Diese Ärztin hat noch das, was viele wollen: Zeit
Andrea Ibing gehört zu einer aussterbenden Art: Sie ist eine Hausärztin auf dem Land. Noch dazu eine, die mehr als nur Medikamente verschreibt und schnell an Spezialisten verweist. Sie hört den Menschen wirklich zu.
Es ist ein Uhr Mittag, als sie vom Hausbesuch kommt. Sie war kurz außer der Reihe um die Ecke, ein Trinker, dem vielleicht die Leber stirbt. Andrea Ibing kennt ihn lange, sie nimmt sich Zeit, sooft sie kann. Sein Zustand geht ihr nahe. War wohl das eine Bier zu viel. Jetzt hastet sie mit ihrem speckigen Arztkoffer durch den Hausflur, guckt auf die Uhr, muss zurück in die Praxis. Das Wartezimmer ist gleich wieder voll.
Vor dem Fahrstuhl steht eine Mutter, ihre Tochter wimmert im Buggy. Sie hat keinen Termin, aber ihr Kind hat sich brüllend durch die letzte Nacht gefiebert. 40 Grad, sagt die Mutter, schlimmer Husten, sie weint.
Ich guck es mir mal an, sagt Andrea Ibing. Macht ihr die Tür auf. Sie kann nicht anders als helfen. Helfen ist ihr Beruf.
Die Praxisräume sind hell, freundlich, sie haben so gar nichts mit Krankheit zu tun. Kinder bollern Spielzeugautos gegen die Wände, auf denen Rapsfelder und eine bunte Weltkarte leuchten. Es wuselt, es lärmt, aber die Mitarbeiter machen nette Sprüche, die auch mal laut werden.

Andrea Ibing behandelt häufig einen Klempner, der weg von den Drogen will. Er repariert die Wasserhähne, wenn sie tropfen.
Sie mag die Menschen, die zu ihr kommen, und die Bodenständigkeit der Gegend. In Rothenburgsort quatscht keiner nur blöd rum. Das halbe Viertel war schon bei ihr. In meiner Dorfpraxis, wie sie sagt. Dabei sind es nur ein paar Kilometer über die Elbbrücke zur Innenstadt von Hamburg. Man redet knapp, aber ehrlich. Oft auch ein wenig rau, und manchmal will eine alte Frau, die ihre Einsamkeit quält, nicht über den hohen Zucker sprechen. Sondern darüber, dass sich der Sohn nicht mehr meldet. Andrea Ibing hört ihr zu.
Titelbild: Sven Creutzmann - copyright