So kannst du auch nach dem Tod für deine Lieben da sein
Das Team hinter dem Projekt »Familienhörbuch« hilft Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, ein akustisches Vermächtnis für ihre Angehörigen aufzunehmen. Wie das den Hinterbliebenen und auch den Erkrankten selbst hilft, haben sie uns erzählt.
Wenn sie die Stimme ihres Vaters hören möchten, dann stellen die 3 Mädchen einen
»Meine Große sagt immer, es fühlt sich dann so an, als wäre Papa nur ganz lange auf Montage. Als wenn er gar nicht weg wäre«, sagt Lisa Brune, die Mutter der Kinder und Witwe von Sascha Brune, der vor seinem Tod als Monteur gearbeitet hat.
Wenige Tage vor seinem Tod im November 2022 hat Sascha das Hörbuch aufgenommen, als es ihm nach langer Krankheit immer schlechter ging. Es ist eine Art Vermächtnis für seine Töchter und seine Frau. »Für ihn war es wichtig, dass er aus seiner Perspektive erzählen konnte, wie er sein Leben wahrgenommen hat. Er wollte das an seine Kinder weitergeben. Und er hatte auch Sorge, dass er vielleicht vergessen wird«, sagt die 34-jährige Mutter.
3 Tage dauert es, die Persönlichkeit des Erkrankten auf diese Weise zu konservieren. Die Familienhörbücher sind spendenfinanziert, kosten den Aufnehmenden also nichts. Vor allem Kinder, die noch nicht erwachsen sind, sollen so den Trauerprozess besser bewältigen können – und die lebhafte Erinnerung an ihren Vater oder ihre Mutter immer zur Hand haben.
Aber auch die Patient:innen selbst können noch einmal intensiv auf ihr Leben blicken. Einige bewerten ihre eigene Situation nach der Aufnahme neu.
»Wenn sie krank sind, wollen sie Papa«
»Ich würde euch gerne ein wenig aus meinem Leben erzählen, dass ihr euren Vater und euren Ehemann vielleicht noch ein Stückweit besser kennenlernt, dass ihr Erinnerungen habt, die [sonst] eventuell verblassen.« Einen Ausschnitt vom Anfang des Hörbuchs ihres Mannes hat Lisa Brune auf Instagram geteilt. Fotos zeigen ihre 3 Töchter: 3, 5 und 8 Jahre alt, in Trikots des Fußballvereins Borussia Dortmund. Auf dem Rücken der Schriftzug »Echte Liebe für Papa«. Eine Anlehnung an den Werbespruch des BVB »Echte Liebe«. Der Verein ist Teil der Familiengeschichte: Kennenlernen in einer Bar, die Fußballspiele zeigt, Heiratsantrag und Hochzeit im Stadion. Sie lächelt, als sie diese Erinnerungen im Gespräch teilt.
Auch die Hörfiguren, die den Erinnerungsschatz ihres Mannes tragen, leuchten schwarz-gelb. Sie sind besonders leicht zu bedienen, das schafft selbst die kleinste der Töchter mit ihren 3 Jahren schon. Lisa Brune hat ihren Kindern je nach Alter unterschiedliche Kapitel aufgespielt. Nach und nach können sie laufend neue Kapitel hören, wenn sie größer werden.
Sie selbst bewältige einen Teil ihrer Trauerarbeit mit dem Hörbuch, sagt sie. Am Anfang habe sie es nur kapitelweise hören können, der Schmerz und die Trauer seien für sie nicht auszuhalten gewesen. Inzwischen könne sie das ganze Buch hören, meistens am Wochenende, wenn der Alltag mit Arbeit und Kinderbetreuung mal Pause habe. »Ich höre es inzwischen viel gelöster und dankbarer. Es ist nicht mehr dieser ganz tiefe Schmerz.« Lisa Brune spricht offen über ihre Trauer, auf dem
Ihre 3 Kinder gingen unterschiedlich mit dem Tod des Vaters um und nutzten das Hörbuch auch dementsprechend verschieden, erzählt sie. Die große Tochter höre manchmal ihre Kapitel, wenn sie schlafen gehe oder bestimmte Dinge aus dem Leben ihres Vaters wissen möge. Die Mittlere lausche der Stimme des Vaters eher nebenbei, etwa beim Spielen. Aber:
Alle hören es, wenn sie krank sind, dann sagen sie, dass sie den Papa haben wollen.
Sie ist froh, dass sie und ihr Mann damals von der
Die wissenschaftliche Seite des Abschieds vom Leben
An einer ähnlichen
Wer an todkranke Menschen denkt, der denkt auch schnell an Hospize, letzte Lebenstage und Schmerzlinderung als letztes Mittel. Michaela Hesse weiß: Die Realität ist vielschichtiger. Sie betreut seit 1996 Palliativpatient:innen.
Palliativpatient:in zu sein bedeutet, an einer tödlichen Krankheit zu leiden, deren Heilung – zumindest nach aktuellem Wissensstand – nicht möglich ist. Mediziner:innen wie Hesse bemühen sich darum, Erkrankten und deren Familien trotzdem eine möglichst hohe Lebensqualität zu ermöglichen.
Keine leichte Aufgabe, denn oft weiß niemand, wie viel Zeit noch bleibt: Manchmal sind es Monate, manchmal Jahrzehnte. Auch der weitere Krankheitsverlauf ist oft unsicher – eine enorme psychische Belastung.
Seine eigene Lebensgeschichte als Hörbuch aufzunehmen, könne Betroffenen in dieser Phase dabei helfen, einen neuen Blick auf das eigene Leben zu werfen, sagt Michaela Hesse. Das bestätige die Studienlage zu biografischer Arbeit in der Palliativmedizin. Dabei gehe es auch um Deutungshoheit: »Wenn ich selbst von meinem Leben erzähle, dann kann ich viel erklären. Laut unserer Untersuchung scheinen Menschen in Deutschland Wert darauf zu legen, zu erklären, wie die Entscheidungen in ihrem Leben zustande gekommen sind.«
Bei der Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung zerfällt das Leben der Betroffenen in 2 Teile. Nach der Diagnose geht es oft um Therapien und Arztbesuche, das eigene Leben tritt in den Hintergrund.
Sie verlieren ihre ganzen Rollen. Sie sind nur noch der Patient. Durch das bewusste Erinnern an das Leben vor der Krankheit schafft der Patient es, dass beide Hälften wieder zu einem Ganzen werden. Das nennt man narrative Identität: Ich bin immer noch derselbe.
Viele würden dadurch wieder zu sich zurückfinden, erinnerten sich wieder daran, was ihnen in früheren Krisen geholfen habe, fingen wieder an, Klavier zu spielen oder zu malen: »Dieses Erinnern hilft auch dabei, Ressourcen für sich wiederzufinden«, stellt die Psychoonkologin fest. Entsprechend berichteten die Studienteilnehmer, dass die Aufnahmen zwar anstrengend gewesen seien, der Prozess aber gutgetan habe. Patient:innen gaben an, weniger Ängste, Depressivität und Antriebslosigkeit zu erleben.
»In dem Moment, wo das Hörbuch abgeschlossen war, gab es für viele das Gefühl: Jetzt habe ich alles gesagt und wenn ich jetzt sterbe, ist es okay«, berichtet Michaela Hesse.
Mehr als 400 Teilnehmende, mehr als 300 produzierte Hörbücher
Vermutlich weil die Hörbuchaufnahmen allen Beteiligten helfen – sowohl Erkrankten beim Abschied vom Leben als auch Hinterbliebenen bei der Trauerarbeit –, ist die Nachfrage groß. Die Initiative von Gründerin Judith Grümmer ist längst zu einem
Jedes Buch benötigt etwa 100 Arbeitsstunden. Dazu gehört die Arbeit bei der Aufnahme durch die Audiobiograf:innen, also Journalist:innen, die eine
Es steckt also viel Liebe zum Detail in den Hörbüchern – und das kostet. Denn die Arbeit der freischaffenden Profis bezahlt das gemeinnützige Unternehmen auch entsprechend. Eine Produktion mit Fingerspitzengefühl braucht Zeit.
