Ist Corona noch ein Problem? 10 Antworten zum Herbst
Angepasste Impfstoffe, steigende Infektionszahlen und neue Virusvarianten: Das denken Expert:innen über die Lage in den kommenden Monaten.
Der Sommer ist zu Ende und langsam steigt auch die Zahl der Menschen mit COVID-19 wieder an. Der Unterschied zu den letzten Jahren: In diesem Herbst gibt es weder Masken- noch Testpflicht. Der rechtliche Rahmen für die Coronamaßnahmen ist bereits am
Mittlerweile gibt es jedoch andere Methoden als Tests, um die Verbreitung der Viren zu messen, auch ein angepasster Impfstoff steht schon bereit. Reicht das, um gut durch den Herbst zu kommen?
Um diese Frage zu beantworten, habe ich an einem
- Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt
- Leif Erik Sander, Direktor der Abteilung für Infektiologie und Leiter der Arbeitsgruppe für personalisierte Infektionsmedizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin
- Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Wie sie die diesjährige Corona-Lage einschätzen – und was die Daten sagen –, erfährst du in den Antworten auf diese 10 Fragen:
1. Wie ist die aktuelle Lage in den Krankenhäusern?
Laut dem
Manche dieser Patient:innen müssen auch ins Krankenhaus. Intensivmediziner Stefan Kluge vergleicht die Lage in den Krankenhäusern mit der Situation im letzten Jahr zu dieser Zeit. »Viele sind einfach mit Corona, mit den neuen Varianten im Krankenhaus, weil sie wegen anderer medizinischer Probleme aufgenommen werden«, erklärt der Mediziner im Pressebriefing des SMC. Die wenigsten seien wegen Corona eingeliefert worden.
Personalmangel ist ein Problem in Krankenhäusern
Auch wenn die Lage derzeit nicht angespannt sei, könne es in den nächsten Monaten zu Engpässen kommen. »Was unser größtes Problem ist auf den deutschen Intensivstationen, ist der Fachkräftemangel, der Personalmangel gerade im Pflegebereich«, sagt Kluge. »Wir wissen aus vielen Berichten und auch
Die Stationen seien sehr gut ausgelastet, auch weil viele Patient:innen nach großen Operationen standardmäßig auf der Intensivstation nachbeobachtet werden. Auch viele andere akute Erkrankungen, wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Lungenentzündung durch andere Erreger, trügen laut Kluge zur Auslastung bei. »Wenn im Herbst/Winter jetzt COVID-19-Patienten oder auch Influenzapatienten, Grippepatienten oder andere Patienten mit schweren Virusinfektionen dazukommen, dann bekommen wir natürlich Probleme«, sagt Kluge. Gerade dann, wenn Personal zeitgleich erkranke.
2. Wie genau sind derzeit die Messungen der Corona-Infektionszahlen?
Verpflichtende Tests gibt es nicht mehr – deshalb ist ziemlich sicher, dass es neben den gemeldeten Infektionen eine hohe Dunkelziffer gibt. »Wir haben während der Hochzeit der Pandemie wirklich alle Mitarbeiter mehrfach wöchentlich getestet«, sagt Intensivmediziner Stefan Kluge.
Damals sei das Infektionsgeschehen allerdings ein anderes gewesen, mit Varianten, die deutlich gefährlicher gewesen seien als jetzt. »Jetzt ist es so, dass in den Kliniken nur noch bei Atemwegssymptomen getestet wird«, sagt Kluge.
Asymptomatische beschwerdefreie Mitarbeiter oder Patienten werden heute in deutschen Krankenhäusern nicht mehr getestet.
In anderen Ländern sei das anders, erklärt Virologin Sandra Ciesek. Israel screene beispielsweise seit Kurzem wieder alle Neuaufnahmen im Krankenhaus. »Vielleicht gar nicht, weil sie befürchten, dass es zu einer Gefahr kommt, sondern einfach um bessere Daten zu erheben. Das passiert in Deutschland in der Systematik im Moment nicht«, sagt die Virologin.
