Wie wir eine Welt bauen, in der sich Hirn und Hormon wohlfühlen
Warum Politiker:innen viel häufiger auf Neurowissenschaftler:innen hören sollten.
Wenn wir auf die Neurowissenschaften hören würden, würden wir den Menschen selbst mehr in die Mitte all unserer Überlegungen zur Zukunft stellen. Kein Wunder, denn er steht ja bereits in der Mitte unserer Forschung. Damit kennen wir uns also aus.
»Weltrettung braucht Wissenschaft«

Wie sähe die Welt aus, wenn wir auf Wissenschaft hören? Franca Parianen macht sich auf die Reise quer durch die Republik und fragt elf Wissenschaftler:innen, was uns ihre Disziplin für die Zukunft rät. Das Buch mit ihren Antworten erschien 2023 im Rowohlt Verlag und ist hier erhältlich.
Bildquelle: rowohltJetzt könnte man fragen, ob der Mensch nicht schon genug im Mittelpunkt steht. Immerhin spricht man vom aktuellen Zeitalter buchstäblich
Seit Jahren steigt auch in reichen Ländern die Zahl an Menschen, die sich unzufrieden, depressiv, ängstlich, ausgebrannt oder allgemein überfordert fühlen. Auch die Lebenserwartung bewegt sich nach 100 Jahren Fortschritt vielerorts wieder nach unten. Das heißt, wir haben den Planeten rabiat in unserem Sinne gestaltet und geben dem Ergebnis höchstens zwei von fünf Sternen.
Wie eine Welt für Menschen nicht aussehen sollte
Also, wie baut man eigentlich eine Welt für Menschen? Die Modelle, auf die sich Politik aktuell stützt, können uns dabei wenig helfen: Das Bruttosozialprodukt misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen. Wenn wir alle zum Therapeuten müssen, steigt es also an.
Auch der
Eine Empfehlung von Lara Malberger

»Weltrettung braucht Wissenschaft« habe ich kürzlich auf einem Science Slam entdeckt – hier stellen Wissenschaftler:innen auf humorvolle Weise Themen aus ihrem Forschungsbereich vor. Einige der bekanntesten Slammer:innen haben ihr Wissen nun in diesem Buch verpackt: Leicht verständlich, eindrücklich und voller Witz zeigt es, wieso die Rettung der Welt nicht ohne Wissenschaft gelingen wird.
Bildquelle: Perspective DailyKein Wunder, dass wir die Welt ziemlich häufig an unseren Bedürfnissen vorbei bauen. Aber mehr noch, in anderen Bereichen bauen wir direkt dagegen an. Beispiel gefällig?
Ein Problem: Zu wenig Zuneigung
Nehmen wir Zuneigung. Das wunderbare Gefühl, das es uns erlaubt, andere Leute auf dem Sofa direkt neben uns zu tolerieren und uns dabei nicht angespannt zu fühlen, sondern besser. Dafür muss unser Hormonsystem einiges an beruhigenden Effekten auspacken, und die wirken ziemlich tief: vermitteln uns Sinn und Freude, senken den Blutdruck, motivieren das Immunsystem, verbessern Schlaf und verlängern Leben. Wir brauchen Zuneigung – ob in Beziehungen oder WGs. Fast so dringend, wie wir die Ruhesignale von Melatonin und Schlaf brauchen. All das, was unserem Inneren verdeutlicht, dass es sich jetzt auch mal um sich selbst kümmern kann.
Aber niemand von uns braucht die Beruhigungseffekte so dringend wie Babys. Weil wir Selbstberuhigung am Anfang unseres Lebens erst noch lernen müssen, weil die passenden neuronalen Leitungen bislang kaum gelegt sind und Aufregen evolutionär gesehen immer Priorität hat. In der Zwischenzeit übernehmen wir die Ruhe von anderen. Vorzugsweise denjenigen, die sich uns an die Brust legen. So synchronisieren sich Atmung und Körpertemperatur. Die Schmerzschwelle steigt, denn das Hormonsystem schickt auch bei den Eltern Oxytocin und Opioide durch die Leitung.
Oxytocin aktiviert direkt den Vagusnerv, den Adrenalin gerade noch unterdrückt hat, und versetzt dadurch unser Herz und alles, was daran hängt, in seinen entspanntesten
In Utrecht haben wir erforscht, wie kindliches Trauma auf diese Art dazu beitragen kann, dass wir soziale Situationen und die passenden Hormone ganz unterschiedlich erleben. Manche gerade richtig, andere hypersensibel und wieder andere mehr so: Meh. Wobei »gerade richtig« auch eine Frage des Umfelds ist – eine Stressreaktion, die auf das eine Umfeld perfekt eingestimmt ist, wirkt im nächsten plötzlich total überfordert. Oder gelangweilt und unkonzentriert.
Babyschreien ist keine Manipulation
Die Natur ist faszinierend. Aber statt ihr Stück für Stück auf die Spuren zu kommen, versuchen wir seit über 100 Jahren, Eltern das, was sie ihnen vermittelt, auszureden: Sprich, die natürliche Reaktion auf Babyschreien: hingehen, hochnehmen, schuckeln.
Letzteres unterstützt Oxytocin übrigens mit seinen hilfreichen Effekten auf die Muskelkontraktion, die sich schon Blutegel zunutze machen. 100 Millionen Jahre praktischer Evolution. Aber von abergläubischen Viktorianer*innen über die kruden 30er Jahre bis zu Bestsellern in diesem Jahrtausend erklären uns diverse Ideologien, dass man zu schreienden Kindern allerhöchstens mal zur Besprechung ins Zimmer geht – ohne Anfassen oder Trösten – so, wie zu kleinen Finanzberatern. In den Niederlanden galt Schreien noch bis vor kurzem als Grundpfeiler der Lungenentwicklung.
Und weil Wissen, das einmal in der Welt ist, sich wie immer ratzfatz verbreitet, sieht man jetzt auch in Sitcoms Eltern händeringend vor der Kinderzimmertür stehen, beim Versuch, ihr schreiendes Kind zu ignorieren. Auf Tiktok erklären Mütter Müttern, Babyschreien wäre »manipulativ«. Die Datengrundlage für den Nutzen dieser Methode ist genauso dünn wie unser Wissen darüber, was dieser lang anhaltende Stress mit dem kindlichen Gehirn macht. […]
Die Befürchtung ist auch, dass Kinder verlernen, ihren Stress zu signalisieren. Die Stresshormone wüten, aber das Kind ist ganz still. Man sollte meinen, wir wären uns etwas sicherer, wenn wir Eltern etwas ausreden, was ihnen durch Mark und Bein geht. Aber nein. Trotzdem kam uns diese Methode lange Zeit wissenschaftlicher vor, vielleicht gerade weil sie unsere emotionalen Grundbedürfnisse ignoriert. […]

Wir reden Grundbedürfnisse klein und wundern uns, wenn das unglücklich macht
Das ist nicht der einzige Elterninstinkt, den wir ausblenden. Auf die Frage, welche Rolle der zweite Elternteil spielt, antworten beispielsweise immer noch viele Länder mit: »Wer?« Dabei macht das Hormonsystem der Väter eigentlich ein ähnlich großes Erdbeben durch wie das der Mütter (oder z. B. bei schwulen Pärchen das der Bio-Väter). Wie immer wirkt das auch aufs Gehirn. Außerdem setzt die menschliche Strategie »extrem hilfloser Nachwuchs, dessen Gehirn nach der Geburt weiterwächst« eigentlich von Beginn an auf Teamarbeit. Nicht nur von mehreren Eltern, sondern auch auf die freundliche Unterstützung von Freund*innen und Verwandten. Die sorgt traditionell dafür, dass Eltern nicht überfordert sind und Kinder nicht alle ihre Marotten übernehmen […].
Nur wir haben uns in den Kopf gesetzt, dass »Fremdbetreuung« per se was Suspektes ist. Als wär es nicht weitaus suspekter, eine Aufgabe, die sich vorher 100 Leute geteilt haben, zweien allein aufzuhalsen. Oder auch den überstrapazierten Leuten, die sich diese Care-Arbeit zum Beruf gemacht haben und die wir zum Dank in regelmäßigen Abständen fragen, warum sie so schlecht bezahlte Arbeit wählen.
Kurzum, wir haben ein fundamentales Grundbedürfnis kleingeredet, genauso wie Zeit und Leute, die es braucht, um es zu stillen. Und dann wundern wir uns, dass alle unglücklich sind. Besonders Eltern. Besonders Mütter. Besonders in der Pandemie. Der Stress, den die Kinder mitkriegen, darf dafür später einer der wichtigsten Einflussfaktoren für deren psychologische Probleme sein.
Zu wenig Hilfe – nicht nur für Eltern
Dabei muss man natürlich gar nicht Teil einer Familie sein, um sich alleingelassen zu fühlen. Bei allen Menschen steigert Einsamkeit das Risiko für Herz- und Schlaganfälle um ein Drittel. Ähnlich stark wie Arbeitslosigkeit oder eine Angststörung.
Dabei liegt ein Teil der Lösungen auf der Hand. Wir wissen, dass es Räume braucht, die Menschen zusammenbringen. Wir wissen, dass junge Eltern vor allem von gezielten Interventionen profitieren. Und dass es darum wichtig ist, früh diejenigen Familien zu erkennen, denen sie helfen könnten. Außerdem wissen wir, dass ein
Also, wie können wir besser über Menschen nachdenken?
Menschen verstehen, aber richtig
Um all unsere Bedürfnisse zu sehen, müssen wir erst mal die Grenzen zwischen Kopf und Körper verwischen. Dann wäre uns auch gleich aufgefallen, dass unser Bedürfnis nach Zuneigung sich nicht rein gesprächsbasiert stillen lässt. Auch wenn wir an unsere Stressreaktion denken, die hauptsächlich für Bärenangriffe konzipiert ist, ist ziemlich klar, dass sie von Kopf bis Fuß wirkt: gespannte Sprunggelenke, klopfendes Herz und rasende Gedanken. Eine hellwache Immunreaktion. Danach automatische Selbstberuhigung. Ein perfektes System.
Nur dass wir diese Reaktion hier bei uns vor allem für PowerPoint-Präsentationen nutzen, hat der Natur keiner gesagt. Das heißt, mentale Überforderung kann auch den Körper mitnehmen und hat einen massiven Einfluss auf unsere Gesundheit. Wo akuter Stress noch als Training durchgeht, macht uns chronischer eher Reizdarm. In der Klausurenphase reagiert unser Immunsystem selbst auf Hepatitis-Impfungen eher desinteressiert, und wenn wir krank sind, überfordert uns nicht nur langes Auf-den-Beinen-Stehen, sondern auch zu konzentriertes Sitzen vor dem Laptop.

Andersrum gilt: Das, was in unserem Körper passiert, lässt unser Gehirn nicht kalt, auch wenn wir das lange dachten. Immerhin lag es buchstäblich abgeschottet hinter seiner Blut-Hirn-Schranke. Wenn der ganze Körper mit Immunreaktionen beschäftigt war, schrieb es höchstens mal einen Beschwerdebrief, wegen der Hitze. Und wenn man es im Erwachsenenalter noch formen wollte, brauchte man schon einen Knüppel. Inzwischen wissen wir, dass man es auch mit Schlafmangel ausknocken kann, und müssen über vieles neu nachdenken.
Hormonell wirksame Medikamente, Mikroplastik, Stress, Timing: Über all das müssen wir nachdenken, wenn es um ein gesundes Leben geht
Über eine ganze Menge hormonell wirksame Medikamente z. B., bei denen wir im Gehirn immer zuletzt nachgeguckt haben. Zur Pille gibt es 40.000 Studien, aber bis jetzt noch keine ausreichende zur Wirkung auf das jugendliche Gehirn. (Genau genommen fehlen uns auch zum erwachsenen Gehirn noch jede Menge Infos. Zumal die Effekte wie üblich sehr individuell sind. Manchmal positiv, etwas häufiger mit einer Tendenz zu Ängsten und Depression. Besonders im Zusammenhang mit Risikofaktoren, weshalb es Sinn macht, zu dem Thema individuell zu beraten und ggf. auch individuell die beste oder problematischste Pillenvariante zu identifizieren.)
