So informierst du dich über den Nahostkonflikt, ohne auf Fake News reinzufallen
Desinformationen spalten unsere Gesellschaft, radikalisieren Menschen und führen sogar zu Gewalt. Was wir darüber wissen müssen und was dagegen hilft.
Wer heute 16–25 Jahre alt ist, hat sehr wahrscheinlich Tiktok auf dem Smartphone. Die Plattform hat allein in Deutschland 21 Millionen
Vor allem im »Für dich«-Bereich kuratiert der Tiktok-Algorithmus einige Lügen, zum Beispiel von der angeblichen Bombardierung eines Krankenhauses in Gaza-Stadt.
Gemeint ist das Al-Ahli-Arab-Krankenhaus in Gaza-Stadt, auf dessen Parkplatz an diesem Tag tatsächlich eine Explosion stattfand, die mehrere Autos ausbrannte, Fenster bersten ließ, ein nahegelegenes Dach leicht beschädigte und einen Brand auslöste. Was genau vorgefallen ist, ist bis heute Gegenstand von Untersuchungen.
Das ist kein Zufall.
Selbst wenn man Berichten von Geheimdiensten eher misstraut und korrekterweise sagen muss, dass die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, machen Zeitpunkt und Formulierung des Tiktok-Videos klar, worum es hier wirklich geht: Den Beitrag zur Eskalation der Gewalt der Hamas zu relativieren, also belegte Taten einer Terrororganisation, deren erklärtes Ziel es ist, den Staat Israel zu vernichten, und deren brutaler Angriff die aktuelle Eskalation überhaupt erst losgetreten hat.
Für solche falschen Nachrichten zur Manipulation der öffentlichen Meinung gibt es einen treffenden Begriff: »Desinformationen«. Und wir erleben gerade eine Flut davon auf sozialen Netzwerken, wo sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Nicht zuletzt, weil auch Anwendungen neuerdings falsche Bilder und Videos mit künstlicher Intelligenz entstehen lassen.
Was können wir in dieser Situation tun?
Benennen wir die, die Desinformationen verbreiten
Um sich gegen Desinformationen besser zur Wehr zu setzen, müssen wir erst mal genauer verstehen, wie sie funktionieren und wer von ihnen wie profitiert. Das Phänomen ist nämlich dasselbe wie im Russlandkrieg gegen die Ukraine oder im Machtkampf in der US-Politik.
Desinformationen unterscheiden sich dabei von Fehlinformationen (oder »Zeitungsenten«), also versehentlichen Falschmeldungen, die von gewissenhaften Journalist:innen schnell korrigiert werden. Desinformationen sind kein Versehen, sie haben immer die Absicht, zu täuschen und in die Irre zu führen.
Da ist es natürlich besonders peinlich, wenn Medien weltweit auf Desinformationen hereinfallen – so geschehen in der Geschichte um das Krankenhaus in Gaza-Stadt. Die renommierte New York Times etwa verschickte eine Eilmeldung (Breaking News) und verkündete darin:
Damit halfen Journalist:innen unabsichtlich einer Desinformation, die etwas ganz Bestimmtes bewirken sollte – und auch tat. Die falsche Nachricht löste Wut und Entsetzen weltweit aus.
Das zeigt, dass Desinformationen wortwörtlich brandgefährlich sein können.
Sie wirken wie Gift auf den öffentlichen Diskurs und dienen dazu, aufzuhetzen und zu spalten. Und sie machen es schwieriger, die Fakten zu sehen. So schätzt auch Edda Humprecht von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena die aktuelle Lage ein: »Die verstärkte Verbreitung von Desinformation rund um Israel und die Hamas kann zu einer verzerrten Wahrnehmung des Konflikts führen.« Die Kommunikationswissenschaftlerin und Professorin für Digitalisierung und Öffentlichkeit ist besorgt, auch weil Desinformationen »den Informationsaustausch zum Beispiel zwischen Journalist:innen und Quellen vor Ort behindern können«. Anders gesagt: In der unübersichtlichen Situation eines Krieges ist es auch ohne Desinformationen schwer genug, Quellen auszuwerten und herauszufinden, was tatsächlich passiert. Durch Desinformationen wird alles nur noch viel schwieriger. Dabei drohen verlässliche Informationen und Einschätzungen in der Masse von Desinformationen und Beschuldigungen unterzugehen.
Das Übertönen von echten Informationen ist eine wichtige Wirkung von Desinformation. Denn es geht nicht um Wahrheit, sondern nur darum, Erzählungen zu verbreiten, die einer Konfliktpartei um jeden Preis helfen. »Beide Seiten begehen Kriegsverbrechen« ist zwar sehr wahrscheinlich wahr – aber eben keine Erzählung, die einer Seite strategische Vorteile verschafft.
Und dieser dreht sich immer mehr um wirkmächtige Bilder:
- So kursierte etwa ein Video israelischer Luftangriffe auf den Al-Shorouk Tower in Gaza-Stadt als angeblicher Beleg für israelische Kriegsverbrechen.
- Ein anderes oft geteiltes Video sollte einen Hamas-Kämpfer beim Abschuss eines israelischen Hubschraubers zeigen.
- Dass Dagestan eher muslimisch geprägt ist.
- Dass es auch in anderen russischen Teilrepubliken im Zuge des Gaza-Konflikts zu antijüdischen Ausschreitungen kam.
- Dass Putin eher für die Palästinenser Partei ergreift,
Dieses Umdeuten von Bildern und Ereignissen und das Unterstellen von geheimen Machenschaften sind Elemente vieler Desinformationen. Denn es geht um moralische Überlegenheit, die Oberhand im Diskurs und letztlich um Unterstützung aus der eigenen Bevölkerung – die man ja für einen Krieg braucht. Und es geht auch darum, echte empörende Handlungen der eigenen Seite und gar Kriegsverbrechen zu verschleiern oder zu relativieren.
Eine Blaupause für Desinformationen derzeit sähe mit Verweis auf die Gaza-Krankenhaus-Nachricht etwa so aus:
- Nutze ein aufsehenerregendes Ereignis. Bilder und Videos sind gut, denn sie wirken emotionaler. (Opportunismus)
- Stelle das Ereignis möglichst dramatisch dar. Versuche, Kinder und Frauen mit einzubauen, das verstärkt die Empörung. (Panikmache)
- Versuche, die Schuld dafür einem politischen Gegner anzuhängen. (Framing)
- Skizziere dich selbst als Opfer von Gewalt und Einmischung. (Opferrolle)
- Betone die Niederträchtigkeit des Geschehenen. (Moralisieren)
- Unterstelle allen Lügen und Verschwörungen, die anderes behaupten. (Verschwörungsnarrativ)
- (Bonus) Falls du bei einer Lüge ertappt wirst, relativiere das sofort damit, dass ja »alle lügen, die Gegenseite noch mehr«. (Wir-Die-Denken)
Das trifft nicht nur auf Kriegspropaganda zu, sondern auch auf diverse andere Desinformationen in unserer Gesellschaft. So passen auch manche Nachrichten aus der
Das Ergebnis: Hass und Gewalt gegen Menschen, die in diesen Desinformationen als Feindbilder herhalten müssen – von Ärzt:innen über Politiker:innen
Was sich nicht abstreiten lässt: Für die Verbreiter:innen lohnen sich Desinformationen einfach. Denn sie sind schnell produziert und erhalten über soziale Medien große Reichweite, während Aufklärung sowie Faktenchecks nur schwer hinterherkommen und konsequentes Durchgreifen seitens der Plattformen fehlt. Und wenn Menschen Wahrheit von Lüge nicht mehr unterscheiden können, sind sie umso leichter für die eigene Sache zu beeinflussen.
Social Media, ein digitales Schlachtfeld
Das Perfide an Desinformationen ist, dass sie gerade dort aufblühen, wo viele Menschen das kritische Denken eher ausschalten, um sich unterhalten zu lassen: etwa zwischen lustigen Videos auf Tiktok oder den Beiträgen der Lieblingsinfluencerin auf Instagram. Teilt dann eine bekannte Person noch die Desinformation – vielleicht weil sie sich nicht gründlich informiert hat –, erhöht das die Glaubwürdigkeit der Lüge enorm.
Die meisten Menschen haben sich wohl noch immer nicht an eine Realität gewöhnt, in der Informationen digital viel schneller und unkontrollierter verbreitet werden als früher im wildesten und unzuverlässigsten Nachrichtenticker.
Fakt ist: Social Media ist heutzutage der zentrale Verteilungsmechanismus politischer Lügen. So stieß ich bei meinen Recherchen auf Twitter/X und Instagram auf Hamas-nahe Beiträge – auch von Personen,
Das klappt gut, denn die Netzwerke machen es ihnen leicht: Sie lassen die Desinformation gewähren. Auch das eingangs erwähnte Krankenhaus-Video ist noch online. So können sich Desinformationen mühelos in die Mechanismen der Informationsvermittlung der Social Media einreihen: Denn diese sind sowieso schnell, auf Klicks ausgelegt und vor allem emotional.
Dabei wären die Plattformen gerade jetzt in der Verantwortung, gegen Desinformationen vorzugehen. Das tun sie bisher nur mangelhaft – und im Fall von Twitter/X sogar schlechter als zuvor. Seit Elon Musk die Plattform kaufte, hat er unter anderem das »Trust and Safety Team« abgeschafft, welches für die Inhaltsmoderation zuständig war. Dazu hat er in einem eigenwilligen Verständnis von Redefreiheit für Desinformationen bekannte Personen wieder entsperrt.
Dazu kommt ein weiteres Problem, das die Kommunikationswissenschaftlerin Edda Humprecht beschreibt: »Viele Wissenschaftler:innen und andere Expert:innen haben die Plattform verlassen, unter anderem als Reaktion auf Aussagen von Musk und die Debattenkultur. Es gibt also weniger Personen, die Desinformation begegnen und richtigstellen können.«
Das kann auf lange Sicht die Glaubwürdigkeit der Plattform untergraben und sie in der Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen, glaubt Humprecht. Doch aktuell überlässt die Abwanderung von Aufklärer:innen erst mal den Desinformationen das Feld.
Die EU muss Zähne zeigen
Die aktuelle Flut von Desinformationen ist auch eine wachsende Sorge der Europäischen Union. So wandte sich etwa Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen,
Nach den Terroranschlägen der Hamas gegen Israel haben wir Hinweise darauf, dass Ihre Plattform zur Verbreitung illegaler Inhalte und Desinformation in der EU genutzt wird. […] Ich lade Sie daher ein, dringend für die Funktionsfähigkeit Ihrer Systeme zu sorgen und meinem Team über die getroffenen Krisenmaßnahmen zu berichten.
Es ist nicht der einzige Brief;
»Die aktuelle Situation ist ein erster Test für den Digital Services Act«, ordnet Christoph Busch ein. Der Professor für Europäisches Wirtschaftsrecht und Direktor des European Legal Studies Institute an der Universität Osnabrück glaubt daran, dass der DSA ein »sinnvolles Instrumentarium zur Bekämpfung von Desinformationen« ist – zumindest wenn die Europäische Kommission von ihren neuen Befugnissen auch entschlossen Gebrauch macht. »Es wird sich zeigen, ob sich das im Ernstfall bewährt«, meint der Politikwissenschaftler.
Konkret heißt das, die EU kann und muss in dieser Situation die Muskeln gegen die Plattformen spielen lassen – denn genau dafür wurde der Digital Services Act entworfen. Das heißt im Zweifelsfall auch, Twitter/X, Tiktok und Co. Geldbußen von bis zu 6% des Jahresumsatzes aufzuerlegen.
Doch ein Ergebnis wird dauern und wir müssen uns in der Zwischenzeit selbst gegen Desinformationen schützen.
So kannst du dich und deine Mitmenschen vor Desinformationen schützen
Die gute Nachricht: Aufklärung gegen Desinformationen funktioniert.
Wichtig für Nutzer:innen: Bei jeder Handlung auf den sozialen Medien darüber nachzudenken, ob wir nicht aus Versehen doch Desinformationen in die Hände spielen – was sogar gestandenen Journalist:innen passieren kann. Nützliche Fragen dazu gibt es viele, hier eine Anleitung der Faktenchecker:innen von Correctiv:
Wie erkennte ich Desinformationen?
- Wer steckt hinter einer Information – ist er oder sie vertrauenswürdig?
- Schaue dir an, was verlinkt wird. Ist das generell seriös?
- Google nach dem Inhalt. Gibt es Faktenchecks dazu?
- Hinterfrage, wie Informationen emotional wirken. Soll das Wut schüren?
- Denke über den Inhalt der Information nach. Gibt es Unstimmigkeiten?
- Gibt es überprüfbare Quellen und Fakten?
- Gibt es andere, unparteiische Berichte?
- Überlege, wer von dieser Nachricht politisch profitieren könnte.
Doch dir steht noch ein anderes Instrument gegen Desinformationen zur Verfügung, für das der scheidende deutsche Journalist und Fernsehmoderator
Erhalten Sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Es ist wahrlich nicht ohne Fehler, aber es ist beim überall abnehmenden Wert von Wahrheit eine der wichtigen Bastionen für so verlässlich wie möglich geprüfte Informationen und für eine verantwortungsvolle Einordnung.
Kolls Plädoyer für das System der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ÖR) trifft den Zeitgeist, denn keine andere Errungenschaft unserer Gesellschaft wird derzeit von so vielen Seiten angefeindet. Eigentlich war der ÖR eine direkte Lehre aus der NS-Zeit und der damals vorherrschenden staatlichen Propaganda. Nicht umsonst wird er durch Aufsichtsgremien aus gesellschaftlichen Gruppen, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden – also von uns allen – kontrolliert.
Nur sind wir darüber hinaus auch gefragt, den ÖR immer wieder an seine hohen Standards zu erinnern: Etwa seine Verpflichtung zur Ausgewogenheit und seine wichtige Rolle darin, die liberale
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily