So kannst auch du die Politik umkrempeln
Wie kann Protest wirklich etwas ändern? 2 Bewegungen aus Polen und Ungarn haben Etappensiege errungen – und wollen jetzt ins Parlament.
Eine solche Protestbewegung hat die Welt lange nicht gesehen. Millionen Menschen gingen am 21. Januar beim
Ist die Welt seitdem ein besserer Ort für Frauen?
Besonders viele Protestbilder kamen in den letzten 12 Monaten aus Polen und Ungarn.
Beide meinen aber auch, dass in einer Demokratie kein Weg am Parlament vorbeiführt, wenn man wirklich etwas ändern will. Miklós Hajnal ist Mitgründer von
Von der Straße ins Parlament
Julia Zimmermann und Miklós Hajnal wollen mit ihren Parteien bei den nächsten Wahlen ins Parlament. Den Schritt in die Öffentlichkeit haben sie schon mal geschafft. Protestbewegungen spielten dabei für beide eine große Rolle:
- Momentum konstituierte sich als Partei aus einer Bürgerbewegung, die Anfang 2017 erfolgreich
- Razem-Vorstandsmitglieder standen im Jahr 2016 in der ersten Reihe bei Protesten gegen die
Beide Proteste waren in ihren Ländern enorme Überraschungserfolge: Der Gesetzentwurf in Polen ging nicht durch, Budapest zog seine Olympiabewerbung zurück. Wie geht es nun weiter für Razem und Momentum?
- Momentum wünscht sich ein westlich orientiertes Ungarn ohne russische Einflüsse, eine liberale Wirtschaftspolitik und ein Ende der allgegenwärtigen Korruption.
- Razem möchte die progressive Linke werden, die den Mitgliedern im politischen Spektrum bislang fehlt. Razems Mitglieder setzen sich für Belange der Arbeiter und Angestellten ein und betreiben Lobbyarbeit für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten.
Mit welcher Strategie sie ihre Forderungen durchsetzen wollen, davon haben Julia Zimmermann und Miklós Hajnal Vorstellungen, die sich in manchen Punkten ähneln, in anderen gegensätzlicher nicht sein könnten.
Wenn du daran glaubst, dass gute Organisation alles ist und moderne Politik kein Links-Rechts-Schema mehr braucht, lies hier, wie Miklós Hajnal und Momentum Orbáns Ungarn aufmischen wollen:
»Wenn du es mit der Regierungsmaschine aufnehmen willst, brauchst du effiziente Prozesse.«
Willst du wissen, wie Julia Zimmermann und Razem in Polen für progressiv-linke Ideale kämpfen, lies hier weiter:
»Viele Aktivisten wollen mit Parteipolitik nichts zu tun haben. Für echten Wandel ist das aber der einzige Weg.«
»Wenn du es mit der Regierungsmaschine aufnehmen willst, brauchst du effiziente Prozesse«
Es war anfangs nicht sehr wahrscheinlich, dass wir die Unterschriften zusammenbekommen. Wir fanden trotzdem, dass es den Versuch wert war – es war eine gute Sache, mit der wir uns erstmals der Öffentlichkeit präsentieren konnten. Die Olympiabewerbung war etwas, wogegen es sich zu kämpfen lohnte und was alle Probleme der gegenwärtigen Regierung symbolisierte. Sie war ein Symptom, für das wir eine Diagnose anbieten wollten.
Wir hatten unterschiedliche Botschaften für unterschiedliche Gruppen. Die 2 Gruppen, bei denen es unserer Recherche nach am wahrscheinlichsten war, dass sie ihre Unterschrift für ein Referendum geben, waren die extrem hochqualifizierten Arbeitnehmer auf der einen und Geringqualifizierte auf der anderen Seite. Für beide funktionierte unsere Kampagne, weil sie relativ materialistisch ausgerichtet war. Wir haben damit argumentiert, dass es Wahnsinn ist, wieviel Geld für diese eine Feier in 7 Jahren ausgegeben werden soll. Für den normalen Arbeiter ist es viel wichtiger, wie seine Lebensumstände jetzt sind. Wir waren aber auch in vielen Fernsehdebatten oder an Universitäten – dass wir so eine politische Debatte angestoßen haben, kam bei der gebildeten Schicht gut an. So etwas passiert in Ungarn nur sehr selten.
Politik soll kein Schimpfwort mehr sein – wir wollen die Marke Politik aufwerten, indem wir uns engagieren.
Außerdem wollen wir Macht und Amtszeit von Politikern beschränken und dafür sorgen, dass die Akten derjenigen veröffentlicht werden, die vor dem Jahr 1989 für den Geheimdienst tätig waren. Das wurde bislang in Ungarn noch gar nicht aufgearbeitet.
Institutionen sind aber kein spannendes Wahlkampfthema. Geschichten funktionieren viel besser. Das heißt aber nicht, dass du dir über die Institutionen keine Gedanken machen solltest – du musst beides im Blick haben und die Institutionen verändern, wenn du die Leute mit deiner Geschichte überzeugt hast.
Wir arbeiten viel mit sozialen Medien – dort siehst du schnell, was funktioniert und was nicht. Wir probieren viel aus und nehmen dann das mit in den Wahlkampf, was für diejenigen am interessantesten ist, die es zumindest in Erwägung ziehen, uns ihre Stimme zu geben.
»Viele Aktivisten wollen mit Parteipolitik nichts zu tun haben. Für echten Wandel ist das aber der einzige Weg«
Außerdem haben wir den
Vielleicht ist das Label »links« für manche Wähler problematisch. Aber diese Label zu vermeiden, ist der Versuch, es allen recht zu machen, und das heißt, dass man sich bis zu einem gewissen Grad verbiegt. Das wollen wir nicht.
Julia Zimmermann und Miklós Hajnal wollen mit ihren Parteien das System verändern. Ihre Proteste sind für sie auch Mittel zum Zweck. Sie helfen dabei, Sympathiepunkte zu sammeln und Forderungen auf die Agenda zu bringen. Gleichzeitig sind sie ein Experimentierfeld: Wie kann ich meine potenziellen Wähler eigentlich erreichen und mobilisieren? Wie inszeniere ich ein Thema so, dass es eine breite Öffentlichkeit erreicht? Welche Symbolik, welches Framing kann mir dabei helfen?
Ob es die Beiden in den nächsten Jahren ins Parlament schaffen werden, lässt sich noch nicht sagen. Piotr Kocyba vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung ist in beiden Fällen eher skeptisch: »Ich glaube, dass es in Polen im Moment keinen Platz für neue Parteien gibt. Razem wird es schwer haben, sich als politischer Akteur zu etablieren.« Mit Blick auf Momentum hält er es zwar für eine strategisch kluge Entscheidung, sich in der gegenwärtigen Lage außerhalb des Links-Rechts-Spektrums zu positionieren, meint aber auch, dass diese Vermeidungsstrategie der Partei früher oder später auf die Füße fallen könnte.
Ungeachtet dessen setzen Razem und Momentum jetzt Impulse in ihren Ländern. »Gerade im Fall von Momentum sieht man, dass hier relativ professionell eine Strategie entwickelt und überlegt wurde, wie man mit dem Potenzial umgehen kann, das man im Protest gegen Olympia gesammelt hat«, sagt Kocyba.
Miklós Hajnal und Julia Zimmermann haben sich beide dafür entschieden, Protest ins Parlament zu tragen, obwohl – oder gerade weil – Politik in beiden Ländern als »schmutziges Geschäft« betrachtet wird. Das ist nicht nur in Polen und Ungarn so. Auch die Wahlerfolge von Donald Trump oder Emmanuel Macron zeigen, dass politische Außenseiter gerade gute Chancen haben, egal aus welcher Richtung sie kommen. Auch neue Graswurzelbewegungen sind Ausdruck dessen, dass viele den Status quo nicht mehr akzeptieren – und selbst mitgestalten wollen. Die Zeiten der Alternativlosigkeit sind vorbei. Vielleicht gab es nie einen besseren Moment, das System zu verändern, als jetzt.
Titelbild: Konrad Wiślicz - copyright