Auch die Sequenzierung von Viren findet in Deutschland nur noch eingeschränkt statt, seit die Coronavirus-Surveillanceverordnung im Juli 2023 ausgelaufen
3. Warum macht das RKI Abwassertests und kann das helfen?
Um trotz der wenigen Tests mehr Klarheit über die Infektionslage zu gewinnen, lässt das RKI Abwasser-Analysen durchführen. Dafür werden regelmäßig Proben an verschiedenen Stellen entnommen, um zu überprüfen, ob sie Sars-CoV-2 enthalten. Dabei unterscheiden sich die Messungen von Woche zu Woche: Während in der 36. Kalenderwoche noch 23 Stellen getestet wurden, waren es in der vergangenen Woche (KW 37) nur 15.
Laut Sandra Ciesek seien die Abwasserdaten in Deutschland derzeit noch nicht repräsentativ und hätten auch mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen. »Man muss beim Abwasser, gerade wenn man quantifiziert, immer noch ganz viele Faktoren mitberechnen, wie zum Beispiel die Menge an Regen in den letzten Tagen und Wochen«, sagt die Virologin. Zudem kann die Viruslast im Abwasser keinen Aufschluss darüber geben, wie schwer Infektionen verlaufen, wie viele Menschen Symptome zeigen oder wie stark das Gesundheitswesen belastet ist.
Die Abwasser-Daten können eher Tendenzen aufzeigen und andere Daten, wie Testergebnisse und die Auslastung der Krankenhäuser, ergänzen. Gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Parametern, kann das beispielsweise ein Anlass dafür sein,
4. Welche Virus-Variante herrscht in Deutschland gerade vor – und wie gefährlich ist sie?
Aktuell kommen in Deutschland vor allem rekombinante Varianten des Virus vor. Diese Viren entstehen, wenn 2 unterschiedliche Versionen des Erregers genetisches Material austauschen. Damit das passiert, muss eine Körperzelle zeitgleich mit 2 unterschiedlichen Virus-Varianten infiziert sein. Laut RKI ist ein Großteil der aktuell zirkulierenden Viren
Mit einem Anteil von jeweils 23% an allen sequenzierten Viren waren in Kalenderwoche 36 die Varianten EG.5 und XBB.1.16 am häufigsten vertreten, auch diese beiden sind Sublinien der Omikron-Variante. In der vergangenen Woche dominierte EG.5 mit einem Anteil von 32%. Kürzlich konnte auch die sogenannte »Pirola-Variante« (BA.2.86) erstmals in Deutschland nachgewiesen werden, bisher allerdings nur ein einziges Mal. Sie stammt ebenfalls von einer Omikron-Linie ab und wurde von der WHO als »besorgniserregend« eingestuft. Sie ist an vielen Stellen mutiert und steht deshalb in Verdacht, den bestehenden Immunantworten des Körpers leichter zu entkommen.
»Es ist natürlich zu erwarten, dass das Virus sich weiterentwickelt und das nutzt, wenn es sich weiter an den Menschen anpassen kann«, sagt Virologin Sandra Ciesek. Wahrscheinlich sei, dass ein Virus in einem
Trotz der Einstufung der WHO sieht Ciesek aktuell noch keinen Anlass zur Sorge. »Ich selber habe immer gesagt, solange es Omikron bleibt, bin ich relativ entspannt, weil wir alle jetzt schon Omikron hatten, manche mehrmals geimpft sind und dadurch auch ein gewisser Schutz vor einem schweren Verlauf weiterbesteht«, sagt die Virologin. Allerdings müssten laut Ciesek noch weitere Daten gesammelt werden. Hierbei verlasse sich Deutschland derzeit sehr auf andere Länder.
5. Gibt es einen aktualisierten Impfstoff, und was taugt der?
Seit Anfang dieser Woche ist der erste angepasste COVID-19-Impfstoff in Deutschland verfügbar.
Die Anpassung läuft ähnlich wie bei Influenza-Impfstoffen ab: Im Frühjahr überlegten Forschende, wie der Impfstoff im Herbst aussehen muss, um möglichst viele Menschen zu schützen. Die Wahl von BioNTech fiel auf ein
Wie gut sie schützen, wird man, und das muss man ehrlich sagen, im Nachhinein sehen.
Man müsse sehr große Studien machen, um das beurteilen zu können. »Aktuell liegen nur im Preprint-Format Immunitätsdaten vor und die zeigen eben das, was man erwarten konnte, dass sich die Antikörper-Antwort durch einen Booster mit der XBB.1.5-angepassten Impfung noch mal verbreitert und dann auch Antikörper gebildet werden, die diese Variante wieder besser neutralisieren können«, so Sander.
Anders als im letzten Jahr enthält der Impfstoff keine Antigene, die vom Virus-Wildtyp abgeleitet wurden. Zu wenig haben die aktuellen Varianten noch mit dem Ursprungsvirus zu tun.
6. Wer sollte sich jetzt noch impfen lassen?
Aktuell empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) allen Erwachsenen eine Basisimmunität: Das bedeutet laut STIKO 3 Kontakte mit Virus-Antigenen – entweder durch Impfungen oder Infektionen. Infektiologe Leif Erik Sander nimmt an, dass die meisten Menschen in Deutschland bereits mehrere Infektionen mit COVID-19 durchgemacht haben.
»Von daher geht man davon aus, dass auch eine einmalige Impfung ausreichen kann, um den Impfschutz zu komplettieren«, sagt Sander. Weil derzeit Omikron-Varianten zirkulierten, mache es zudem Sinn, auch bei einer Erstimpfung die angepassten Impfstoffe zu verwenden. »Es ist auch praktisch schwierig für Leute, überhaupt noch an den ursprünglichen Impfstoff heranzukommen«, sagt Sander.
Wer grundimmunisiert, gesund und unter 60 Jahre alt ist, soll sich der STIKO zufolge nicht noch ein weiteres Mal impfen. Auffrisch-Impfungen empfiehlt die Kommission
- Personen im Alter ab 60 Jahren,
- Personen im Alter ab 6 Monaten, die aufgrund einer Grundkrankheit besonders gefährdet sind, schwer an COVID-19 zu erkranken,
- Bewohner:innen in Einrichtungen der Pflege sowie Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf in Einrichtungen der Eingliederungshilfe,
- Personal in medizinischen Einrichtungen und in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen mit direktem Patient:innen- bzw. Bewohner:innenkontakt,
- Familienangehörigen und engen Kontaktpersonen von Personen, bei denen durch eine COVID-19-Impfung vermutlich keine schützende Immunantwort erzielt werden kann.
Die Auffrisch-Impfung solle dabei möglichst in einem Mindestabstand von 12 Monaten zur letzten COVID-19-Impfung oder SARS-CoV-2-Infektion durchgeführt werden. »Wenn man kürzlich eine Infektion hatte – und auch das sehen wir natürlich in eigenen Studien –, führt das dazu, dass die Immunantwort sehr stark aufgefrischt wird«, sagt Leif Erik Sander.
Wer in keine der oben genannten Gruppen fällt, es aber trotzdem für sinnvoll hält, sich impfen zu lassen, sollte mit seinem Arzt oder seiner Ärztin darüber sprechen. Gibt es keinen medizinischen Grund für die Impfung, kann es sein, dass die Kosten für den Impfstoff selbst getragen werden müssen.
In manchen Ländern sieht die Impf-Empfehlung anders aus als in Deutschland: In den USA wird beispielsweise allen
7. Kann ein Booster auch Nachteile haben?
Nein, sagen die Expert:innen im Briefing des Science Media Center. »Es gibt immer wieder Studien, und ich nenne das jetzt mal Behauptungen, dass wiederholte Impfungen zu einem Gewöhnungseffekt führten oder gar nachteilig wären«, erklärt Infektiologe Leif Erik Sander. »Nach jeder Boosterkampagne haben wir im Nachhinein, insbesondere aus Israel und aus Amerika, Echtweltdaten bekommen, die sehr gut statistisch adjustiert waren und die klar gezeigt haben: Es hat einen signifikanten Vorteil, weil diejenigen, die sich boostern haben lassen, statistisch gesehen seltener verstorben sind und seltener ins Krankenhaus gekommen sind.«
8. Wenn ich schon geimpft bin oder bereits eine Infektion hatte, wie groß ist dann das Risiko, bei einer erneuten Coronainfektion an Long Covid zu erkranken?
Wenn es um Long Covid geht, haben Mediziner:innen nach wie vor ein Problem:
Mehr wissen die Forschenden über andere Folgeerkrankungen wie Lungenentzündungen, Herzinfarkte und Schlaganfälle, die nach Virusinfektionen wie der Grippe, aber auch COVID-19 auftreten können.
Long und Post Covid seien dagegen sehr heterogene Krankheitsbilder, betont der Mediziner: »Da sind Immunantworten involviert, da ist vielleicht auch Antigenpersistenz an einigen Stellen involviert, da sind mitochondriale Fehlsteuerungen
9. Gibt es jetzt eine »vorhersehbare« Coronasaison?
Laut Virologin Sandra Ciesek sei die Saisonalität des Virus noch nicht wirklich vorhersehbar. Das Virus verändere sich noch viel häufiger und viel schneller als die endemischen Coronaviren. »Ich sage immer, das ist so ein bisschen diese ruckelige Übergangszeit, wo das Virus sich noch verändert«, sagt Ciesek. Wellen entstünden derzeit vor allem durch Varianten, die etwa eine bessere Immunflucht oder Übertragbarkeit aufwiesen und sich deshalb rascher verbreiteten, so die Virologin.
»Man sieht aber trotzdem so ein Muster, was jetzt auch auffällt nach den Sommerferien, wenn der Herbst beginnt. Die Zahlen steigen. Trotzdem sind wir immer noch geprägt von der Evolution und von weiteren Varianten bei SARS-CoV-2, und erst wenn das zur Ruhe kommt, erwarte ich, dass man wirklich eine echte Saisonalität sehen wird«, sagt die Virologin.
10. Gibt es etwas, was den Forschenden mit Blick auf den Herbst Sorgen bereitet?
»Wenn Sie mich persönlich fragen, fürchte ich neue Varianten eigentlich nicht bzw. sehr wenig«, sagt Stefan Kluge. Als Wissenschaftler würde er jedoch generell nichts ausschließen. Auch Ciesek glaubt weniger an große Überraschungen.
Das wird so ähnlich wie letztes Jahr, und es ist einfach ein Nervfaktor für alle, wenn die Erkältungssaison kommt, wenn die Infektionen ansteigen. Ich gehe davon aus, dass sehr viele von uns noch einmal in der kommenden Saison eine Coronainfektion durchmachen werden.
Solange Omikron zirkuliere, sehe sie jedoch keine Gefahr, dass sich die Situation groß verändere oder dass der Staat Maßnahmen gegen das Virus verhänge.
Leif Erik Sander sieht die Situation im Gesundheitswesen etwas kritischer. »Uns fehlt insgesamt Personal, wir haben insgesamt ein strukturelles Problem im Gesundheitswesen. Und diese saisonalen Anstiege von Infektionskrankheiten und die zunehmende
Das kann auch wieder dazu führen, dass Leute in die Rettungsstellen gehen und stundenlang warten müssen und nicht behandelt werden können und vielleicht in weit entfernte Krankenhäuser verlegt werden müssen, weil nichts frei ist, was eine Kombination aus vielen Infektionen und Personalmangel ist.
Um derartigen Situationen vorzubeugen, gilt nicht nur bei COVID-19: Wer krank ist, sollte zu Hause bleiben. Nur so lassen sich unnötige Ansteckungen vermeiden. Dabei könne es den Expert:innen zufolge auch helfen, im Zweifel eine Maske zu tragen, auch wenn keine Pflicht dazu besteht. Man könne sich durch eine FFP2-Maske sehr gut schützen, betont Sandra Ciesek. »Das machen ja die Pflegenden im Krankenhaus genauso und werden ja auch nicht von jedem Patienten infiziert«, sagt Ciesek. »Zum anderen lohnt es sich aber auch für alle von uns, wenn man zum Beispiel eine Reise plant oder eine Hochzeitsfeier oder wenn man irgendwelche wichtigen Events hat.«
Dieser Einschätzung schließt sich auch Leif Erik Sander an:
Es kann Situationen geben, mit sehr vielen Menschen, in denen die Maske wieder ein gutes Mittel sein kann, um das Infektionsrisiko zu reduzieren. Wir sind aus der Pandemie raus, aber die Viren sind noch da.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily