»Man darf nicht den Fehler machen, keine Haltung zu zeigen!«
Mehmet Can ist Lehrer an der Berliner Rütli-Schule. Früher galt sie als Problemfall, heute als Vorbild für den Umgang mit dem Nahostkonflikt. Für die Auseinandersetzung damit gibt es sogar ein eigenes Schulfach. Was bringt das?
Ich lebe in Berlin und arbeite oft in einem Büro im Bezirk Neukölln. Hier leben viele Menschen mit arabisch-palästinensischem Hintergrund; der Krieg in Nahost ist sehr präsent.
Nach dem Überfall der radikal-islamistischen Hamas auf Israel am
Bei meiner Recherche lernte ich zunächst ein ungewöhnliches Duo kennen: Rabbiner Elias Dray und Imam Ender Cetin gehen gemeinsam an Schulen, um für interreligiöse Toleranz zu werben.
Lies hier mein Interview mit den beiden Geistlichen, die sich bei der Organisation »meet2respect« engagieren:
Und dann stieß ich ausgerechnet auf die Berliner Rütli-Schule, die früher als Symbol für vieles galt, was an sogenannten sozialen Brennpunkten schiefläuft. 2006 wandten sich Lehrer:innen mit einem Brief an die Öffentlichkeit: Unterricht sei kaum möglich. Sie berichteten von einem
Heute dient der Campus Rütli als Vorbild, besonders wenn es um den Umgang mit dem Thema Naher Osten geht. Im Wahlpflichtkurs »Israel/Palästina« bekommen die Schüler:innen Raum für die Auseinandersetzung, auch mit ihren eigenen Familiengeschichten.
Ein Comic, der aus einer Exkursion entstand, gewann Preise und wird inzwischen auch an anderen Schulen
Mehmet Can war damals als betreuender Lehrer mit den Schüler:innen unterwegs und scheut auch heute nicht die Auseinandersetzung. Ich wollte ihn gern selbst davon erzählen lassen, was der 7. Oktober 2023 verändert hat, wie er die Stimmung unter den Jugendlichen wahrnimmt und welches Potenzial die schulisch vermittelte Auseinandersetzung mit dem Thema Israel/Palästina birgt. Aus einem Treffen Ende November entstand das folgende Protokoll.
»Ich unterrichte Geschichte und Politik am Campus Rütli in Berlin-Neukölln und bin aktuell Klassenlehrer in der 10. Jahrgangsstufe.
Seit dem 7. Oktober 2023 sind wir Lehrer sehr gefordert. Das Massaker fand an einem Wochenende statt – über die Statusmeldungen der Jugendlichen in den sozialen Medien konnten wir sehen, was uns am Montag erwarten würde.
Direkt am Montag haben wir uns zu einer außerordentlichen Dienstberatung getroffen und gemeinsam überlegt: Wie können wir reagieren? Wir haben dann beschlossen, dass wir eine Schweigeminute für die zivilen Opfer auf beiden Seiten anbieten. Unser erstes Anliegen war, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu betonen: dass der Wert menschlichen Lebens etwas ist, was wir alle teilen.
Denn das Massaker am 7. Oktober wurde von einigen der Jugendlichen als Befreiungstat verklärt, die Hamas als Befreiungsorganisation. Viele Kolleg:innen und Klassenleitungen haben das zum Anlass genommen, trotz der eigenen – nachvollziehbaren – Unsicherheit, Gespräche anzubieten, die Terrortat als solche zu benennen und den Wert menschlichen Lebens hervorzuheben. Das klingt nach einer Kleinigkeit, aber es ist wichtig, diesen Konsens immer wieder herzustellen, und sich nicht in Detailfragen einer über 75-jährigen Konfliktgeschichte zu verstricken. Wir dürfen dieses Ereignis nicht zur Unkenntlichkeit kontextualisieren, sondern müssen in den Fokus stellen, worum es geht: dass hier Zivilisten barbarisch abgeschlachtet wurden.«
Raum für die eigenen Geschichten – im Wahlpflichtkurs »Israel/Palästina«
»Bei uns an der Schule haben wir zumindest den Vorteil, dass wir schon seit einigen Jahren mit unseren Jugendlichen im Gespräch zum Nahostkonflikt sind.
Sie sind es gewohnt, Raum zu bekommen, auch für ihre Geschichten, die mit dem Konflikt zu tun haben. Und die Jugendlichen sind es auch gewohnt, von unseren Positionen zu erfahren. Das heißt nicht, dass es einfach ist. Die Diskussionen können bisweilen sehr hart geführt werden. Viele haben einen arabisch-palästinensischen Migrationshintergrund. Von der siebten bis zur zehnten Klasse sind die Emotionen, bezogen auf die Identität, beispielsweise als Palästinenser oder als Muslima, sehr stark ausgeprägt. Das überlagert und erschwert eine sachliche Auseinandersetzung. In der Sekundarstufe 2 gibt es auch Kontroversen und Streit – das erfahre ich aber nicht als so aufgeladen.
Seit dem 7. Oktober hat sich die Emotionalität in Richtung einer großen Verzweiflung und Trauer entwickelt, angesichts der Bilder, die meine Jugendlichen
Mit Haltung gegen die Flut aus Desinformation und Bildern vom Krieg
»Diese Bilder unterscheiden sich von dem, was wir in deutschen Medien sehen. Aus ethischen Gründen wirst du hierzulande keine expliziten, brutalen Videos finden, auch nicht vom Massaker an den israelischen Zivilist:innen. Arabische Medien beherzigen diesen Grundsatz so nicht. Seit Beginn des Krieges sind meine Jugendlichen einer Dauerberieselung mit diesen Inhalten ausgesetzt.
Und ich erkenne schon Unterschiede: Jugendliche, in deren Familien arabische Medien stark rezipiert werden, sind in Diskussionen unglaublich emotional. Andere, deren Eltern sie eher davon fernhalten, deutlich weniger. Es fällt uns Erwachsenen ja schon schwer, diese Bilder vom Krieg zu verarbeiten – die Jugendlichen sind zum Teil überwältigt von der Flut.
Es ist ein emotionales Auf und Ab, das von verschiedenen Ereignissen abhängt. Zum Beispiel die Fake News über das angebliche Bombardement eines Krankenhauses: da stellte sich im Nachhinein heraus, dass es eine fehlgeleitete Rakete –
Zum Teil finden die Versammlungen oder Demonstrationen vor den Haustüren meiner Jugendlichen statt. Und auf manchen wird eine unglaublich einseitige, antiisraelische Sichtweise gepflegt. Das lässt die
»Demonstrationen sind ein im Grundrecht verbrieftes Recht. Sie fragen sich also: Wie verhält es sich hier mit Meinungsfreiheit und Demokratie? Damit muss man sorgsam umgehen. Im Unterricht besprechen wir, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit liegen. Wir haben es in Neukölln ja auch mit Akteuren zu tun, die eine bestimmte Agenda haben.
Ich bin grundsätzlich dafür, Nachsicht mit Jugendlichen zu üben, was nicht heißt, dass das immer einfach ist. Auch mir gelingt das nicht immer und in den vergangenen Wochen bin ich oftmals verzweifelt nach Hause gegangen und habe mich gefragt: Was haben wir eigentlich erreicht? Wie können wir gegen dieses Dauerfeuer aus sozialen und arabischen Medien ankommen? Nachsicht bedeutet nicht, über menschenverachtende Positionen hinwegzusehen und sie zu ignorieren. Da darf man dann wegen eines falsch verstandenen Neutralitätsgefühls oder aus Sorge um die Beziehung zu den Jugendlichen nicht den Fehler machen, keine Haltung zu zeigen.
Mir gelingt das auch nicht immer so, wie ich es möchte. Auf der Sachebene klar zu bleiben und trotzdem die Beziehungsebene nicht aufzugeben, fällt schwer, wenn wir von Jugendlichen mit Verschwörungserzählungen konfrontiert werden, die unglaublich schwer auszuhalten sind. Da wird dann gesagt: Das Massaker gab es nicht, die Vergewaltigungen gab es nicht, das wurde alles inszeniert. Was sie über soziale Medien wie Tiktok in Dauerschleife erfahren, vertreten sie mit der emotionalen Inbrunst, die für Jugendliche typisch ist. Manchmal sind wir das einzige Korrektiv.«
Der Nahostkonflikt als Schulfach
»Wir behandeln all diese Themen in unserem Projektkurs Israel/Palästina, der an unserer Schule ein beliebtes Wahlpflichtfach ist. Vor 6 Jahren äußerten Jugendliche den Wunsch, die Auseinandersetzung mit Israel und Palästina strukturell stärker in der Schule zu verankern. Daraufhin haben 2 meiner Kollegen den Kurs konzipiert und erstmalig angeboten.
Seine Beliebtheit hängt auch damit zusammen, dass er eine Exkursion nach Israel und in die palästinensischen Gebiete beinhaltet – das ist ein echtes Highlight. Die Schüler:innen beschäftigen sich ein Jahr lang mit all den Themen, die notwendig sind, um ein Gefühl für die Auseinandersetzung, für das Verständnis dieses Konfliktes zu haben. Ausgehend von den Familienbiografien der Jugendlichen beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der Geschichte des Konfliktes, der Shoah, aber auch den Bemühungen in der Vergangenheit, Frieden zu schließen.«
»Die erste Reise im Jahr 2019 war ein einmaliges Erlebnis. Die Realität der Bilder, die die Jugendlichen von Israel haben, deckte sich nicht mit der Realität vor Ort. Es herrscht dort nicht permanent Krieg, wie man vielleicht meinen könnte, wenn man Israel nur aus den Medien kennt. Eine große Überraschung für die Jugendlichen war, dass Kooperation möglich ist; dass arabische und jüdische Israelis sowie Israelis und Palästinenser:innen zusammenarbeiten können.«
»Welche Eindrücke die Jugendlichen bewegt haben? Für diejenigen, die sich religiös definieren, war zum Beispiel der Besuch der al-Aqsa-Moschee ein besonderes Ereignis. Und auch das Treffen mit der
Protokoll: Katharina Wiegmann; Comic: Mehmet Can, Jamina Diel, Mathis Eckelmann
Titelbild: Zeichnung: Mathis Eckelmann | Fotos: Nour Tayeh / Toa Heftiba - copyright