Diese Steine erzählen, wohin Deportationsfantasien führen
Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern wir an Menschen, die wegen dieser mörderischen Ideologie ermordet wurden. Das ist heute wichtiger denn je.
Es war der 5. September 1942, an dem Fritz Wachsner mit seiner Ehefrau Paula nach Riga deportiert wurde. Wachsner war Jude, ein beliebter, engagierter Lehrer und Direktor der jüdischen Joseph-Lehmann-Schule in Berlin-Charlottenburg. Hier war damals auch die Wohnung der Wachsners. Diese musste das Ehepaar zurücklassen – genau wie ihren Sohn und ihre Tochter. Beide Kinder sollten ihre Eltern nicht wiedersehen:
Seit 2014 erinnert ein
Beide wohnten zeitweise in der Stargarder Straße 65/66 in Berlin. Die Geschichten Wachsners und Hammes zeigen, wie mörderisch Ausgrenzung sein kann. Deswegen kämpfen auch vermehrt queere und Schwarze Menschen darum, das Leid aller Verfolgter während der NS-Zeit in Erinnerung zu rufen. Die jüngsten Enthüllungen um geheime Treffen Rechtsextremer zeigen,
Mehr als 10.000 homosexuelle NS-Opfer
100.000 Stolpersteine erinnern inzwischen in ganz Europa an die Opfer des Nationalsozialismus – es gilt als größtes dezentrales Mahnmal der Welt. Dass in der Stargarder Straße nun auch ein Stolperstein an das Leid Paul Hammes erinnert, liegt an der Beharrlichkeit des Lehrers Rupert Haag. Er engagiert sich seit Jahrzehnten bei Amnesty International für die Rechte homosexueller Menschen. Ich treffe ihn am Stein für Paul Hamme. Rupert Haag hat einen Schwamm und Politur dabei. Gewissenhaft bringt er den Stein wieder auf Hochglanz. Es habe ihn geärgert, dass es »viel zu wenige Stolpersteine für schwule Männer gibt«, erzählt er.
Sexuelle Handlungen zwischen Männern
Die längste Zeit verbrachte Paul Hamme in einem der sogenannten Emslandlager im Westen von Niedersachsen. Sie bestanden aus einer Kette von 15 Straf-, Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager, in denen die Menschen Torf stechen und Moore trockenlegen mussten. Zehntausende Häftlinge kamen ums Leben, meist aufgrund körperlicher Misshandlung, Entkräftung oder durch Infektionskrankheiten. »Mehr als 3 Seiten der Gerichts- und Prozessakten konnte ich nicht auf einmal lesen, weil ich immer weinen musste«, erinnert sich Haag an seine Recherche. »Besonders schlimm war es zu erfahren, dass er völlig abgemagert mit nur noch 64 Kilo Körpergewicht Schwerstarbeit im Gefangenenlager verrichten musste.« Der 16. Februar 2023 ist ein wichtiger Tag für Haag, weil nicht nur der Stolperstein für Paul Hamme verlegt, sondern auch ein Schritt hin zur Bekämpfung »der Unsichtbarkeit der queeren Opfer durch die Nazi-Diktatur« gemacht wurde.
»Nie wieder« gilt immer
Mit dem gleichen Ziel wurde im August vergangenen Jahres (ebenfalls in Berlin) ein Stolperstein für Käte Rogalli verlegt – und dem Mahnmal damit ein weiteres Mosaiksteinchen hinzugefügt.
»Nur weil sich Käte nicht wie die Männer von damals kleidete, wurde sie in ein Konzentrationslager deportiert«, erzählt Initiator:in der Verlegung und trans* Historiker:in
Auch wenn sich bis heute vieles gebessert hat, sieht Kai* Brust Kontinuitäten. Noch immer erleben trans* Personen viel Diskriminierung. Deshalb »sind sie überdurchschnittlich von Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen«, so Kai*. Die gesellschaftliche Feindseligkeit und soziale Ausgrenzung drängt sie an den Rand der Gesellschaft, Jugendliche mit trans* Identitäten haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Gerade weil heute längst nicht alles gut sei, setze die Verlegung ein Zeichen für »mehr Sensibilisierung für die Realität der Betroffenen und mehr Sichtbarkeit von trans* Personen, die den Nazis zum Opfer gefallen sind«, sagt Kai*.
Gemeinsam für das Gedenken aller einstehen
Mehr Sichtbarkeit fordert auch die
Die NS-Herrschaft zwang Schwarze Menschen in einen Überlebenskampf; es galt, möglichst unauffällig zu leben. »Schwarze Zeitzeug:innen berichteten, dass sie sich auch nach 1945 aus Vorsicht weiterhin bedeckt hielten«, erklärt Della. Und auch heute gibt es wieder zahlreiche Schwarze Menschen, die sich in Deutschland unwohl fühlen. Kein Wunder, Deportationsfantasien sind noch immer in den Köpfen der Menschen, wie das geheime Treffen von Rechtsextremen in Potsdam zeigt. Aus diesem Grund »sind alle aufgerufen, Erinnerungskultur zu betreiben«, hält Della fest, »für Angehörige ist das überaus bedeutsam«.
So auch für Abenaa Adomako, deren Großeltern ausgegrenzt und entrechtet wurden. Adomakos Familie bezeugt, dass Schwarze Geschichte in Deutschland weit zurückreicht. 1891 kam ihr Urgroßvater aus Kamerun nach Deutschland und eröffnete einen sogenannten Kolonialwarenladen. Sein Geschäft florierte und er genoss Ansehen in der Stadt. In der NS-Zeit begann dann die Verfolgung, unter der die gesamte Familie litt. Der Urgroßvater starb schließlich an einem Herzinfarkt. An das Leid der Familie erinnern heute noch Stolpersteine in der Gaudystraße in Berlin-Pankow.
»Für meine Familie war diese Zeit mit extremer Belastung verbunden«, erzählt Adomako. »Meine Mutter wurde bei der Verlegung der Steine sehr sentimental. Sie berührte uns sehr und erfüllte uns mit Trauer, aber auch mit Freude.« Adomako erhofft sich mit der wachsenden Diversität bei den Stolpersteinen mehr Bewusstsein, Verständnis und Empathie – das bis ins Jetzt reicht. »Letztens wurde ich rassistisch auf der Straße angefeindet«, sagt sie. »Vor allem in der Bildungslandschaft muss sich noch einiges tun.« Die Perspektive von Schwarzen Menschen werde im Bildungsplan nicht ausreichend berücksichtigt.
500.000 ermordete Sinti und Rom:nja
Ähnlich ergeht es
Er macht Bildungsarbeit an Schulen, um genau das zu tun, was er sich von seinen Lehrer:innen gewünscht hätte. Als Nachfahre von Angehörigen, die wegen ihrer Sinti-Identität von den Nazis verfolgt wurden, spielt Erinnerung für ihn eine wichtige Rolle. »Aus der Vergangenheit können wir viel lernen. Doch dafür muss sie auch zur Gänze besprochen werden.« Dazu gehört auch, darüber zu sprechen, dass antiziganistische Vorurteile heute weiter bestehen. »Studien zeigen, dass viele Deutsche Sinti und Rom:nja nicht als Nachbar:innen haben möchten«, sagt der junge Mann. Zu einer guten Erinnerungskultur gehörten auch Stolpersteine, doch ihm sei aufgefallen, »dass viele Leute gar nicht wissen, wofür die Gedenksteine in den Gehweg eingelassen werden. Da braucht es auch mehr Aufklärung«.
Zwar nicht viele, doch einige Stolpersteine erinnern auch an den Völkermord an Sinti und Rom:nja, zum Beispiel auf der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte, wo mehrere Steine der Familie Adler liegen. Sie wurden ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Gewalt, planmäßiger Essensentzug und Menschenversuche gehörten hier zum Alltag. Sie überlebten Auschwitz nicht.
Neue Enthüllungen zeigen, wie wichtig der Kampf gegen Ausgrenzung ist
Peter Kraus liefert einen Grund, warum das Gedenken und Erinnern auch in der jetzigen Zeit so wichtig ist: Antiziganismus. Die jüngsten Enthüllungen des Recherchenetzwerks »CORRECTIV« zu dem Geheimtreffen von Rechtsextremen nahe dem Wannsee, liefern einen weiteren Anlass. Bei dem Treffen in einer Villa ging es unter anderem um die Vertreibung von Millionen von Menschen aufgrund rassistischer Kriterien. Mit dabei waren hochrangige AfD-Politiker:innen und sogar CDU-Mitglieder. Noch immer sind also menschenverachtende Gedanken und Pläne, die denen der Nazis ähneln, in den Köpfen rechtsextremer Menschen vorhanden – und sie reichen bis in die Mitte der Gesellschaft.
Wehret den Anfängen, heißt es seit Jahrzehnten – doch sind das alles noch Anfänge? NPD, NSU, Reichsbürger, zahlreiche rassistische Chatgruppen bei der Polizei, die sich stetig radikalisierende AfD und jetzt das Treffen. Menschen verbreiten Hass und Hetze, Gewalttaten von ganz rechts nehmen zu.
»Vergangenheit kann die Gegenwart lehren«
Doch es gibt auch Zeichen, die Mut machen: Hunderttausende Menschen in Deutschland antworteten auf das Treffen der Rechtsradikalen mit Demos für die Demokratie und gegen Rassismus.
Stolpersteine sind kleine Mahnmal-Mosaiksteinchen gegen das Vergessen. Das Gedenken vergegenwärtigt, wozu Hass und Ausgrenzung führen können. »Vergangenheit kann die Gegenwart lehren«, sagt der Historiker Jörg Waßmer im Gespräch. Dafür werde Erinnerung benötigt und der Stolperstein für seinen Großonkel solle in seinen Augen eben das leisten: erinnern und im besten Fall lehren. Alois Zähringer wurde aufgrund seiner Mehrfachbehinderung vergast – er wurde nur 18 Jahre alt. Mit den Stolpersteinen gelangen das Gedenken und die Erinnerung aus den abgeschlossenen Stätten auf die Straßen in den Städten und Gemeinden – und damit in den Alltag aller. Dabei ist die Diversität bei den Stolpersteinen wichtig, damit die Vielfalt der Opfer anerkannt werden kann. Jeder Mensch, der während dieser furchtbaren Zeit verfolgt und getötet wurde, verdient es, dass seine Geschichte erzählt wird.
Redaktion: Benjamin Fuchs
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily