Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein
Bernie Sanders war nahe dran, Präsident der USA zu werden. Sein Erfolgsgeheimnis: Er nennt Probleme wie Ungleichheit und Korruption klar beim Namen und liefert eine Vision von einer gerechten, sozialen Zukunft für sein Land. Genau das liefert auch dieser Auszug aus seinem neuen Buch.
Je älter man wird, heißt es immer, desto konservativer wird man. Bei mir ist es umgekehrt: Je älter ich werde, desto wütender werde ich auf das hyperkapitalistische System, in dem wir leben, und desto mehr sehne ich mich nach tiefgreifenden Veränderungen in diesem Land.
Manche Leute halten es für »unamerikanisch«, unbequeme Fragen darüber zu stellen, wie es um unser Land steht und wohin es sich entwickelt. Ich nicht. Meiner Meinung nach gibt es nichts Amerikanischeres, als ein System, das uns im Stich gelassen hat, zu hinterfragen und die nötigen Veränderungen einzufordern, um die Gesellschaft aufzubauen, die wir und zukünftige Generationen verdienen.
Der Kapitalismus ist das Problem
Die schlichte Wahrheit lautet doch: Das hyperkapitalistische Wirtschaftssystem, das sich in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren etabliert hat, ein Wirtschaftssystem, das von unbändiger Gier und Verachtung für alle Regeln des Anstands angetrieben wird, ist nicht nur ungerecht. Es ist zutiefst unmoralisch.
Dieser Unmoral müssen wir entgegentreten. Mutig, unverblümt, entschlossen. Erst dann können wir uns daranmachen, das abgekartete Spiel, bei dem die große Mehrheit der Amerikaner*innen auf der Verliererseite steht, zu beenden und ein System, das Millionen Leben zerstört, von Grund auf umzugestalten.
Dieser Realität die Stirn zu bieten und genügend Leute zu mobilisieren, um einen grundlegenden Wandel einzuläuten, ist keine leichte Aufgabe. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Was wir brauchen, ist nicht nur ein Verständnis der einflussreichen Kräfte, die uns derzeit niederhalten, sondern – nicht weniger wichtig – eine Vision davon, wo wir hinwollen.
Im reichsten Land der Weltgeschichte können wir, davon bin ich fest überzeugt, dank des technischen Fortschritts, der die Arbeitsproduktivität stark steigern wird, der Sparpolitik ein Ende setzen und den Menschheitstraum eines anständigen Lebensstandards für alle wahr werden lassen. Wir können in diesem Jahrhundert der Ellbogenwirtschaft ein Ende bereiten, in der die allermeisten sich gerade so über Wasser halten, während eine Handvoll Milliardär*innen über mehr Vermögen verfügt, als sie in eintausend Lebensspannen ausgeben könnte.
Um es deutlich zu sagen: Während die Mittelschicht kontinuierlich an Boden verliert, funktioniert unser derzeitiges System für diejenigen, die es gekauft haben, ganz hervorragend. Diese Oligarchen verfügen über außerordentlichen Reichtum. Und über außerordentliche Macht. Tatsächlich ging es den obersten 1 Prozent nie besser. Die Glücklichen, die dazugehören, haben überall auf der Welt ihre Villen, ihre Privatinseln, ihre teure Kunst, ihre Jachten, ihre Privatjets. Einige von ihnen besitzen Raumschiffe, die sie eines Tages vielleicht zum Mars bringen. Die Oligarchen sind zufrieden damit, wie es im Moment läuft, und sie werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Besitzstände zu verteidigen und den Status quo aufrechtzuerhalten.
Ja, wir leben in einer »Demokratie« – aber sie haben sich diese Demokratie einverleibt. Sie geben Milliarden Dollar für Wahlkampfspenden an beide großen Parteien aus, und haben dadurch die Politiker*innen de facto in der Hand. Sie geben weitere Milliarden für Lobbyfirmen aus, um Regierungsentscheidungen auf allen politischen Ebenen zu beeinflussen. Deshalb haben wir in den letzten Jahren ein ums andere Mal erlebt, wie die Superreichen von politischen Entscheidungen profitieren – auf Kosten von allen anderen.
Ja, wir haben Redefreiheit und eine »freie Presse«. Doch zu einem erheblichen Teil befinden sich die Medien im Besitz der Oligarchen. Daher stellen diejenigen, die sie bei Fernsehsendern, Radiosendern, Zeitungen und sozialen Medien beschäftigen, keine unangenehmen Fragen und bringen selten Themen zur Sprache, die die privilegierte Position ihrer Auftraggeber untergraben könnten. Deshalb findet trotz der unzähligen Fernsehsender, Radiostationen und Websites, die ihnen gehören, kaum eine öffentliche Diskussion über die Macht der Konzerne statt oder darüber, wie die Oligarchen diese Macht nutzen, um auf Kosten hart arbeitender Familien ihre Interessen durchzusetzen.
Die gute Nachricht ist, dass sich während der unermüdlichen Versuche der Oligarchen und der von ihnen kontrollierten Institutionen, den Status quo zu bewahren, allmählich Risse im System auftun. Millionen Amerikaner*innen beginnen die Gesellschaft, in der sie leben, aus einer neuen, anderen Perspektive wahrzunehmen. Sie beginnen, mutig weiterzudenken. Sie stellen unbequeme Fragen und fordern Antworten, die über das Klein-Klein der Tagespolitik und der vorherrschenden Ideologie hinausweisen. Viele finden Antworten, indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und sich an ihrem Arbeitsplatz für mehr Mitsprache sowie für bessere Löhne, Lohnzusatzleistungen und Arbeitsbedingungen einsetzen.
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Warum die Leute Trump wählen
Zu den besonders verstörenden Aspekten der Wahl von 2020 gehört, dass Biden zwar gewonnen, Trump aber 10 Millionen Stimmen mehr auf sich vereinigt hat als 2016. Besonders gut hat er in weißen, ländlich geprägten, wirtschaftlich abgehängten Landesteilen abgeschnitten. Warum? Warum haben Menschen aus der Arbeiterschicht, viele von ihnen in finanziellen Schwierigkeiten, Trump gewählt? Warum konnte er in den abgelegensten Orten vor Zehntausenden begeisterter Anhänger*innen Wahlkampfauftritte abhalten?
Manche Expert*innen und Politiker*innen antworten auf diese Fragen, die Trump-Wählerschaft bestehe eben ausschließlich aus Rassist*innen, Sexist*innen und Homophoben; diese Leute seien absolut »erbärmlich«, da sei nichts zu machen. Tut mir leid, aber ich bin anderer Meinung. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich war in nahezu jedem Bundesstaat dieses Landes und habe, im Gegensatz zu den Expert*innen, tatsächlich mit Trump-Anhänger*innen gesprochen. Sind manche von ihnen Rassist*innen und Sexist*innen, die für Trumps engstirnige Politik stimmen? Durchaus. Aber für viele gilt das eben nicht.
Der Grund für den großen Zuspruch aus der Arbeiterschicht liegt im Ärger, in der Verzweiflung und in der politischen Entfremdung, die viele Amerikaner*innen der Arbeiterklasse heute empfinden, sowie darin, dass die Demokratische Partei sie zugunsten vermögender Wahlkampfspender*innen und der Eliten und Besserverdienenden im Stich gelassen hat.
Wir sprechen hier von Amerikaner*innen, die erleben mussten, wie die Reallöhne stagnierten und gute Jobs nach China und Mexiko verlagert wurden, während die Reichen noch reicher wurden. Sie können sich keine Krankenversicherung, keine Kinderbetreuung und keine Studienplätze für ihre Kinder leisten und haben große Angst davor, dass ihre Rente nicht ausreichen wird. Aufgrund von »Verzweiflungskrankheiten«, wie Ärzt*innen es nennen, ist in dieser Bevölkerungsgruppe sogar eine sinkende Lebenserwartung zu beobachten.
Viele dieser Wähler*innen haben sich ihr Leben lang an die Spielregeln gehalten. Sie haben hart, sehr hart gearbeitet und sich nach Kräften für ihre Kinder und die Gemeinschaft eingesetzt, in der sie leben. Als die Pandemie ihren Höhepunkt erreichte, konnten sie nicht zu Hause vom Computer aus ihre Arbeit verrichten. Stattdessen haben sie in Krankenhäusern, Fabriken, Logistikzentren, öffentlichen Verkehrsmitteln, Fleischverarbeitungsbetrieben und Supermärkten ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Sie haben die Wirtschaft am Laufen gehalten, und Tausende von ihnen sind in der Folge gestorben.
Viele der angeblich rassistischen Trump-Wähler*innen haben ihre Stimme Barack Obama, unserem ersten Schwarzen Präsidenten, gegeben und damit für »Hoffnung« und »Wandel« und »Yes, we can« gestimmt. Und sie haben ihn wiedergewählt. Doch für sie änderte sich nichts zum Besseren.
Nach nahezu fünfzig Jahren Lohnstagnation waren die Demokraten an der Macht – aber wir haben die Löhne der Arbeiter*innen nicht angehoben. Trotz vieler illegaler Unternehmenspraktiken haben wir es für Arbeitnehmer*innen nicht einfacher gemacht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Wir haben die Arbeitsplatzsicherheit nicht verbessert. Wir sind weder gegen die Gier der Konzerne noch gegen die schlimme Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen vorgegangen. Wir haben keine Krankenversicherung für alle eingeführt und die Medikamentenpreise nicht gesenkt. Wir haben nichts für eine erschwingliche Kinderbetreuung und Hochschulbildung getan. Wir sind nicht gegen Obdachlosigkeit und die hohen Wohnkosten vorgegangen. Wir haben die Arbeiterschicht nicht dabei unterstützt, abgesichert und würdevoll in Rente zu gehen. Wir haben keine Reform des korrupten Wahlkampffinanzierungssystems durchgesetzt.
Zig Millionen Amerikaner*innen haben heute eine tiefsitzende Wut auf das politische, wirtschaftliche und mediale Establishment. Wenn sie den Blick nach Washington richten oder sich die großen Medienhäuser anschauen, haben sie das Gefühl, es schlage ihnen nur Ablehnung und Verachtung entgegen. Sie sehen eine Regierung, die ihre Bedürfnisse ignoriert, und Politiker*innen, die gemeinsam mit den Reichen eine Wohltätigkeitsveranstaltung nach der anderen abhalten und keine Ahnung davon haben, womit die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung sich tagtäglich herumschlägt.
Das Absurde daran ist, dass Trump – ein Scharlatan, ein tragender Pfeiler des Establishments, ein Milliardär und ein arbeiterfeindlicher Geschäftsmann – es geschafft hat, dieses politische Vakuum zu füllen und sich diese Wut zunutze zu machen. Donald Trump, der »Anwalt der Arbeiterschaft«. Es ist zum Heulen!
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Für ein neues Amerika
Doch dieses Buch möchte mehr anbieten als die Kritik der modernen amerikanischen Gesellschaft und des Hyperkapitalismus. Es möchte ein Konzept vorstellen für schrittweise Veränderungen – in Wirtschaft und Politik. Es ruft zu einer politischen Revolution auf, bei der die Arbeiterschaft sich zusammentut und für eine Regierung einsetzt, die alle Amerikaner*innen repräsentiert, nicht nur das oberste Prozent. Sie macht sich Roosevelts Überzeugung zu eigen, dass die Regierung allen US-Bürger*innen wirtschaftliche Rechte garantieren muss.
Ja, wir können ein Jobgarantie-Programm auflegen, das den Menschen Arbeit zu einem angemessenen Lohn zusichert, und so die schwersten Nöte in der Gesellschaft beheben. Und wir können Schritte hin zu einer Wirtschaftsdemokratie unternehmen, die Beschäftigten mehr Mitspracherecht einräumt, sodass sie mehr sind als kleine Rädchen im Getriebe.
Ja, wir können Millionen Jobs schaffen, indem wir eine weltweite Führungsrolle beim Kampf gegen die existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel einnehmen und unsere Energiesysteme umbauen, weg von fossilen Brennstoffen und hin zu Energieeffizienz und nachhaltiger Energie. Wir können unsere marode Infrastruktur erneuern – Straßen, Brücken, Eisenbahnen, Schulen, Wasserversorgung und Breitbandnetz – und unser Land dadurch sicherer und effizienter machen.
Ja, wir können unser dysfunktionales Gesundheitssystem durch »Medicare for All« ersetzen, ein staatlich finanziertes System, in dem Gesundheitsfürsorge kein Privileg, sondern ein Menschenrecht ist.
Ja, wir können lebenslanges Lernen ermöglichen und allen Amerikaner*innen jeden Alters kostenlose Bildung zur Verfügung stellen, indem wir die besten Bildungssysteme der Welt aufbauen, von der Kinderbetreuung bis zur Hochschule.
Ja, wir können der grotesken Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ein Ende machen, mithilfe eines progressiven Steuersystems, das Reichen und Großunternehmen endlich einen fairen Beitrag abverlangt.
Ja, wir können die reproduktiven Rechte schützen und sicherstellen, dass Frauen ihre Entscheidungen frei treffen können, die sie für ihr Leben und ihren Lebensunterhalt als richtig erachten.
Ja, wir können alle Formen von Intoleranz beseitigen und auf eine Gesellschaft hinarbeiten, die den wunderbaren Worten, die wir als Kinder gelernt haben, wirklich Geltung verschafft: Amerika ist ein Land, in dem »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« gilt.
Ja, wir können eine lebendige, inklusive Demokratie aufbauen, die unser korruptes System der Wahlkampffinanzierung aus der Welt schafft und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten die Partizipation am politischen Prozess nicht erschwert, sondern erleichtert.
In seinen letzten Lebensjahren sprach Martin Luther King mit zunehmender Leidenschaftlichkeit darüber, dass der Kampf für die Bürgerrechte sich zu einem »Klassenkampf« entwickelt habe. In einer Rede vor der Southern Christian Leadership Conference in Atlanta sagte der Friedensnobelpreisträger im Jahr 1967:
Der Kapitalismus vergisst, dass das Leben in einer Gesellschaft stattfindet. Und das Königreich der Brüderlichkeit liegt weder in der These des Kommunismus noch in der Antithese des Kapitalismus, sondern in einer höheren Synthese.
Um zu dieser zu gelangen, so King weiter, »müssen wir uns eines Tages die Frage stellen: ›Warum sind 40 Millionen Amerikaner arm?‹ Und wenn man sich diese Frage stellt, landet man schnell bei Fragen zum Wirtschaftssystem und zur Wohlstandsverteilung. Wenn man sich diese Frage stellt, fängt man an, das kapitalistische Wirtschaftssystem zu hinterfragen. Ich will damit sagen: Wir müssen endlich anfangen, gesamtgesellschaftliche Fragen zu stellen.«
Darum geht es in diesem Buch.
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