Darüber hinaus schwant uns, dass ein Lebensstil, der in unserem Körper für chronische Entzündung sorgt, für unser Gehirn auf Dauer wahrscheinlich auch nicht optimal ist. Mikroplastik lässt grüßen.
Das klingt alles sehr anstrengend. Gerade macht man sich noch Sorgen über die Steuererklärung, die Spülmaschine und die politische Lage, jetzt darf man nicht mal mehr Sorgen haben, ohne dass einen ein Entzündungsmarker in den Zeh kneift.
Aber die gute Nachricht ist: Das Problem war ja schon da. Jetzt finden wir neue Lösungen, sodass eine Therapie auch schon mal die Darmflora verbessert und Sport und Bewegung den Alterungsprozess unseres Gehirns verlangsamen. Alles ist mit allem verbunden – selbst wenn es dadurch sehr schnell kompliziert wird. Kein Wunder, dass wir bislang versucht haben, uns auf den Verstand zu konzentrieren. Aber wenn der dann keinen vernünftigen Gedanken mehr auf die Reihe kriegt, wissen wir nicht mal, wo wir ansetzen sollen.
Der Verstand wird allgemein überschätzt – und am Ende auch von Hormonen gesteuert
So können wir auch unser Konzentrationsproblem […] nicht einfach durch angestrengtes Stirnrunzeln lösen. Noradrenalin muss uns beim Fokussieren unterstützen, Dopamin beim Antrieb und Kortisol bei der Lernfähigkeit. Wir spüren den Unterschied an unserem Produktivitätslevel, wenn uns intrinsische Motivation treibt. Oder eine Deadline. Vormittags ist immer ein guter Zeitpunkt für die Motivation, wenn die entsprechenden Hormone von sich aus hochstehen (solange chronischer Stress sie nicht durcheinanderbringt). Nachmittags spüren wir vor allem, dass man eben nicht immer produktiv ist. Denn ohne den hormonellen Rückenwind muss unser Verstand ganz schön bergauf strampeln. Oder halt rückwärts hinabkullern ins Tal interessanter Ablenkungen.
Wenn unser Verstand Probleme macht
Überhaupt ist der Verstand oft gar nicht so sehr die Lösung als vielmehr die Ursache unseres Problems. Schließlich ist es unserer flexiblen Kognition zu verdanken, dass uns in einer Welt mit sehr wenigen lebensbedrohlichen Gefahren stattdessen einfach das stresst, was uns lebensbedrohlich vorkommt (Steuererklärungen). Und weil diese Bedrohung in unserem Kopf entsteht, haben wir sie jetzt auch noch immer dabei.
Trotzdem sagen wir nur »Ich wurde von meinen Gefühlen übermannt«, nie »von meinen Gedanken«. Als wären wir nicht alle schon mal von unseren Gedanken übermannt worden – irgendwann nachts um zwei.
In solchen Momenten können wir sogar den Körper nutzen, um den Kopf zu beruhigen. Indem wir lernen, tief einzuatmen z. B. oder gegen kaltes Wasser wieder aus. Denn auch mit dem Tauchreflex stimulieren wir das parasympathische Nervensystem – am Waschbecken oder im Freibad. Das Gleiche gilt für Kälte, also ruhig einfach mal Tiefkühlerbsen umarmen, oder einen Eiswürfel lutschen. Alternativ können wir es auch wieder mit einer Umarmung probieren. Wenn wir der Typ dafür sind. Alles sehr individuell, wie gesagt.
Unser Körper, ein Ökosystem aus dem Gleichgewicht
Es ist ein bisschen wie ein komplexes Ökosystem, bei dem sich wenig erzwingen lässt. Aber wenn wir es machen lassen, dann greift vieles ganz wunderbar ineinander: Kortisol steigt morgens und mit ihm auch die Körpertemperatur, besonders wenn beides mit dem ersten Sonnenlicht zusammenfällt. Wenn Melatonin uns dann sagt, dass es dunkel ist, verlangsamt sich der Herzschlag, und die Temperatur fällt, besonders in den Extremitäten. Darum schläft es sich mit warmen Socken so schlecht.
So wie beim Ökosystem sorgt das, was wir für die Wunder der menschlichen Zivilisation halten, für eine ganze Menge Probleme. Immerhin sind wir wahrscheinlich die einzige Spezies, die sich Wecker kauft, um sich ohne Not mit ihrem natürlichen Schlafrhythmus anzulegen. Wir stellen uns den Alarm zu früh am Morgen, starren nachts zu viel aufs Handy und kriegen tagsüber zu wenig Sonne. Im Urlaub zu viel.

Nach der Arbeit sind wir zu müde für Anregung, Bewegung oder Nähe, aber dafür gibt es vor unserem Fenster eine Baustelle, auf der samstags gebaut wird. Die Geräuschkulisse sorgt nicht nur für Stress, sondern auch für Schwierigkeiten damit, diese Stressachse zu regulieren. Nächtlicher Medienkonsum plättet die natürliche Kortisolkurve sowieso und steigert dabei noch Entzündungswerte.
Genauso wie der
Wie bringen wir das »Ökosystem Mensch« wieder ins Gleichgewicht?
Die dritte Gemeinsamkeit mit dem Ökosystem ist, dass wir, wenn es aus dem Gleichgewicht geraten ist, manchmal gar nicht so leicht rausfinden können, was uns fehlt. Dann raten wir einfach allen, denen es in irgendeiner Form schlecht geht, mehr zu spazieren oder sich nach der Ruhe langsam wieder mehr zu belasten, aber was bei Burn-out und kaputten Knien helfen kann, führt bei einer neuroimmunologischen Erkrankung wie Long Covid eher zum Crash.
Wo den einen
Die letzte Gemeinsamkeit ist die, dass wir nicht nur mit den chemischen Kreisläufen der Erde ziemlich komisch umgehen, sondern auch mit denen in unserem Inneren. Wenig überraschend eigentlich, schließlich sind wir nun mal Teil eines Ökosystems, und alles, was wir damit machen, betrifft letztendlich auch uns.
Vom Zucker in unserem Essen hat uns Janina
Schritt 1: Schadstoffe eingrenzen
Stoffe, die unser Hormonsystem stören, finden wir ebenfalls überall. […] Bis vor wenigen Jahren wären sie auch noch im Kassenbon gewesen. Immerhin mal eine gute Neuigkeit. Dafür sind sie jetzt in Reinigungsmitteln, Kosmetika und Gartenartikeln. Manche kennen wir noch gar nicht.
Sie alle sind trickreich, weil der Körper sie als Hormone erkennt, und reisen von daher unbemerkt durch Blut-Hirn-Schranke oder Plazenta. Die Vermutungen, was das bedeutet, ranken von weniger Spermien über mehr Endometriose und Krebs bis zur früher einsetzenden Pubertät. Dabei mehren sich auch die Hinweise, dass sie vor dem Gehirn nicht einfach umdrehen.
Mit der App ToxFox des BUND können Sie Ihr Badezimmerschränkchen durchscannen, um Störstoffe zu suchen. Allerdings hat das auch nur begrenzte Wirkung, wenn die inzwischen überall sind – in Schlittenhunden, im menschlichen Blut und auf dem Grunde des Ozeans. Woran man wieder sieht, dass individuelle Maßnahmen nur begrenzt gegen gesellschaftliche Probleme wirken.
Aber statt sich des Problems anzunehmen, fordern viele Politiker*innen sogar laschere Regeln, wie »sichere« Obergrenzen für bislang komplett verbotene Pestizide.
Eine Sicherheit, die es wissenschaftlich gesehen gar nicht gibt. Wer will schon überprüfen, wo die sichere Grenze für einen Fötus liegt? In Tierstudien ist die schon mal eine Million Mal kleiner. Anderswo wirken kleine Dosen manchmal stärker als große. Von den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Stoffen ganz zu schweigen. Wenn wir auf Wissenschaft hören würden, würden wir die Risikobewertungen
Schritt 2: All jene auffangen, denen es schlecht geht – und zwar rechtzeitig
Der nächste offensichtliche Schritt zu mehr (mentaler) Gesundheit wäre natürlich, alle aufzufangen, denen es gerade schlecht geht, z. B. durch ein weitaus besser ausgestattetes Gesundheitssystem. Mit weniger Personalmangel und
[…]
Insgesamt bräuchten wir mehr Forschung an der Schnittstelle zwischen Kopf und Körper und weitaus seltener die Verwendung des Wortes »psychosomatisch«. (Was theoretisch etwas ganz anderes bedeutet als »ausgedacht«, aber praktisch trotzdem gerne in dieser Bedeutung benutzt wird.)
[…]
Schritt 3: Mehr Stadtnatur für ein gesundes Hirn
Für die Prävention würden wir schon eine Menge erreichen, wenn wir unsere Umgebung so gestalten, wie es bisher im Buch thematisiert worden ist. Weniger ist mehr. Weniger Schmutz, weniger Asphalt, der sich aufheizt. [Wir sollten uns] zusammenraufen und den ganzen Mist aus unserer Umwelt kehren, der nichts und niemandem guttut.

Kognitiv tut uns Natur gut, weil sie an unsere Verarbeitung weitaus weniger Ansprüche stellt. Wir müssen nicht ständig alles im Blick haben. Links Bäume, rechts Bäume und dazwischen Zwischenräume. Das reicht. Darum fällt uns konzentriertes Denken in der Natur oft leichter. Aber bevor wir jetzt gleich im Späti nach einem Landlust-Magazin fragen:
Sie machen uns zu Aufmerksamkeitsprofis, die schnell Umgebungen scannen und in der Breite verarbeiten – wie professionelle Fahrer*innen oder Fußballspieler*innen. Das ist, je nach unserer aktuellen Verfassung, anstrengend oder ein tolles Kognitionstraining. An der Jacobs University in Bremen haben wir erforscht,
Wenn wir also unsere Welt gestalten, sollte es dabei weniger um naturnahe Nostalgie gehen (auch wenn dieses Landlust-Magazin wirklich verdammt schön fotografiert ist) als darum, alles zusammenzubringen: Städte, die weniger stressig sind, und Dörfer mit Kultur und Stadtbusanschluss.
Schritt 4: Auf den Biorhythmus hören – anders schlafen, weniger arbeiten
Die nächste Parallele: So, wie wir die Biber einfach mal machen lassen sollten, sollten wir auch den biologischen Rhythmen öfter mal die Zügel in die Hand geben. Mehr Mut zum Aufwachen ohne Wecker (möglicherweise mit Papageien). Schon drei Tage Campen ohne technische Geräte können den Schlafrhythmus zurücksetzen (bei Einschlafschwierigkeiten hilft manchmal auch, eine Nacht durchmachen).
Wenn wir schon dabei sind, können wir auch im Unterricht weniger auf Klausuren setzen und mehr auf das, von dem die Neurowissenschaft weiß, dass es Plastizität anregt: Freude, Bewegung, Kreativität, Lesen, sozialer Kontakt. Es ist schon faszinierend, dass es keine der entsprechenden Plastizitätstrainingsstudien je mit »Schule« probiert.
Grundsätzlich würden wir weniger arbeiten, hätten mehr Zeit für Anregung und Bewegung und würden im Winter nach Hause kommen, bevor es dunkel wird. Schon mit
Schritt 5: Arbeit von Sinn entkoppeln
Dagegen fallen Debatten um die
Wir sollten unser Möglichstes tun, damit Sinngebung von Arbeit unabhängig wird. So hat in Schweden ein Grundeinkommen, als Ersatz für das klassische maßnahmengebundene Arbeitslosengeld, die Gesundheit auch schon merklich verbessert (und dabei genauso viele Leute in Arbeit gebracht wie die Maßnahmen).
Aber bei allen großen Veränderungen, die dringend anstehen, wäre die erste doch, menschliche Bedürfnisse in politischen Alltagsentscheidungen nicht mehr außen vor zu lassen, wie wir’s heute ständig tun.
Schritt 6: Politik machen, die auf menschliche Bedürfnisse schaut
Klar, theoretisch wissen wir, dass unser Kopf Anregung braucht. Aber wenn uns Rentner*innen sagen, dass sie mit dem 9-Euro-Ticket endlich mal wieder rauskommen, muss man sich plötzlich »schon mal fragen, ob die Fahrten wirklich nötig sind«. Auch das Wissen um intrinsische Motivation ist nicht wirklich neu, aber in Schule und Uni geht trotzdem nichts ohne Noten.
Selbst »Wer arbeitet, muss mehr haben, als wer nicht arbeitet« bedeutet letztlich, dass einem außer Geld buchstäblich kein anderer Anreiz einfällt (außer natürlich, dass es irgendwelchen armen Leuten schlechter geht). Die Selbstwirksamkeit geht unter, wenn sich Politik nicht erklärt oder Anliegen der Wählenden nicht umsetzt (Klima und Berliner Volksentscheid winken mit einem Zaunpfahl). Auch die Coronapolitik hätte wahrscheinlich anders ausgesehen, wenn man sich klar gemacht hätte, dass es wenig Anstrengenderes gibt als monatelange Maßnahmen, die zu halbherzig sind, um zu wirken.
Dem Bedürfnis nach Familienzeit kommt die EU gerade entgegen – und plant fürs zweite Elternteil eine Freistellung von … ähem … zehn Tagen. Deutschland würde sich selbst davor gern drücken und verweist auf die Elternzeit. Als wär eine Freistellung irgendwann in zwei Jahren das Gleiche wie eine Garantie, dass nach einem Kaiserschnitt jemand zu Hause ist, der das Kind wickelt und einem Erdnüsse reicht.
Über das Bedürfnis nach Gerechtigkeit kann man nicht mal reden, ohne dass jemand unter dem Ruf »Neiddebatte« zum Fenster reinsteigt. Dabei haben wir’s schon auf Seite 40 bei der
In der Zwischenzeit könnte Jeff Bezos vielleicht etwas Schweres auf den Fuß fallen. Ausgleichende Gerechtigkeit ist ein Grundbedürfnis. Und ein sehr verständliches: Je kooperativer die Spezies, desto ausgeprägter ihr Gespür für Fairness. Kein Wunder, denn Kooperation bietet ja immer die Gefahr, dass uns jemand über den Tisch zieht.
Zur Anschauung lassen Sie zwei Kinder Räuberleiter machen und feststellen, dass es nur ein Bonbon gibt. Wo die
Weltweit liegt das Lohngefälle, das Menschen zwischen ungelernter Arbeitskraft und CEO zu tolerieren bereit sind, zwischen dem doppelten und dem 20-fachen Gehalt. Aber weltweit liegt der tatsächliche Wert weit darüber. Das ist – wie der Carbon Dinosaurier sagt – nicht nur eine verschwenderische Art, mit unseren knappen Ressourcen umzugehen, sondern auch eine Gefahr für die Demokratie. Im Experiment ist der längere Hebel außerdem die Bedingung, unter der wir uns am unsozialsten verhalten.
Auf der anderen Seite verstärkt das Lohngefälle den wohl größten, realsten Stressfaktor: Existenzängste. Die erschüttern unser Gleichgewicht so sehr, dass es schon unsere Kinder spüren – und
Eine Welt ohne Existenzsorgen?
Es gibt eine Menge Artikel dazu, wie wunderbar wirksame
Wer weiß, wie die Welt aussehen könnte, wenn wir uns nicht mit Existenzsorgen rumschlagen müssten? John Maynard Keynes, auf dessen Ideen unsere Wirtschaft bis in die 70er aufbaute, war fest davon überzeugt, dass wir mit der 15-Stunden-Woche unser volles Potenzial erreichen. Und als England seinen Landpfarrern Bildung, Geld und wenig Arbeit gab, erfanden die:
Bill Bryson hat in seiner gesamten Sammlung der Wissenschaftsgeschichte bei den frei tüftelnden Landpfarrern mehr Durchbrüche gefunden als in allen dafür vorgesehenen Institutionen. Auch das ist offensichtlich ein Weg, Menschen ins Großprojekt Wissenschaft mit hineinzuziehen: Freiheit, Zeit und Muße.
Eine Welt, in der wir tatsächlich den Menschen in den Mittelpunkt stellen, könnte auf vielen Ebenen aufregend aussehen.
Der Buchauszug wurde redaktionell von Lara Malberger bearbeitet: So wurden Beschreibungen der Quellen, Klapper und Zwischentitel eingefügt. Kürzungen sind mit […] markiert. Den vollständigen Auszug liest du im Buch »Weltrettung braucht Wissenschaft«.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily