Wie Paris die Kehrtwende von der Auto- zur Fahrradmetropole meistert
Während Berlin und andere deutsche Städte bei der Verkehrswende nur schleppend vorankommen, baut sich die französische Hauptstadt im Eiltempo um. Unser Autor hat sich in Paris umgehört, wie die Transformation gelingt.
Paris: Die Stadt des Fahrrads? Scheinbar über Nacht hat sich die französische Hauptstadt von einem vom Stau geplagten Verkehrsmoloch in ein wahrhaftes Paradies für Radler, Flaneure und Anhänger:innen der Verkehrswende verwandelt. Bilder von fröhlichen Pariser:innen, die in Scharen die neuen Radwege bevölkern, gehen regelmäßig viral.
Doch sind Aufnahmen von radelnden und flanierenden Menschen auf ehemaligen Fahrspuren und stillgelegten Schnellstraßen wirklich repräsentativ für die Rückeroberung des öffentlichen Raums von Paris? Um mir selbst ein Bild zu machen, habe ich die Stadt besucht. Ich habe Politiker:innen, Aktivist:innen und Bürger:innen getroffen, die den Prozess der Verkehrswende aktiv gestalten, konstruktiv begleiten und kritisch beobachten. Was sie trotz mancher Meinungsverschiedenheit eint: Sie sehen eine Stadt im Aufbruch, eine Stadt mit klarem Ziel und politischem Programm. »Ihr habt ein Paris gewählt, das atmen kann«, verkündete die Bürgermeisterin Anne Hidalgo in ihrer Siegesrede nach ihrer Wiederwahl 2020. Ich wollte wissen: Wie riecht die Luft im »neuen Paris«? Welcher Wind weht nun in der Metropole?
Ein neuer Anfang
Wer die Anfänge der Pariser Verkehrswende sucht, muss ein ganzes Stück in der Zeit zurückgehen: ins Jahr 2001. Damals beendete der Sozialist Bertrand Delanoë eine 130 Jahre lange Ära konservativer Bürgermeister und zog als erster Linker seit 1871 ins Rathaus ein. Der Linksrutsch veränderte den politischen Kurs der Stadt. Über Jahrzehnte waren dem Auto Tür und Tor geöffnet gewesen und Paris berüchtigt für Verkehrschaos und schlechte Luft. Delanoë setzte sich für saubere Luft, weniger Autos und besseren Nahverkehr ein. Er baute neue Straßenbahnlinien und rief das populäre
2014 wurde er von seiner Vizebürgermeisterin und Wunschkandidatin Anne Hidalgo beerbt. Sie führte fort, was Delanoë als Keim gepflanzt hatte, und erklärte den Kampf gegen die Luftverschmutzung zum Leitmotiv ihrer Verkehrspolitik – ein kluger politischer Griff, um sich nicht den Vorwurf einer Antiautopolitik anheften zu lassen. Denn gegen gute Luft kann man schwer Stimmung machen.
Im Mittelpunkt der neuen Politik steht das Fahrrad.
Seit einigen Jahren verfolgt die Stadt ein weiteres ehrgeiziges Ziel: Bis zu den Olympischen Sommerspielen 2024 soll ein neues,
Hidalgo gelang es in beeindruckend kurzer Zeit, ein Netz aus geschützten Radwegen zu errichten, das in Qualität und Dichte europäische Top-Standards erfüllt. Durch all diese Bemühungen sprang Paris 2022 im angesagten
Rue de Rivoli in Paris
Auch die Fußgänger:innen verlor Hidalgo nicht aus dem Blick. Der im Juni 2023 vorgestellte
Das autobefreite Ufer der Seine in Paris
Nicht allen gefällt die heile neue Radwelt
Doch wie reagieren Pariser:innen auf den Umbau ihrer Stadt? Hidalgo fordert mit ihrer Verkehrspolitik die eingeübten Alltagspraktiken der Einwohner:innen heraus. »Ich fahre schon lange nicht mehr mit dem Auto in die Stadt«, sagt mir eine ältere Dame auf dem Bürgersteig der Rue de Rivoli und fügt hinzu: »Es gibt hier einfach zu viele Fahrräder.« Ob sie die Entwicklung gut oder schlecht finde, will sie mir nicht sagen. »Hidalgo ist hier sehr umstritten, aber das sind eigentlich alle Politiker in Frankreich«, verabschiedet sie sich lachend. Auch ein anderer Pariser betont mir gegenüber, wie umstritten Hidalgos Verkehrspolitik sei. In einer aktuellen
Insgesamt sind diese Umfrageergebnisse schwer zu deuten und spiegeln eher das übliche Misstrauen wieder, das in Frankreich grundsätzlich gegenüber Amtsträger:innen herrscht. Für die Opposition ist das natürlich ein gefundenes Fressen, um Hidalgo eine Politik der Spaltung vorzuwerfen. Denn auch auf politischer Ebene ist Paris gespalten. Die Arrondissements im Westen der Stadt werden mehrheitlich von konservativen Parteien regiert, die Hidalgos Verkehrspolitik weitgehend ablehnen. Die Arrondissements im Ostteil hingegen werden von der Regierungskoalition aus Sozialisten, Grünen und Kommunisten angeführt, die den Kurs der Bürgermeisterin mittragen. Die Kommunalwahl 2020 war daher eine Richtungswahl. Hidalgo war unter anderem mit dem Versprechen angetreten, jeden zweiten Parkplatz der Stadt abzuschaffen. Was in Deutschland einer politischen Kapitulation gleichkäme, sicherte Hidalgo eine weitere Amtszeit. Am 28. Juni 2020, inmitten des ersten Coronasommers,
Der Wahlsieg verhalf auch Florent Giry ins Amt. Seit 2020 ist er stellvertretender Bürgermeister für Mobilität des Bezirks Paris Centre und sieht in der Wiederwahl eine klare Bestätigung für Hidalgos Verkehrspolitik. »Es ist wichtig, seine Ziele klar zu benennen«, sagt er. »Wir haben vor der Wahl klar gesagt, dass wir eine konkrete Zahl an Parkplätzen abschaffen und eine konkrete Zahl an Bäumen pflanzen wollen, und sind dafür von einer Mehrheit der Pariser:innen gewählt worden.« Für ihn steht fest: »Wir werden unsere Politik bis zur nächsten Wahl fortsetzen und auch wenn wir den Konservativen den ein oder anderen Kompromiss einräumen müssen, ist unsere Haltung: Wir haben gewonnen, probiert euer Glück bei der nächsten Wahl.«
Corona und Olympia als Katalysatoren des Wandels
Hidalgo hat das Tempo der Veränderung seit 2020 intensiviert. Corona wirkte wie ein Katalysator für den Umbau der Stadt, denn in Zeiten von Social Distancing entdeckten viele Pariser:innen das Fahrrad für sich. Neben der Pandemie sorgte ein großer Streik der Verkehrsbetriebe 2020 für einen Anstieg des Radverkehrs um unglaubliche 67%. »Das Fahrrad ist in Paris ein Verkehrsmittel für die Fahrt zur Arbeit geworden«, sagte Hidalgo. Die Stadtregierung nutzte die Gunst der Stunde und
In Fahrradweg umgewandelte Fahrspur in Paris
Ein weiterer Beschleuniger für Hidalgos Politik ist die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Die Stadt will dies nutzen und sich der Welt als ökologische, moderne und gesunde Metropole präsentieren. Neue Grünflächen sollen entstehen,
Einige Vorhaben geraten zwischen den Fronten ins Stocken
Doch mit einem anderen Projekt stößt Hidalgo nun an ihre Grenzen. Pünktlich zu Olympia sollten alle Dieselautos mittels strenger Abgaswerte aus der Stadt verbannt werden. Doch daraus wird erst mal nichts. »Wir müssen das Projekt leider etwas verschieben«, gesteht Florent Giry. Aufgrund nationaler Gesetzgebung liegt ein Ausschluss von Dieselfahrzeugen nicht allein im Zuständigkeitsbereich der Stadt, sondern muss mit der Metropolregion abgestimmt werden, die das Pariser Umland umfasst. Weil diese aber von einer Mitte-Rechts-Regierung angeführt wird, gibt es Widerstand; diese führt Sorgen um die sozialen Folgen einer solchen Maßnahme als Gegenargument an, viele ärmere Haushalte könnten sich kein neues Auto leisten. Auch wenn Giry diese Sorge versteht, wendet er ein: »Wir Pariser:innen haben mit 1/3 die wenigsten Autos, leiden aber am stärksten an der Luftverschmutzung – das ist nicht fair.« Die Stadtregierung bedauere die Verschiebung der Maßnahme, aber früher oder später werde das Dieselverbot kommen, versichert Giry.



Auch ein anderes Vorhaben von Hidalgo wurde verschoben. Schon im vergangenen Jahr wollte die Verwaltung die Innenstadt vom Durchgangsverkehr befreien, doch das Vorhaben wurde auf Ende 2024 verschoben. »Wir haben bei der Umsetzung erneut einige technische und juristische Schwierigkeiten«, so Giry. In Frankreich ist die automatische Kennzeichenerfassung mittels Kamera, die dabei zum Einsatz kommen sollte, noch verboten. »Wir setzen deshalb erst mal auf polizeiliche Kontrollen, auch wenn sie nicht so effizient wie Kameras sind.«
Der Staat bremst zusätzlich, indem er einige Hauptstraßen von der Regelung ausnehmen möchte, was jedoch aus Sicht von Giry das Vorhaben komplett aufweichen würde: »Wir sind jetzt in Gesprächen mit der Nationalregierung, verbessern unser Konzept und schließen uns mit anderen Großstädten zusammen, um den Druck auf den Staat zu erhöhen, damit dieser alsbald einen rechtlichen Rahmen liefert«, beschreibt er die Taktik.
Bei einer anderen Maßnahme habe die rechtliche Umsetzung zwar geklappt, doch an der Durchsetzung mangele es noch. Seit dem 30. August 2021 etwa gelte in Paris auf fast allen Straßen Tempo 30, auf manchen Nebenstraßen sogar Tempo 20. Für die Kontrolle sei der Staat zuständig. »Wir dürfen weder Blitzer aufstellen noch Bußgelder verlangen«, klagt Giry. Es werde daher einige Jahre dauern, bis man sich die Kompetenz eingeholt habe und eigenständig Temposünder erwischen könne.
Der nächste Fokus im Umbau: Grünflächen
Doch Paris lässt sich nicht beirren. Hidalgos Administration ist entschlossen, die Jahre bis zur nächsten Wahl 2026 effektiv zu nutzen und die französische Hauptstadt konsequent umzubauen. Neben dem Verkehr steht mittlerweile auch die ökologische Stadtentwicklung im Fokus. Am Telefon erzählt mir der stellvertretende Pariser Bürgermeister Christophe Najdovski, der auch für die Grünflächen zuständig ist: »Wir haben in Hidalgos erster Amtszeit die Mobilitätsrevolution ausgerufen. In ihrer zweiten Amtszeit rufen wir die Begrünungsrevolution aus.«

170.000 Bäume sollen in den nächsten Jahren gepflanzt werden. Herzstück der grünen Transformation ist
Wer durch Paris läuft, sieht das. An vielen Orten wurden Asphalt und Steine aufgebrochen, Parkplätze zurückgebaut und neue Fußgängerzonen geschaffen. Kaum jemand dokumentiert diesen Wandel besser als der Blogger Emmanuel Marin. Auf X (vormals Twitter) betreibt er einen erfolgreichen Account, auf dem er regelmäßig Vorher-nachher-Bilder von neuen Radwegen und umgestalteten Straßen teilt. »Ich habe für diese Sachen eine Art fotografisches Gedächtnis«, verrät er. »Ich fahre durch die Stadt und merke sofort, wenn sich irgendwas verändert hat. Dann mache ich ein Foto und suche auf Google Street View das alte Straßenbild.«



Emmanuels Bilder dokumentieren auf beeindruckende Weise Hidalgos Politik. Sie sind das Zeugnis einer Stadt im Wandel, die sich nicht scheut, dem Autoverkehr Platz zu nehmen und diesen lebenswert umzugestalten.
Das Tempo, mit dem Paris die ökologische Wende vorantreibt, ist im europäischen Maßstab einzigartig. Auch wenn fast jede internationale Großstadt ambitionierte Pläne zu ihrer Ökologisierung geschrieben hat, scheitern diese oft an der Umsetzung und plötzlichen politischen Machtverschiebungen. Noch ist der konservative Widerstand vielerorts groß und die Bevölkerung leicht gegen jegliche Veränderungen zu mobilisieren. Auch Hidalgos Politik ist sowohl von Erfolg als auch von Rückschlägen gezeichnet – und doch hat ihre Regierung innerhalb weniger Jahre ein solides Netz sicherer Radwege geschaffen, das Ufer der Seine in eine kilometerlange Begegnungszone verwandelt und die Luftverschmutzung messbar reduziert.
Das Wichtigste: Ein Großteil der Bevölkerung hat den Wandel angenommen. Der Pariser Radverkehr verzeichnet jedes Jahr Rekordzahlen. Allein in den Jahren 2022–2023 gab es einen Anstieg um 37%, während der Autoverkehr um 5% abnahm. Beschleunigt sich die Pariser Radverkehrswende weiter, herrschen in der französischen Hauptstadt mittelfristig niederländische Verhältnisse – denn Fahrradfahren ist ansteckend und kann die gesamte Verkehrskultur einer Stadt verändern.
Je mehr Menschen sich für das Fahrrad und gegen das Auto entscheiden, desto größer die Sogkraft, selbst umzusteigen, desto stärker das politische Mandat und desto geringer die Gefahr, dass bei einer politischen Machtverschiebung das Rad wieder zurückgedreht wird. »Wir haben leider gesehen, was in Berlin geschehen ist«, warnt Grünflächen-Bürgermeister Christophe Najdovski und spielt dabei auf den
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