du sowieso geschrieben hast.« Schließlich fragte ich nach einer Bedenkzeit, ging zurück in meine Zelle und betete stundenlang. Dann lenkte ich ein und stimmte zu.
Nach der Dramaturgie, die sie sich ausgedacht hatten und die sie mir nun erklärten, sollte das Video in drei Abschnitten gedreht werden. Im ersten Teil sollte ich mich vorstellen, im zweiten Abschnitt über meine agitatorischen Aktivitäten sprechen und im dritten Teil über den Verwaltungsrat »Yaran Iran« sowie über meine Beziehungen zu Ratsmitgliedern in der Zeit, in der sie die Gemeinde verwaltet hatten. Preisgeben sollte ich ebenfalls die Art und Weise, wie die Mitglieder von »Yaran Iran« es geschafft hatten, das Haus des Heiligen Bahaʾullah zum kulturellen Erbe erklären zu lassen, und wie die Generaldirektion des Kulturerbes das Haus erworben hatte. Ich sollte alles, was ich in diesem Zusammenhang wusste, erzählen.
Nach ihrem Szenario durfte ich keinen Augenkontakt mit meinem Vernehmer haben, der am Drehort anwesend war. Sie wollten, dass ich den Tschador, mit dem ich meinen Körper immer bedeckt hatte, beiseitelegte. Das wies ich vehement ab. Ich sollte ihnen eigentlich einen Monolog in narrativer Form abliefern. Es sollte kein Dialog oder Frage-Antwort-Spot werden.
Dann wurde ich nach den Dreharbeiten zur Ermittlungsstelle gebracht, damit meine Freilassung gegen Kaution vorbereitet werden konnte. Nach zwei Tagen wurde ich endlich entlassen.
Eine Stunde vor meiner Freilassung wurde ich noch in eine andere Zelle versetzt. Dort traf ich eine Journalistin. Erst da erfuhr ich von ihr, dass ich in der Sicherheitssektion 209 des Evin-Gefängnisses saß.
Schließlich verließ ich das Gefängnis am Nachmittag des 20. April. Das war eine besondere und vielleicht unwiederholbare Erfahrung in meinem Leben. Eine Erfahrung, die mit vielen Schwierigkeiten und ganz besonderen spirituellen Momenten verbunden war. Ich hoffe, dass die daraus entstehenden Auswirkungen mich bis zum Ende meines Lebens begleiten.
Und ich bin zuversichtlich, dass die Zukunft meines Landes leuchtend und frei sein wird und bald keine Vorurteile, kein Hass und keine Feindschaft in diesem Land mehr herrschen werden.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily