Immer mehr Bücher werden in den USA verbannt. Du solltest sie lesen
Konservative in den USA geben sich viel Mühe, bestimmte Inhalte verschwinden zu lassen. Wir zeigen anlässlich der »Banned Books Week«, was sie verbergen wollen – und warum.
Momentan grassiert eine unerhörte Welle von Bücherverbannungen in den USA, die immer mehr an Fahrt aufnimmt. Allein dieses Jahr sollten dort bisher 1.900 Buchtitel aus Bibliotheken verschwinden –
Die Lage sei ernst, mahnt die American Library Association, die gerade die US-amerikanische »Woche der verbannten Bücher« abhält.
Manche Medien nennen das
Doch es ist komplexer als das. Auch in Deutschland gibt es Zensur-Rufe. Daher lohnt sich ein Blick in die umstrittenen und teils verbotenen Werke umso mehr.
Zensur auf dem Vormarsch
Die Zahl der gemeldeten Buch-Anfechtungen im Jahr 2022 hat sich gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt.
Was es mit der Zensur in den USA auf sich hat
Die
Es gibt 400.000 Wörter in der englischen Sprache und 7 davon kann man im Fernsehen nicht sagen. Was ist das für ein Verhältnis! 399.993 zu 7. Sie müssen wirklich schlecht sein. Sie müssten unverschämt sein, von einer so großen Gruppe getrennt zu werden. […] Das haben sie uns gesagt, erinnern Sie sich? »Das ist ein schlechtes Wort!« Keine schlechten Gedanken, schlechten Absichten und Worte! Sie kennen doch die 7, nicht wahr? »Shit«, »piss«, »fuck«, »cunt«, »cocksucker«, »motherfucker« und »tits«.
Carlin hatte recht. Als er die 7 dreckigen Wörter im selben Jahr als Teil seiner Show auf einem Sommerfest in
So funktioniert Informationsunterdrückung in einem Land, in dem Zensur per Verfassung verboten ist.
Um die Free Speech zu umgehen, agieren Behörden auf Basis regionaler Auslegungen vager Gesetze wie der »Störung des öffentlichen Friedens« und einer sich wandelnden öffentlichen Moral. Carlins Fall ist nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass Informationsunterdrückung aus Moralgründen in den USA eine unrühmliche Tradition hat. Wie aktuell das Thema noch ist, macht die derzeit laufende »Banned Books Week« deutlich, die über aktuelle Zensurbestrebungen aufklärt. Denn von denen gibt es immer mehr:
Die Banned Book Week in den USA

1982 ins Leben gerufen, heute vor allem getragen von Amnesty International und der American Library Association. Sie informiert über versuchte oder erfolgreiche Zensurvorhaben in den USA und gibt eine Liste mit den betroffenen Werken heraus. Traditionell findet sie in der letzten Septemberwoche statt, dieses Jahr aber in der ersten Oktoberwoche.
Bildquelle: ALA American Library Association»Wir erleben derzeit im ganzen Land und auf allen Regierungsebenen enorme Angriffe auf die Freiheiten des Ersten Verfassungszusatzes. Die Zensur nimmt zu und ist zutiefst beunruhigend«,
Diese 4 Bücher sollen in (Teilen der) USA nicht gelesen werden
PEN America – eine gemeinnützige Organisation, die sich für den Schutz der freien Meinungsäußerung in den USA einsetzt – zählt mehr als 100 solcher Gesetzesentwürfe, die 2022 in Bundesstaaten eingebracht wurden. Seit 2021 sind es über 180. Das wohl bekannteste ist das »Gesetz für die Rechte der Eltern im Schulunterricht« vom US-Hardliner und republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ron DeSantis,
Folgende Bücher verschwanden daraufhin beispielsweise:

Anne Frank’s Diary: The Graphic Adaptation: Das »Tagebuch der Anne Frank« wurde 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Darin beschreibt die Jüdin Annelies Marie Frank die Geschehnisse in den Niederlanden von 1942 bis zum 1. August 1944. Zunächst schreibt die damals 13-Jährige über ihren Alltag unter NS-Herrschaft und wachsenden Anfeindungen, Angst und Einschränkungen. Dann versteckt der Vater die Familie im Hinterhaus einer Amsterdamer Firma. Annes Berichte drehen sich um das harte Leben in Angst vor Entdeckung, aber auch um Sehnsucht, Einsamkeit und ihre erwachende Sexualität. Anne Franks letzter Tagebucheintrag stammt vom 1. August 1944, 3 Tage vor ihrer Verhaftung. Das Werk wurde vielfach verfilmt und in über 70 Sprachen übersetzt. Es gilt als historisches Dokument aus der Zeit des Holocausts und das geschilderte Leben der Protagonistin als Symbol für die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus.
Die Graphic Novel Adaption erschien zum 70. Jahrestag der Erstveröffentlichung und ist autorisiert vom Anne Frank Fonds. Sie bietet einen neuen, visuellen Zugang zur wahren Geschichte. Das Buch wurde in den USA aus Schulbibliotheken in Florida und Texas verbannt. Ein Beispiel: Die Vero Beach High School in Florida entfernte

Art Spiegelmann: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden ist eine Graphic Novel und erzählt autobiographisch das Ringen von Art Spiegelmann mit der Vergangenheit seines Vaters Wladek, der ein Konzentrationslager überlebt hat. Dabei geben die einzelnen Kapitel die Gespräche zwischen Vater und Sohn wieder. Dargestellt wird dies allerdings als Fabel, in der Juden und Jüdinnen als Mäuse, Deutsche als Katzen und US-Amerikaner:innen als Hunde verfremdet werden – eine direkte Anspielung auf die rassistischen und entmenschlichenden Tiermetaphern des NS-Regimes. Das Werk zeigt dabei visuell eindrücklich die Vernichtung von Menschenleben im Holocaust und wie schwer es Überlebende haben, diese Vergangenheit zu bewältigen und zu kommunizieren.
Das Werk ist mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und wird weltweit in der Schule und im Studium bei Unterrichtseinheiten über den Holocaust verwendet. Der Schulbezirk McMinn County in Tennessee verbannte das Buch ab 2022 aus dem Unterricht und ließ es aus Bibliotheken entfernen. Der Grund der empörten Behörde:

Alison Bechdel: Fun Home – A Family Tragicomic. Die autobiographische Graphic Novel erzählt die Jugend der lesbischen Alison in einer prüden Kleinstadt in Pennsylvania. Dabei steht vor allem die dysfunktionale Beziehung zu ihrem Vater, dem Bestatter und Lehrer Bruce, im Mittelpunkt. Der steckt lieber seine Zeit in das gemeinsame Haus, als mit seiner Tochter zu sprechen. Nur langsam kommt Alison seinem Geheimnis auf die Spur: Auch er ist heimlich homosexuell. Als Bruce’ Frau die Scheidung verlangt, tötet er sich selbst und Alison muss ihren Frieden mit ihrer Beziehung zu ihm finden. Erzählt wird die Geschichte dabei in einer nichtlinearen Struktur mit zahllosen Anspielungen auf die Weltliteratur von Oscar Wilde bis Marcel Proust. Melancholisch zeichnet Fun Home das Ringen einer jungen, unangepassten Homosexuellen mit ihrer Identität und Umgebung nach.
Fun Home erhielt

Sherman Alexie: The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian. Der Roman erzählt die Geschichte des 14-jährigen Arnold Spirit Jr., der in einem Reservat nahe Washington aufwächst. Durch diverse körperliche Unzulänglichkeiten wie Hydrocephalus (umgangssprachlich »Wasserkopf«), einer kleinen Statur, Stottern und Lispeln hat er es schwer und wird oft gemobbt. Dazu kommt die extreme Armut seiner Familie, die seine Jugend bestimmt. Nur in seinem Freund Rowdy und ihrer gemeinsamen Liebe für Comics findet er etwas Trost. Ansonsten ist der Roman eine typische Jugendgeschichte um Liebschaften, Sport, Erwachsenwerden und Tragödien – nur eben durch eine armutsbetroffene Native-American-Brille. Perspektivlosigkeit, Glücksspiel, Ausgrenzungen, Gewalt und Alkoholismus werfen ein recht realistisches Bild auf das Leben der amerikanischen Ureinwohner:innen in den USA. Als Besonderheit enthält das Buch Cartoonzeichnungen, die manche Erlebnisse illustrieren und kommentieren.
Das Buch fand sehr positive Rezensionen, erhielt diverse Preise wie die »American Library Association’s Best Books for Young Adults«-Auszeichnung und wird in den USA und in Deutschland im Englischunterricht dazu verwendet, Schüler:innen die Lebenswelt der Native Americans näherzubringen. Zwischen 2010 und 2019 war es das durch Elterninteressen am meisten herausgeforderte Buch in den USA mit Fällen in Nebraska, Oregon, Wisconsin und Michigan. Die angeführten Gründe reichen von »Beschreibung von Gewalt und Sexualität« über »nichtchristliche Sichtweise« bis zu »antifamiliär«. 2023 entfernte der
Was hinter der Verbannungswut steckt
Die 4 Bücher stehen exemplarisch für eine Vielzahl von anderen Werken, die der aktuellen Verbotslaune mancher Bundesstaaten zum Opfer fallen. Dabei werden auffallend häufig Graphic Novels angefeindet und »vulgäre Sprache« oder »sexuelle Darstellung« als Grund angeführt – seit George Carlins 7 dreckigen Wörtern scheint sich auf den ersten Blick wenig getan zu haben. Die Lösung liegt scheinbar auf der Hand: Würden Autor:innen die Bücher einfach ohne »piss«, »fuck« und »cunt« schreiben – und keine Nacktheit mehr zeigen –, dann hätten die prüden Eltern nichts mehr zu meckern. Doch der Eindruck täuscht.
John Green, Autor des unter US-konservativen Eltern verhassten Jugendromans »Looking for Alaska« um Suizid und Schuld, benennt das eigentliche Problem hinter der Verbannungswelle: »Bad Faith Arguments.«
Wenn man diese Passage in einer Schulratssitzung aus dem Kontext reißt, klingt es im Wesentlichen so, als wäre die Szene das genaue Gegenteil von dem, was sie ist. Es ist wirklich anstrengend, wenn die Leute dein Buch hassen, es aber nicht lesen, was hier im Allgemeinen der Fall ist.
Greens Vermutung ist dieselbe, die auch Journalist:innen und der Buchverband American Library Association teilen: Hier werden nur Argumente gesucht, um bestimmte Bücher verschwinden zu lassen. Der Grund ist ein ganz anderer.
Wer danach sucht, dem fällt auf, dass sich ein Großteil der angefeindeten Werke mit der Sicht von in den USA unterdrückten Minderheiten befassen – jüdische Menschen, Homosexuelle, Queers, Native Americans – dazu meist geschrieben von liberalen, progressiven Autor:innen. Der Verdacht liegt nahe, dass es gezielte Vorstöße sind, um den Konservativen unliebsame Themen wie Geschlechtsidentität und Rassismus zu unterdrücken und die Vermittlung von Geschichte zu kontrollieren – allen voran das in den USA seit Aufkommen der
Angefochtene Titel zwischen 1. Januar und 31. August 2023
Eine Anfechtung kann dazu führen, dass der Zugang zu einer Schule oder öffentlichen Bibliothek beibehalten, eingeschränkt oder entzogen wird.
Es dürfte auch eine Machtdemonstration einer Partei und politischen Weltsicht sein, die bei den letzten US-Wahlen der demokratischen Mehrheit unterlag. Damit wäre die aktuelle Verbannungswelle tatsächlich Teil eines politischen Kulturkampfes, der den nächsten Wahlkampf prägen dürfte.
Dafür fantasieren sich führende Politiker:innen wie Ron DeSantis mit diesem Kulturkampf ein
Noch handelt es sich hierbei um eine in den USA schon immer vorherrschende Art der Zensur, vorangetrieben von politisch aufgeregten Sittenwächter:innen und »Schützt unsere Kinder!«-Rufen – ermöglicht von einzelnen Gesetzen und konservativen Schulbehörden. Sollten die Republikaner:innen die kommende Wahl 2024 gewinnen, könnte das aber auch schnell umschlagen.
Immerhin: Die Bemühungen der besorgten Verbotswilligen sorgen regelmäßig dafür, dass die von ihnen angefeindeten
Amerikanischer Albtraum? Fassen wir uns lieber an die eigene Nase …
Aus deutscher Perspektive fällt es leicht, über solche Verbots-Impulse in den USA die Nase zu rümpfen. Dabei gibt es diese Impulse auch hierzulande zur Genüge. Beispiel gefällig?

Erst 1995 landete »American Psycho«, der berühmte Roman des US-amerikanischen Autors Bret Easton Ellis, auf dem Index. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien sah es als erwiesen an, dass die Geschichte um den egomanischen 26-jährigen New Yorker Börsenmakler und Serienmörder Patrick Bateman gefährlich für jugendliche Lesende sei – moralisch verrohend und frauenfeindlich sowieso.
»Schützt unsere Kinder!« – Der Wahlspruch von vielen, die gerne etwas verbieten wollen
Natürlich ist das Urteil über 20 Jahre her. Doch es zeigt: Auch hierzulande gibt es die Impulse zur geistigen Bevormundung.
Was darf die Bundesprüfstelle?
Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien kann Medienerzeugnisse genau genommen nicht zensieren, sondern lediglich indizieren, da sie für Jugend-, aber nicht für Erwachsenenschutz zuständig ist. Indizierte Inhalte sind nicht mehr frei verkäuflich.
Wir sollten also zumindest hellhörig werden, wann immer jemand ein Verbot fordert – und warum; von rechten Verbotsrufen gegen Bücherlesungen von Dragqueens (um die Kinder vor »Indoktrination« zu schützen!) bis zum hessischen Antisemitismusbeauftragten,
Vielleicht kann diese Perspektive helfen, die nächste erregte »Darf man das noch Lesen?«-Diskussion um ein unglückliches Jugendbuch oder einen Literaturklassiker mit ein paar dreckigen
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily