Wie wir eine Welt bauen, in der sich Hirn und Hormon wohlfühlen
Warum Politiker:innen viel häufiger auf Neurowissenschaftler:innen hören sollten.
Wenn wir auf die Neurowissenschaften hören würden, würden wir den Menschen selbst mehr in die Mitte all unserer Überlegungen zur Zukunft stellen. Kein Wunder, denn er steht ja bereits in der Mitte unserer Forschung. Damit kennen wir uns also aus.
Jetzt könnte man fragen, ob der Mensch nicht schon genug im Mittelpunkt steht. Immerhin spricht man vom aktuellen Zeitalter buchstäblich
Seit Jahren steigt auch in reichen Ländern die Zahl an Menschen, die sich unzufrieden, depressiv, ängstlich, ausgebrannt oder allgemein überfordert fühlen. Auch die Lebenserwartung bewegt sich nach 100 Jahren Fortschritt vielerorts wieder nach unten. Das heißt, wir haben den Planeten rabiat in unserem Sinne gestaltet und geben dem Ergebnis höchstens zwei von fünf Sternen.
Wie eine Welt für Menschen nicht aussehen sollte
Also, wie baut man eigentlich eine Welt für Menschen? Die Modelle, auf die sich Politik aktuell stützt, können uns dabei wenig helfen: Das Bruttosozialprodukt misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen. Wenn wir alle zum Therapeuten müssen, steigt es also an.
Auch der
Kein Wunder, dass wir die Welt ziemlich häufig an unseren Bedürfnissen vorbei bauen. Aber mehr noch, in anderen Bereichen bauen wir direkt dagegen an. Beispiel gefällig?
Ein Problem: Zu wenig Zuneigung
Nehmen wir Zuneigung. Das wunderbare Gefühl, das es uns erlaubt, andere Leute auf dem Sofa direkt neben uns zu tolerieren und uns dabei nicht angespannt zu fühlen, sondern besser. Dafür muss unser Hormonsystem einiges an beruhigenden Effekten auspacken, und die wirken ziemlich tief: vermitteln uns Sinn und Freude, senken den Blutdruck, motivieren das Immunsystem, verbessern Schlaf und verlängern Leben. Wir brauchen Zuneigung – ob in Beziehungen oder WGs. Fast so dringend, wie wir die Ruhesignale von Melatonin und Schlaf brauchen. All das, was unserem Inneren verdeutlicht, dass es sich jetzt auch mal um sich selbst kümmern kann.
Aber niemand von uns braucht die Beruhigungseffekte so dringend wie Babys. Weil wir Selbstberuhigung am Anfang unseres Lebens erst noch lernen müssen, weil die passenden neuronalen Leitungen bislang kaum gelegt sind und Aufregen evolutionär gesehen immer Priorität hat. In der Zwischenzeit übernehmen wir die Ruhe von anderen. Vorzugsweise denjenigen, die sich uns an die Brust legen. So synchronisieren sich Atmung und Körpertemperatur. Die Schmerzschwelle steigt, denn das Hormonsystem schickt auch bei den Eltern Oxytocin und Opioide durch die Leitung.
Oxytocin aktiviert direkt den Vagusnerv, den Adrenalin gerade noch unterdrückt hat, und versetzt dadurch unser Herz und alles, was daran hängt, in seinen entspanntesten
In Utrecht haben wir erforscht, wie kindliches Trauma auf diese Art dazu beitragen kann, dass wir soziale Situationen und die passenden Hormone ganz unterschiedlich erleben. Manche gerade richtig, andere hypersensibel und wieder andere mehr so: Meh. Wobei »gerade richtig« auch eine Frage des Umfelds ist – eine Stressreaktion, die auf das eine Umfeld perfekt eingestimmt ist, wirkt im nächsten plötzlich total überfordert. Oder gelangweilt und unkonzentriert.
Babyschreien ist keine Manipulation
Die Natur ist faszinierend. Aber statt ihr Stück für Stück auf die Spuren zu kommen, versuchen wir seit über 100 Jahren, Eltern das, was sie ihnen vermittelt, auszureden: Sprich, die natürliche Reaktion auf Babyschreien: hingehen, hochnehmen, schuckeln.
Letzteres unterstützt Oxytocin übrigens mit seinen hilfreichen Effekten auf die Muskelkontraktion, die sich schon Blutegel zunutze machen. 100 Millionen Jahre praktischer Evolution. Aber von abergläubischen Viktorianer*innen über die kruden 30er Jahre bis zu Bestsellern in diesem Jahrtausend erklären uns diverse Ideologien, dass man zu schreienden Kindern allerhöchstens mal zur Besprechung ins Zimmer geht – ohne Anfassen oder Trösten – so, wie zu kleinen Finanzberatern. In den Niederlanden galt Schreien noch bis vor kurzem als Grundpfeiler der Lungenentwicklung.
Und weil Wissen, das einmal in der Welt ist, sich wie immer ratzfatz verbreitet, sieht man jetzt auch in Sitcoms Eltern händeringend vor der Kinderzimmertür stehen, beim Versuch, ihr schreiendes Kind zu ignorieren. Auf TikTok erklären Mütter Müttern, Babyschreien wäre »manipulativ«. Die Datengrundlage für den Nutzen dieser Methode ist genauso dünn wie unser Wissen darüber, was dieser lang anhaltende Stress mit dem kindlichen Gehirn macht. […]
Die Befürchtung ist auch, dass Kinder verlernen, ihren Stress zu signalisieren. Die Stresshormone wüten, aber das Kind ist ganz still. Man sollte meinen, wir wären uns etwas sicherer, wenn wir Eltern etwas ausreden, was ihnen durch Mark und Bein geht. Aber nein. Trotzdem kam uns diese Methode lange Zeit wissenschaftlicher vor, vielleicht gerade weil sie unsere emotionalen Grundbedürfnisse ignoriert. […]
Wir reden Grundbedürfnisse klein und wundern uns, wenn das unglücklich macht
Das ist nicht der einzige Elterninstinkt, den wir ausblenden. Auf die Frage, welche Rolle der zweite Elternteil spielt, antworten beispielsweise immer noch viele Länder mit: »Wer?« Dabei macht das Hormonsystem der Väter eigentlich ein ähnlich großes Erdbeben durch wie das der Mütter (oder z. B. bei schwulen Pärchen das der Bio-Väter). Wie immer wirkt das auch aufs Gehirn. Außerdem setzt die menschliche Strategie »extrem hilfloser Nachwuchs, dessen Gehirn nach der Geburt weiterwächst« eigentlich von Beginn an auf Teamarbeit. Nicht nur von mehreren Eltern, sondern auch auf die freundliche Unterstützung von Freund*innen und Verwandten. Die sorgt traditionell dafür, dass Eltern nicht überfordert sind und Kinder nicht alle ihre Marotten übernehmen […].
Nur wir haben uns in den Kopf gesetzt, dass »Fremdbetreuung« per se was Suspektes ist. Als wär es nicht weitaus suspekter, eine Aufgabe, die sich vorher 100 Leute geteilt haben, zweien allein aufzuhalsen. Oder auch den überstrapazierten Leuten, die sich diese Care-Arbeit zum Beruf gemacht haben und die wir zum Dank in regelmäßigen Abständen fragen, warum sie so schlecht bezahlte Arbeit wählen.
Kurzum, wir haben ein fundamentales Grundbedürfnis kleingeredet, genauso wie Zeit und Leute, die es braucht, um es zu stillen. Und dann wundern wir uns, dass alle unglücklich sind. Besonders Eltern. Besonders Mütter. Besonders in der Pandemie. Der Stress, den die Kinder mitkriegen, darf dafür später einer der wichtigsten Einflussfaktoren für deren psychologische Probleme sein.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily