Ein Autofahrer rast mit überhöhter Geschwindigkeit über eine Fußgängerampel. Er rammt die 11-jährige Louisa, die kurz darauf verstirbt. Die Strafe? Zu mild, finden viele. Heute erzählt Louisas Vater, was sich künftig ändern muss.
7. November 2023
– 8 Minuten
Foto von Ingwar Perowanowitsch
Am 12. April 2022 missachtete ein Autofahrer auf der Landsberger Allee in Berlin eine Fußgängerampel und tötete dabei die 11-jährige Louisa. Die insgesamt 4 Ampeln für den Autofahrer standen bereits seit 24 Sekunden auf Rot, als er mit etwa 65–70 Stundenkilometern die Kreuzung überfuhr und das Mädchen rammte. Am 18. Oktober wurde der Fahrer vom Amtsgericht Tiergarten wegen fahrlässiger Tötung zu 9 Monaten Haft, ausgesetzt auf 3 Jahre Bewährung, verurteilt.
Ich treffe Herrn Herwig am Grab seiner Tochter in Berlin-Lankwitz. Der Friedhof liegt nur wenige Hundert Meter vom Wohnort entfernt. Es ist ein kleines Grab, sorgfältig gepflegt mit Kerzen und frischen Blumen. Die Abendsonne dringt durch die Bäume und beleuchtet den kleinen Stein, auf dem der Name Louisa steht.
Ingwar Perowanowitsch:
Herr Herwig, vor 1,5 Jahren wurde Ihre Tochter von einem Autofahrer so schwer verletzt, dass sie 4 Tage später im Krankenhaus verstarb. Welche Erinnerungen haben Sie an den Tag?
Julian Herwig:
Ich war bei der Arbeit, als ich einen Anruf bekam, dass Louisa einen Unfall hatte und auf der Intensivstation liegt. Die Ärzte sprachen von einer schweren Kopfverletzung und dass es nicht gut aussehen würde. Um mich abzulenken und nicht durchzudrehen, bin ich am nächsten Tag wie gewohnt zur Arbeit und habe mich immer von Louisas Mutter und den Ärzten auf dem Laufenden halten lassen. Als dann schließlich die Nachricht kam, dass es zu spät sei, bin ich in einen unendlich tiefen Abgrund gefallen. Vorher klammerst du dich an den Strohhalm der Hoffnung, doch mit der Gewissheit, dass es keine mehr gibt, bricht auf einmal alles zusammen.
Gab es jemanden, der Ihnen in dem Moment beistand?
Julian Herwig:
Ich hatte in dem Moment zum Glück eine sehr gute Freundin, die ich anrufen konnte und die sofort zur Stelle war. Sonst hätte ich das Ganze vermutlich gar nicht ausgehalten.
Und gab es vonseiten des Staates psychologische Hilfe?
Julian Herwig:
Nein, es gibt keine staatlichen Mechanismen, die da greifen, keine psychologische Betreuung oder sonstige Auffangmaßnahmen. Man wird im Krankenhaus noch gefragt, ob man einer Organspende zustimmt, dann bekommt man einen Flyer für eine Selbsthilfegruppe in die Hand gedrückt, und das wars. Im Prinzip gibt es dann 3 mögliche Szenarien: Entweder man wird depressiv, man dreht durch oder man geht mit einer eisernen Rationalität daran. Ich habe mich für Letzteres entschieden.
Wussten Sie zu dem Zeitpunkt schon, wie es genau zum Tod Ihrer Tochter gekommen war?
Julian Herwig:
Nein, absolut nicht. Aus diesem Grund habe ich dem Fahrer des Wagens irgendwann einen Brief geschickt und ihn um ein Treffen gebeten. Als ich keine Rückmeldung bekam, bin ich eines Tages spontan zu seinem Wohnort gefahren, aber ohne Absicht, mit ihm zu sprechen. Als er sah, dass jemand an seinem Grundstück hielt, kam er direkt nach vorn, um mich zur Rede zu stellen.
Was geschah dann?
Julian Herwig:
Ich stellte mich vor und gab mich als Vater von Louisa zu erkennen. Ohne auf meine Fragen einzugehen, erzählte er mir direkt, dass es auch ihm seit dem Tag im April sehr schlecht gehe und er in Therapie sei. Bis dato hatte ich für meine zweite Tochter noch gar keine psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können, geschweige denn für mich. Er sicherte mir zu, mir per Mail zu antworten, und meinte, dass ich meine Fragen schriftlich übersenden solle, was ich dann auch gemacht habe.
Was waren das für Fragen?
Julian Herwig:
Zu diesem Zeitpunkt war für mich der Unfallhergang völlig unklar. Daher wollte ich den Vorgang aus seiner Sicht geschildert bekommen. Die Fragen waren daher: Was ist in den Sekunden vor dem Unfall im Auto geschehen, was hat er gesehen, was hat er gemacht, wo waren seine Hände und ob er das Assistenzsystem deaktiviert hat? Auf diese Fragen habe ich bis heute keine Antwort. Erst das Gutachten, auf das das Gericht ursprünglich verzichten wollte, konnte wenigstens den Unfallhergang und den Fahrtverlauf des Autos rekonstruieren. Daher wurde auch der erste Prozesstermin damals so kurzfristig verschoben. Doch was im Auto geschah, woher er kam und wohin er eigentlich wollte, ist bis heute völlig unklar und wurde während der Verhandlung überhaupt nicht thematisiert.
Sie und Ihre Anwältin haben im Gericht den Unfall als Vorsatztat bezeichnet und dem Fahrer unterstellt, er sei absichtlich über Rot gefahren. Mit welcher Begründung?
Julian Herwig:
Einfach weil die Tatsachen für mich keine andere Schlussfolgerung zulassen: Als er die Ampel überfuhr, stand sie bereits seit 24 Sekunden auf Rot. Sein Fahrweg betrug etwa 400 Meter, in denen er noch die Spur wechselte, um an den wartenden Autos vorbeizufahren. Es handelt sich um eine reine Fußgängerampel ohne Querverkehr, die nur umschaltet, wenn ein Fußgänger den Knopf drückt. Es bestand also keine Gefahr für ihn oder seinen Beifahrer. Und er wusste das, denn er hat ausgesagt, dass er regelmäßig diese Strecke gefahren ist.
Die Begründung des Fahrers, dass er vor seinem geistigen Auge die Ampel auf Grün schalten sehen hat, glaube ich ihm einfach nicht. Aus meiner Sicht ist in diesem Moment seinerseits aktiv die Entscheidung getroffen worden: »Heute gelten die Gesetze für mich nicht.«
Aber schließen Sie aus, dass die Version des Beschuldigten nicht doch stimmen könnte?
Julian Herwig:
Ich persönlich schließe das aus, da sie hanebüchen ist. Im Übrigen haben auch Richter und Staatsanwalt zu verstehen gegeben, dass sie ihm seine Geschichte des Unfallhergangs nicht abnehmen. Aber selbst wenn sie stimmen würde, könnten wir so jemanden wirklich wieder auf die Straße lassen? Jemand, der angeblich grüne Ampeln sieht, wo eigentlich 4 rote sind, hat doch im Straßenverkehr nichts verloren. Und trotzdem soll er, wenn es nach dem Willen der Staatsanwaltschaft und des Richters geht, sofort bzw. in 6 Monaten wieder Auto fahren dürfen. Und wir sprechen hier von Fahrzeugen aller Klassen. Das heißt also, selbst wenn man ihm seine Geschichte glaubt, müsste zumindest ein lebenslanges Fahrverbot ausgesprochen werden.
Wie lief der Prozess ab?
Julian Herwig:
Insgesamt haben der Beschuldigte und sein Verteidiger ihn komplett als Opfer inszeniert. Er ließ über seinen Anwalt eine Erklärung verlesen, die zum Hergang kaum mehr Angaben macht als die grüne Ampel vor seinem geistigen Auge. Anschließend folgten seitenlange Abhandlungen darüber, wie schlecht es ihm gehe, dass er sehr unter den Vorfällen leide, dass er Antidepressiva nehmen müsse und so weiter. Zudem hat er meine beiden Versuche der Kontaktaufnahme so dargestellt, als ob ich ihn bedroht hätte. Gleichzeitig hatte er aber schon einen Vorschlag bezüglich des Strafmaßes – eine Geldstrafe – und wollte direkt seinen Führerschein wieder mitnehmen. Der Staatsanwalt nahm dem Beschuldigten diese Geschichte größtenteils ab. Sinngemäß sagte er, in Berlin überfahre man immer mal eine rote Ampel. Außerdem würden ja hier im Vergleich zu anderen Bundesländern häufig niedrigere Urteile verhängt werden.