Carmen Dreyer erinnert sich an einen Fall, bei dem das Ende eines Hörbuchs so emotional und traurig war, dass die Sounddesignerin es ungern so an ein Kind übergeben wollte. »Sie hat dann ganz viele Outtakes ans Ende geschnitten. Da hört man die Mama scherzen und Quatsch machen. Mal verspricht sie sich oder ertappt sich dabei, wie sie ein Schimpfwort sagt, das ihre Kinder nicht sagen dürfen. Da hört man ganz viel Menschliches und dafür brauchen wir eben die Sounddesigner.«
Alle Beteiligten bekommen auch psychologische Betreuung, wenn sie es brauchen, unter anderem durch Michaela Hesse. So laufen pro Hörbuch Kosten von 6.000 Euro auf, die durch Spenden gedeckt werden. Manchmal finanzieren Stiftungen einige Hörbücher, aber das meiste muss das Unternehmen
»Ich habe gelernt, dankbarer auf mein Leben zu blicken«
Annett Rix gehört zu den mehr als 300 Menschen, die ihr Hörbuch bereits aufgenommen haben. Vor 4 Jahren bekam die 51-jährige Versicherungskauffrau die Diagnose Lungenkrebs. Die ersten Behandlungen zielten auf eine Heilung ab: Chemotherapie, Bestrahlung. Danach sollte der Tumor mit einer Operation entfernt werden. Doch dann entdeckten die Ärzt:innen Metastasen im Hirn. Nun galt sie als nicht mehr heilbar, als Palliativpatientin. Ein Medikament hält den Tumor zurzeit in Schach, die Metastasen sind nicht nachweisbar.
Das führt zu der paradoxen Situation, dass sie von der schweren Erkrankung nicht viel mehr als die Nebenwirkungen der Medikamente spürt. Sie hofft, dass es noch lange so bleibt, aber wie lange, das weiß niemand. »Es gehört auch Glück dazu«, sagt sie.
Zum Zeitpunkt der Diagnose war ihre Tochter 14 Jahre alt. Sie habe ihre Mutter immer wieder gebeten, ihr Sprachnachrichten zu schicken, sagt Annett Rix. Irgendwann wurde ihr klar, warum.
Wir haben gesprochen und dann sagte sie: Mama, ich habe Angst, dass ich vergesse, wie du klingst, wenn du stirbst.
Am Anfang sträubte sie sich, das Hörbuch aufzunehmen: »Weil das ja auch was damit zu tun hat, seine Situation anzunehmen. Ich war vielleicht noch nicht so weit.« Als ihre Tochter 17 wurde, willigte die Mutter ein, das Hörbuch aufzunehmen. Denn eine Bedingung für die Aufnahme des Familienhörbuchs ist ein minderjähriges Kind, dem man diese Aufnahme widmet.
3 Tage anstrengendes Erinnern lagen vor der 51-Jährigen. Am Anfang sei sie sehr aufgeregt gewesen. Aber die Audiobiografin habe sie einfach viel erzählen lassen und nur ab und zu nachgefragt. Abends gab es Besprechungen: Welches Thema hatte sie angerissen und wo könnte vielleicht noch ein Kapitel schlummern? Gemeinsam mit der Audiobiografin schaute sie Fotos an, telefonierte mit ihrer Schwester und ihren Eltern.
»Ich war hinterher wirklich glücklich über die vielen Dinge, die mir eingefallen sind, an die ich überhaupt nicht mehr gedacht habe. Was ich vielleicht in meiner Jugend oder als junge Erwachsene erlebt habe. Oder wie schön meine Ferien bei Oma und Opa doch immer waren.« Am Ende standen 35 Kapitel und eine wichtige Erkenntnis:
Die Arbeit an dem Buch hat mir dieses Gefühl gegeben, dass ich dankbar bin für mein bisheriges Leben. Mir ist noch mal bewusst geworden, wie viele schöne Dinge ich erlebt habe.
Ein Kapitel des Buchs habe sie mit ihrer Tochter angehört. Darin liest sie eine Geschichte, die sie ihr früher oft vorgelesen hat. Aber das sei zu traurig für ihre Tochter gewesen. Jetzt sei die Aufnahme ein Erinnerungsschatz im Schrank, auf den ihre Tochter jederzeit zugreifen könne, wenn sie möge.
Idealerweise würden sie sich das Hörbuch irgendwann alle zusammen anhören – ihre Tochter, ihr Mann und sie. Vielleicht in 10 Jahren oder in 5 Jahren, sagt sie und lächelt.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily