Der Krieg verändert in Israel alles. Ein Überblick
Seit rund einer Woche herrscht wieder Krieg in Israel. Wie es dazu gekommen ist, was nun passiert ist und was all das für Israel zur Folge haben könnte, erfährst du in dieser Übersicht.
Der 7. Oktober 2023 zerteilt die Geschichte Israels in ein Vorher und ein Nachher. Schon vor diesem Tag war im Land nicht alles so sonnig und lässig, wie man an es an der Strandpromenade von Tel Aviv hätte vermuten können. Doch in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober entfesselte die radikalislamische Hamas ihren Terror, der alles veränderte: Während viele Israelinnen und Israelis gerade Schabbat-Ruhe hielten, drangen rund 1.500 Kämpfer vom Gazastreifen nach Israel ein. Sie ermordeten und entführten scheinbar wahllos Zivilist:innen. Seitdem gelangen immer neue, grausame
Ein massiver Terrorschlag, nach dem nichts mehr ist wie zuvor – kein Wunder, dass die Vergleiche zum 11. September 2001 nicht lange auf sich warten ließen. Beide Ereignisse haben das Sicherheitsgefühl der Menschen massiv erschüttert: In den USA, der größten Militärmacht der Erde, hätte sich vor 9/11 niemand vorstellen können, wie viel Leid und Zerstörung eine Handvoll Terroristen in so kurzer Zeit anrichten könnten. Auch Israel hatte sich bis letzte Woche trotz regelmäßiger Angriffe der Hamas und anderer Terrorgruppen ein gewisses Gefühl der Sicherheit bewahrt; auch weil der technologisch ausgefeilte Raketenschutzschild »Iron Dome« die vergleichsweise einfach gebauten Geschosse der Terroristen meist abgefangen hatte. Gegen die massive Bodenoffensive war aber auch der »Iron Dome« machtlos.
Verstärkt wird das Ohnmachtsgefühl durch das offenkundige Versagen der Sicherheitsdienste.
Erbarmungslose Kämpfe stehen ins Haus
Umso erbitterter könnten die Militäraktionen werden, mit denen Israel nun die Hamas überziehen will. »Was wir unseren Feinden in den kommenden Tagen antun werden, wird in ihnen für Generationen nachhallen«,
In Gaza, so darf man befürchten, wird das ohnehin große Leid der Zivilbevölkerung auf absehbare Zeit noch wachsen. Nicht nur durch militärische Zerstörungen, sondern auch durch die vollständige Abriegelung der Grenzen, die Engpässe bei Nahrungs- und Energielieferungen zur Folge haben wird. Das einzige Kraftwerk in Gaza wurde aufgrund von Treibstoffmangel bereits abgeschaltet.
Neue Einigkeit – nach Jahren der Spaltung?
Vereint nun Benjamin Netanjahu das Land in einem »Kampf gegen den Terror« wie schon US-Präsident George Bush nach dem 11. September? Für die Zeitdauer des Kampfes gegen die Hamas hat Netanjahu die Opposition an einer Notstandsregierung beteiligt:
Das Parlament in Jerusalem hat bewegte Zeiten hinter sich: Seit 2019 wurde 5-mal gewählt, weil die Regierungen immer wieder vorzeitig zerbrachen oder aufgrund der ständigen Pattsituationen zwischen Netanjahus Anhängern und Gegnern erst gar nicht gebildet werden konnten. Diese Entwicklung gilt als Beleg für eine fortschreitende politische Spaltung des Landes, die auch mit einer zunehmenden Entsäkularisierung einhergeht. Anders gesagt: Nationalreligiöse Kräfte treiben eine Besinnung der Politik auf das Religiöse voran.
Die nationalreligiöse Rechte verweist auch auf Religion, wenn es um völkerrechtlich mindestens umstrittene Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland geht: Aus ihrer Sicht steht das alttestamentarische »Samaria und Judäa« Israel zu und nicht den Palästinensern, wie es im
Justiz-Umbau bis kurz vor Staatskrise
All diese Entwicklungen stoßen moderaten, linksliberalen und säkularen Jüd:innen sowie palästinensischen Israelis zunehmend bitter auf. Doch keine von ihnen spaltete das Land so sehr wie die Pläne zum Umbau der Justiz: Netanjahu und seine Koalition aus Nationalreligiösen und Rechtsextremen erdachten in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen, die die Gewaltenteilung grundlegend verändern würden. Dazu muss man wissen, dass Israel keine Verfassung besitzt, sondern seit der Staatsgründung 1948 das Zusammenwirken der Institutionen in einer Reihe von Grundgesetzen festgeschrieben hat. Es gibt keine Bundesländer oder sonstige föderale Gewaltenteilung und auch keine Parlamentskammer. Die Knesset als einziges Organ der Legislative hat also eine große Machtfülle, die durch ein ebenfalls starkes Oberstes Gericht in Schach gehalten wird. Etwa mithilfe der sogenannten Angemessenheitsklausel, die den Richter:innen ein Vetorecht gegen »nicht angemessene« Gesetze an die Hand gibt.
Die Pläne zur Abschaffung dieser Klausel, aber auch weitere Änderungen brachten viele Menschen in ernsthafte Sorge um die israelische Demokratie. Seit Jahresbeginn gab es immer wieder Großdemos, an denen in dem 9-Millionen-Einwohner:innen-Land teils über eine Million Menschen teilnahmen. Im Juli brachte die Regierung ihr Gesetz trotzdem durch die Knesset, im September begannen Anhörungen vor dem Obersten Gericht dazu. Eine Entscheidung der Richter:innen, ihre eigene Entmachtung zu billigen oder eben zu verwerfen, würde nach Ansicht einiger Staatsrechtler:innen fast automatisch eine Staatskrise nach sich ziehen; aktuell steht die Entscheidung noch aus. Doch seit dem terroristischen Überfall der Hamas liegt der Umbau der Justiz erst einmal auf Eis. Solange die Notstandsregierung besteht, soll hier laut Premierminister Netanjahu nichts Weiteres geschehen.
»Das Schicksal des Landes steht auf dem Spiel«, sagte er bei der ersten Fernsehansprache mit den weiteren Spitzenvertretern der Notstandsregierung, dem bereits erwähnten Gantz sowie Verteidigungsminister Joav Galant. Er wolle »alle Differenzen beiseitelegen«, gelobte Netanjahu.
Ob seine Kritiker:innen das auch wollen? Angesichts der erschütternden Angriffe dürfte diese Frage noch nicht sofort beantwortet werden – aber es ist davon auszugehen, dass am Ende ein Nein steht.
Solidarität in der Krise – und danach?
Israel stehen also in vielerlei Hinsicht historisch schwierige Zeiten ins Haus: Allen voran die komplizierte Militäroperation gegen die Hamas. Dabei ist auch großes Leid in der israelischen wie der palästinensischen Zivilbevölkerung zu befürchten. Andere Feinde Israels wie der Iran oder die Hisbollah im Libanon, aber auch der Islamische Dschihad und andere extremistische Gruppierungen könnten die für sie günstige Gelegenheit nutzen und den Konflikt durch weitere Angriffe noch unübersichtlicher und gefährlicher machen. Aus dem Libanon flogen in den vergangenen Tagen bereits Kugeln und Raketen auf israelische Panzer. Erst wenn diese Situationen einigermaßen unter Kontrolle sind, werden sich die Schwierigkeiten auf die politische Ebene verlagern: Gelingt es dann, den Schaden an Staat und Gesellschaft durch den Umbau der Justiz doch noch abzufedern?
Die Kehrseite ist: Neben all dem Leid schwappt gerade auch eine Welle der Solidarität durch das Land.
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