Wie ging der Prozess dann aus?
Julian Herwig:
In seinem Plädoyer hat der Staatsanwalt die Bewährungsstrafe gefordert und wollte dem Angeklagten wie gewünscht gleich seinen Führerschein wiedergeben. Die Verteidigung hat sich in ihrem Plädoyer dann vollständig der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Da war für mich klar, hier ist etwas absolut schiefgelaufen.
Der Richter hat im Urteil die Forderungen des Staatsanwalts übernommen, mit der geringfügigen Änderung, dass das Fahrverbot auf 2 Jahre verlängert wird. Das heißt, Stand jetzt bekommt er genau zum zweiten Todestag von Louisa seine Fahrerlaubnis wieder. Im Grunde sagt dieses Urteil doch: Du hast als Autofahrer ein totes Kind frei, bevor du ins Gefängnis kommst. Das ist ein fatales Zeichen und ein Schlag ins Gesicht aller Eltern, die ihren Kindern beigebracht haben, nur bei Grün über die Straße zu gehen.
Sie sprechen von einem Justizskandal. Warum?
Julian Herwig:
Das Urteil ist meiner Meinung nach nicht schlüssig. Entweder glaubt das Gericht der Geschichte des Angeklagten, dann müsste es eigentlich ein lebenslanges Fahrverbot verhängen. Oder es glaubt der Geschichte nicht – dann müsste es, wenn jemand über eine Ampel fährt, die seit 24 Sekunden rot ist, einen bedingten Vorsatz unterstellen, weil genügend Zeit war, aktiv eine Entscheidung zu treffen.
Weder Richter noch Staatsanwalt haben im Kern der Unfallerklärung des Beschuldigten geglaubt, aber dennoch ein Urteil gefällt, das das Gegenteil sagt. Der Staatsanwalt hatte im Laufe des Verfahrens sogar von einem Präzedenzfall gesprochen, gleichzeitig beruft man sich aber auf vergangene Urteile. Eine solche Argumentation ist an sich nicht stimmig.
Wie geht es jetzt weiter?
Julian Herwig:
Berufung ist schon eingelegt. Als Nebenkläger ist das zwar nur zulässig, wenn der Tatbestand falsch beurteilt wurde, aber das ist hier aus unserer Sicht klar geschehen. Das Problem ist nur, dass ich jetzt das gesamte Kostenrisiko trage, das sind bis etwa 15.000 Euro. Und selbst wenn wir gewinnen, bekomme ich nur einen Teil der Kosten erstattet.
Dafür haben Sie vor einiger Zeit einen Spendenaufruf gestartet. Hatten Sie Unterstützung?
Julian Herwig:
Viel bewirkt haben wohl die Artikel, die im Tagesspiegel erschienen sind. Mein größter Dank gilt dabei Herrn Stimpel vom »FUSS e. V.«. Er rief mich am Morgen nach dem Start der Aktion an und bot mir an, dass ich das Konto des Vereins nutzen kann. Er hatte den Fall wohl aufmerksam verfolgt und war über alles informiert. Damals hatte der »FUSS e. V.« auch schon die erste Mahnwache am Ort des Geschehens organisiert.
War der Spendenaufruf erfolgreich?
Julian Herwig:
Ja, die Spendenbereitschaft war riesig. Es haben in der Hochphase pro Stunde etwa 100 Menschen gespendet. Innerhalb von 2 Tagen waren das 2.000 Leute, sodass das Spendenziel bei Weitem übertroffen wurde. Viele der Spender haben eine kurze persönliche Note mitgeschickt, wie »Viel Erfolg«, »Alles Gute«, »Für Louisa« oder »Bleiben Sie stark«. Dafür bin ich sehr dankbar.
Sie haben gleichzeitig eine Petition gestartet, die eine Strafverschärfung für Tötungsdelikte im Straßenverkehr fordert. Nach einer Woche hatten bereits über 7.000 Menschen diese Petition unterzeichnet.
Insgesamt war die Resonanz aus der Zivilgesellschaft riesengroß. Jeder Unterzeichner sagt ja: Dieses Urteil spiegelt nicht das Rechtsempfinden der Bevölkerung wider. Genau das hatte der Richter in seiner Urteilsverkündung nämlich noch behauptet.
Und was wollen Sie mit der Petition erreichen?
Julian Herwig:
2 Dinge: Erstens will ich Druck auf die Politik ausüben, damit das Strafmaß für Tötungsdelikte so angepasst wird, dass es dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entspricht. Der Plan ist, möglichst viele Unterschriften zu sammeln und diese öffentlichkeitswirksam an den Bundestag heranzutragen. Ich kann mir auch vorstellen, in einem offenen Brief die Bundestagsabgeordneten des Rechtsausschusses zum Berufungsprozess einzuladen. Wenn da eine Unterschriftenzahl im 5-stelligen Bereich steht, ist das ein starkes Zeichen. Da sehe ich jetzt gerade für mich einen klaren gesellschaftlichen Auftrag, den ich auf jeden Fall wahrnehmen will, denn meine Tochter soll nicht umsonst gestorben sein.
Und zweitens?
Julian Herwig:
Die Gesetze sollen angewandt werden. Die geltende Rechtslage gibt es eigentlich jetzt schon her, dass Täter angemessen bestraft werden. Die Ku’damm-Fälle zeigen das. Aber in der Praxis geschieht das nicht, weil Gerichte sich auf die niedrigen Urteile der Vergangenheit beziehen. Die Justiz bewegt sich also in einem Kreislauf zu lascher Urteile, die immer auf vorherige lasche Urteile verweisen. Aber jedes dieser Urteile löst bei den Menschen nur Kopfschütteln und Fassungslosigkeit aus und demontiert zudem das Vertrauen in den Rechtsstaat.
Kommt es im Straßenverkehr zu tödlichen Unfällen, handelt es sich juristisch oftmals um den Tatbestand der fahrlässigen Tötung. In solchen Fällen regelt das Strafmaß. Konkret heißt es darin: »Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Aus dem Grad der Fahrlässigkeit ergibt sich das genaue Strafmaß.
In der Praxis beziehen sich Gerichte oft auf vorangegangene Urteile, um eine konsistente Rechtsprechung zu wahren. Ausnahmen dieser Praxis sorgen immer wieder für große Aufmerksamkeit. So auch das Urteil für 2 Raser, die sich im Februar 2016 ein illegales Autorennen auf dem Kurfürstendamm in Berlin geliefert hatten und dabei einen 69-jährigen Autofahrer töteten. Das Gericht sah es abschließend als erwiesen an, dass die Fahrer nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich einen Menschen getötet hatten.
Beide wurden Ende 2019 vom Berliner Landgericht wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt – ein Novum in einem solchen Fall. Gesetzesgrundlage war dabei , der lautet: »Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.«
Glauben Sie, dass ein härteres Strafmaß Autofahrer wirklich davon abhalten wird, derartige Verkehrsverstöße zu begehen, oder braucht es zusätzlich begleitende Maßnahmen, wie zum Beispiel die Absenkung der Geschwindigkeit auf Tempo 30?
Julian Herwig:
Was das angeht: Es gab nach dem »Unfall« vonseiten der Berliner Behörden eine Begehung der Unfallstelle bzw. des Tatorts, um zu schauen, ob die Infrastruktur eine Mitschuld trägt. Sie kamen zum Ergebnis: An dieser Stelle ist nichts falsch. Diese Auffassung teile ich zu 100%. Wir können gerne über Autoverkehr generell reden, aber an dieser Stelle fahren jeden Tag Zehntausende Autos, deren Fahrer sich alle an die Regeln halten. Daher macht es keinen Sinn, alle dafür zu bestrafen, wenn ein Einzelner sich nicht an Recht und Ordnung hält. Der Autofahrer, der meine Tochter tötete, hat sowohl Tempo 50 als auch die rote Ampel ignoriert. Es müssen daher dringend diejenigen angemessen bestraft werden, die das Verbrechen begehen, um die Gesetztestreuen in ihrem Verhalten zu bestärken.
Würden Sie sagen, dass autofreundliche Urteile ein strukturelles Problem in Deutschland sind?
Julian Herwig:
Ich maße mir da kein Urteil an. Richtern kommt die undankbare Aufgabe zu, einen Ausgleich zwischen den Interessen herzustellen, gemäß dem Credo »Bei einem guten Kompromiss sind alle unzufrieden«. Aber selbst wenn ich eine Autofahrerperspektive einnehme, möchte ich doch auch aus dieser Sicht niemanden mit Lkw-Führerschein im Straßenverkehr haben, der 4 24 Sekunden lang rote Ampeln für grün hält. Das ist eine Gefahr für alle, auch oder insbesondere Pkw-Fahrer. Die Argumentation des Gerichts und des Staatsanwalts machen daher weder aus Autofahrer- noch aus Fußgängerperspektive Sinn, und aus Elternperspektive schon gar nicht. Deshalb muss dieses Urteil revidiert werden.
Mit welchem Urteil könnten Sie leben?
Julian Herwig:
Ich will, dass das Gericht anerkennt, dass es sich hier um Vorsatz handelt und nicht um Fahrlässigkeit. Damit wäre eine Freiheitsstrafe verbunden, die nicht auf Bewährung ausgesetzt ist. Das wäre ein Urteil und ein Zeichen, mit dem ich leben könnte.
Und können Sie vergeben?
Julian Herwig:
Ich kann verzeihen und vergeben, aber nur, wenn die andere Seite auch auf Vergebung hinarbeitet. Vergebung muss man sich verdienen, und der Beschuldigte hat meines Erachtens bislang nicht viel dafür getan. Solange ich weder ein echtes Schuldeingeständnis noch den Willen zur Aufklärung und zur Wiedergutmachung sehe, ist zum jetzigen Zeitpunkt Vergebung ausgeschlossen.
Glauben Sie, dass Sie eines Tages Ihren Frieden finden werden?
Julian Herwig:
Ja, und das ist ja auch mein Ziel. Aber dafür braucht es ein gerechtes Strafurteil, für das ich jetzt in Berufung gehe, und zweitens eine angemessene Entschädigung. Ich habe so viel Kraft in meine Tochter investiert und alles zurückgestellt. Louisa war ein tolles Kind und das wird einem einfach so von heute auf morgen weggerissen. Und auch wenn Geld natürlich niemals den Schmerz ausgleichen kann, ist es dennoch eine Form der Wiedergutmachung. Denn dann hat man vielleicht erst mal die Zeit, seine Trauer zu bewältigen, seine Kraftreserven wieder aufzufüllen oder gar in Therapie zu gehen. Oder wenigsten einen Grabstein aufzustellen. All das konnte ich mir bislang nicht erlauben. Ich habe ja auch noch eine zweite Tochter, für die ich Sorge tragen muss, dass das Leben für sie nicht auch zusammenbricht. Wenn also diese Dinge erfüllt sind, dann kann ich hoffentlich auch meinen Frieden finden.
Herr Herwig, vielen Dank für das Gespräch.
2 Tage nach dem Treffen am Grab seiner Tochter treffe ich Julian Herwig erneut. Diesmal in den Morgenstunden am anderen Ende der Stadt in Marzahn. Wir laufen zur Landsberger Allee, der Straße, an der der Unfall geschah. Es ist eine unscheinbare Kreuzung, die Ampel schaltet nur für Fußgänger:innen an einer 8-spurigen Straße. Hier strömen jeden Morgen Zehntausende Pendler:innen in die Stadt und abends wieder hinaus. Die Ampel für Fußgänger:innen schaltet nur kurz auf grün, so kurz, dass es manchmal nur bis zur Mitte der Kreuzung reicht.
Gemeinsam mit Roland Stimpel vom Verein »FUSS e. V.« macht der Vater eine neue Pappfigur in Form eines Kindes an der Ampel fest. Ein Bild von Louisa, ihr Alter und der Todestag sind auf einem Schild auf der Figur befestigt. Es soll die Menschen daran erinnern, was an diesem Ort im April 2022 geschehen ist.
Redaktionelle Bearbeitung: Felix Austen
Titelbild:
Foto von Ingwar Perowanowitsch
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Ingwar Perowanowitsch fuhr erst in seiner Heimatstadt Freiburg, dann in seiner Studienstadt Groningen mit dem Rad. 3 Jahre in den Niederlanden haben sein Verständnis davon geprägt, welches Potenzial im Verkehrsmittel Fahrrad steckt. Seitdem er in Berlin wohnt, setzt er sich als aktivistischer, politischer und forschender Radler für die fahrradgerechte Stadt ein.