Diskutieren mit ignoranten Verwandten – so geht es
Ein Überlebensleitfaden nicht nur für die Feiertage. Und nicht nur für Verwandte.
Für viele Menschen stehen in den kommenden Tagen und Wochen Besuche bei Familie und alten Bekannten an. Bei manchen davon wird es zu »schwierigen« Diskussionen kommen. Denn die vergangenen Jahre haben
Extreme Narrative und Desinformationen sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Manch ein besinnliches Beisammensein in einem feierlich geschmückten Wohnzimmer droht durch eine ignorante
»
»Die Asylanten kommen doch nur, um auf unsere Kosten abzukassieren.«
»Putin ist 100% im Recht.«
Und was dann?
Wenn du jemand bist, der sich an den Feiertagen einzig und allein um den Familienfrieden sorgt, dann brauchst du an dieser Stelle nicht weiterlesen. Dann kannst du einfach
Für alle anderen, deren innerer Moralkompass allein bei der Vorstellung, in so einer Situation zu schweigen, unruhig ausschlägt, ist dieser Text geschrieben: Mithilfe von Diskussionsexpert:innen gebe ich dir 4 konkrete Hilfestellungen. Sie sollen dir Mut geben, dagegenzuhalten, und dir helfen, die richtigen Worte und Strategien zu finden, um selbst das ignoranteste Gegenüber ein Stück weit zum Nachdenken zu bringen.
1. Wann es Zeit ist, etwas zu sagen
»Diese Pro-Palästina-Demos finde ich ganz furchtbar. Die Palästinenser haben sich die Reaktion mit ihrem Terror doch selbst eingebrockt.« Die streitlustige Tante lehnt sich nach dem Klopper im Stuhl zurück und schaut fordernd in die Runde, ob es jemand mit der neuen Stammtisch-Nahost-Expertin aufnehmen will. Die Blicke der Anwesenden suchen einander: Wer wagt sich vor – und in die Diskussion? »So denken doch die meisten«, setzt die Tante noch einen drauf …
Fällt ein provokanter Satz, kann Schweigen als Zustimmung gewertet werden. Insbesondere dann, wenn mit einer angeblichen Mehrheit argumentiert wird.
Denn dahinter liegt ein alter wie billiger Trick, den US-Präsident Richard Nixon schon 1969 nutzte, um die Proteste gegen den Vietnamkrieg zu delegitimieren. Wer nicht mitprotestierte, wurde einfach als Gegner:in der Proteste vereinnahmt. Aus Nixons Sicht schenkten die Medien der
Kommt dir das bekannt vor?
Fakt ist, dass es schlichtweg unmöglich ist, zu wissen, was eine Mehrheit denkt, solange sie schweigt. Selbst Wahlergebnisse oder Umfragen sind nur grobe Richtwerte. Deshalb lässt sich über eine schweigende Mehrheit nahezu alles behaupten – sie widerspricht ja nicht.
Doch in einer konkreten Gesprächssituation ist das anders. Die »schweigende Mehrheit« sitzt exemplarisch am Tisch und du bist womöglich ein Teil davon. Jede Gegenrede, selbst ein knappes »Ich jedenfalls bin anderer Meinung und ich kenne andere, die das ähnlich sehen«, nimmt einem billigen Mehrheitsargument Wind aus den Segeln und lässt die Behauptung dahinter nicht für sich stehen. Und das ist gut so, denn jedes Dagegenhalten kann zum Nachdenken anregen.
Das ist eine zentrale Lektion von Aussteigerprogrammen wie STEIG AUS! oder EXIT, die regelmäßig Menschen mit noch viel extremeren Meinungen als die deiner Tante
Denn bei Provokationen geht es oft nur darum, Zustimmung von einer Gruppe zu erhalten und sich in der eigenen Weltsicht zu bekräftigen – oder Widerspruch einem zurechtgelegten Feindbild zuzuordnen.
Und noch eine weitere Lektion haben Aussteigerprogramme parat: Es sind gerade soziale Bezugspersonen wie Familie, Freund:innen und enge Bekannte, die eine Chance haben, Zweifel zu säen und Menschen von extremen Meinungen
Deine Gegenrede am Weihnachtstisch ist also vielleicht die beste Chance, deine Bezugspersonen wachzurütteln – oder zumindest den Weg dahin anzustoßen.
Den »Familienfrieden« störst du damit nicht, jedenfalls nicht auf unangemessene Art und Weise. Denn nicht die Gegenreden, sondern die Provokationen sind es, die ihn eigentlich stören. Das zu ignorieren schadet letztendlich deiner Beziehung zu der Person und unserer Gesellschaft als Ganzes.
2. Lasse dich nicht unterbuttern!
Dein Onkel schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass es knallt, und bellt: »Klima! Klima! Ich kann es nicht mehr hören! Früher haben wir noch für was Gescheites demonstriert.« Es ist still am Tisch geworden. Das donnernde Machtwort hat gesessen und es scheint klar, wer hier das Sagen hat.
Oder?
Eigentlich steckt in einer solchen Aussage gar kein ernst zu nehmendes Argument, sondern ein sogenannter »Traditionsfehlschluss«. Früher war vieles anders, je nachdem wie weit man zurückgeht – Elektroschocks bei psychischen Krankheiten, Zwangssterilisation, Kinderarbeit, Sklaverei. Früher war eben vieles nicht besser.
Doch das eigentliche Problem ist ein anderes: Der Onkel argumentiert auf einer ganz anderen Ebene als du.
Peter Modlers Buch
Sie sind weniger am Austausch von Argumenten und Meinungen interessiert, sondern vor allem an der Darstellung einer Überlegenheit – wenn etwa der Familienpatriarch die Faust auf den Küchentisch knallt oder laut wird.
Hier trifft, so Modler, eine »horizontale Strategie«, die sich auf Argumente stützt, auf eine völlig inkompatible »vertikale« Gesprächsstrategie, die auf vereinfachte, aber kraftvoll klingende Sätze, Dominanzgebaren und Körpersprache setzt.
Und wie wehrt man sich dagegen?
Ein erster Schritt ist es, zu erkennen, wenn Menschen die Gesprächsebene wechseln. Nur so kannst du ansonsten rätselhaftes Verhalten (auf den Tisch schlagen, laut werden) richtig lesen und überhaupt kontern.
Modler rät dann, für einen Augenblick das Machtgehabe zu spiegeln. Haue ebenfalls auf den Tisch und werde (gekünstelt) laut, um klarzumachen, dass das Gespräch auf diese Art nirgendwohin führt. Im besten Fall gibt deine Reaktion diese Gesten der Lächerlichkeit preis – aber nur wenn die anderen Anwesenden mitspielen.
Denn das Dominanzgebaren der »vertikalen« Kommunikation ist gar nicht für dich bestimmt, sondern für die anderen, die zuhören. Und genau sie können moderierend eingreifen, wenn sie auf Zack sind. Hinweise auf Grenzüberschreitungen – »Gute Güte, nicht an Heiligabend! Das ist unanständig« – können funktionieren. Denn das appelliert an Werte wie Anstand und Tradition, die sich nur schwer abstreifen lassen.
Doch Modler geht noch einen Schritt weiter und rät dazu, selbst die vertikale Argumentationsebene mitzudenken, wenn man mit Machtspieler:innen zu tun hat. Denn aus deren Perspektive sind Diskussionen oft kaum mehr als ein spielerischer Schlagabtausch, um herauszufinden, wer wen dominiert, und Argumente nur dann gut, wenn sie auch »kraftvoll vorgetragen« werden. Selbst wenn du hier nicht mitspielen magst, kannst du einiges davon lernen: Eine selbstbewusste Stimme,
3. Behalte das große Ganze im Blick
»Die ganzen Asylanten kassieren doch nur vom Sozialsystem. Und weil wir die mit durchfüttern müssen, wird Deutschland immer ärmer.« Der Satz lässt deinen Puls schneller schlagen. Es hört sich an wie etwas, was dein kleiner Cousin im Netz aufgeschnappt
Mit Sicherheit nicht beim Wort »Asylant«, wenn du Erfolg haben willst.
Denn obwohl es in der Tat seit Jahrzehnten ein »Unwort« in der Migrationsdebatte ist –
Aber vielleicht wusste er es nicht besser, vielleicht ist es eine Vokabel in seiner Peergroup, seiner Echokammer. Mit Sicherheit wird er sich aber nicht vor den Zuhörenden eine Begriffsdefinition bieten lassen. Wenn du darauf einsteigst (»Asylant sagt man nicht mehr«, »Aha. Ich sag das aber.«) endet euer Gespräch in einem Streit um eine Begriffsdefinition, die vor allem eure Unterschiede aufzeigt und euch einander mehr entfremdet. Denn letztendlich versuchst du dabei zu reglementieren, was er wie sagt – und redest am eigentlichen Kern seiner Aussage vorbei, der (je nachdem wie sehr ihr euch in Semantik verzettelt) unwidersprochen bleibt.
Es ist in gewisser Weise dasselbe Problem, das die US-amerikanischen Demokraten
Journalist und Autor Anand Giridharadas beschreibt die psychologischen Mechaniken dahinter in seinem neuen Buch »The Persuaders: At the Front Lines of the Fight for Hearts, Minds, and Democracy« (2022) treffend: Menschen teilen die Welt ganz selbstverständlich in ein »Wir« und ein »Die« ein. Und Begrifflichkeiten sind immer auch Ausdruck von Zugehörigkeiten.
Um echte Gespräche zu führen, muss man aber, so Giridharadas, das Trennende beiseiteschieben können und Gemeinsamkeiten betonen. Und das fängt bereits da an, die Sprache des anderen zumindest zeitweise stehen zu lassen und sich lieber um die Argumente zu kümmern, die wichtig sind. Giridharadas bricht es sehr vereinfacht auf eine Formel herunter: Gemeinsamkeiten betonen, Problem korrekt benennen, Lösungsweg aufzeigen. Dabei kann es sich lohnen, weniger moralisch und mehr pragmatisch zu argumentieren. Zum Beispiel so:
»Wir leben doch in einem reichen Land, wovon wir täglich profitieren. Und ja, Inflation macht unsere Gesellschaft gerade ärmer, das macht mir auch Sorgen. Auch ich möchte wohlhabend bleiben. Aber mein Wohlstand ist nicht durch Menschen bedroht, die vor Krieg und Hunger fliehen. Wir müssen viel eher über das große Ganze reden, über gerechte Verteilung – und über die, die unsere Gesellschaft tatsächlich ausnutzen und ihren Superreichtum an der Steuer vorbeischummeln.«
So oder so ähnlich könnte ein Argument nach Giridharadas’ Formel aussehen. Auf Gesprächspartner:innen zuzugehen ist keine Handreichung oder Schwäche, es ist eine direkte Strategie gegen die Polarisierung des Diskurses –
4. Stelle Fragen (und hinterfrage dich selbst)
»Fakt ist doch, die NATO hat Russland nun mal provoziert und hat eigentlich Schuld an dem Ukraine-Schlamassel! Was Putin da macht, nennt man präventive Notwehr. Es sind doch nur die Waffen der EU, die aus der sauberen Militäroperation einen Dauerkrieg gemacht haben, der vor allem Deutschland schadet.« Der Tiefpunkt des Abends ist erreicht, das Niveau im
Nicht so schnell.
Denn vielleicht denkst du im falschen Rahmen über das Gespräch nach. Denn warum muss es überhaupt einen Gewinner in einer Diskussion geben?
Diese Frage stellt sich auch Autorin Mónica Guzmán. In ihrem Buch
Mehr über die »Engel«, die Demokraten und Republikaner zu versöhnen suchen, erfährst du in diesem Artikel von Morgane Llanque:
Guzmán weiß und beschreibt genau, wie schwer, gar schmerzhaft Diskussionen werden können. Ihre Eltern, mexikanische Einwanderer, sind erzkonservativ und haben gleich 2-mal für Trump gestimmt. Die Gespräche mit ihnen prägen ihre Lösungsansätze. So ist sie sich sicher: »Wir müssen der Versuchung widerstehen, eine Diskussion gewinnen zu wollen.« Nur dann findet echter Austausch statt, von dem beide Seiten etwas lernen.
Denn in einer polarisierten Gesellschaft sind entfremdete Gruppen zunehmend blind für ihre Perspektiven und – viel wichtiger – für deren Gründe, so Guzmán.
Diese sind oft weit komplexer und vielleicht sogar nachvollziehbarer, als dass sie sich mit einem Schlagwort wie »Ignoranz« abtun ließen. Bist du denn sicher, fragt Guzmán, dass du dein Gegenüber richtig verstehst? Oder kannst du selbst dazulernen, wenn du, statt Argumente zu schwingen, Fragen stellst – keine rhetorischen, sondern echte, aus reiner Neugier?
Zum Beispiel diese: »Warum glaubst du das?«
Das ist die einfachste und vielversprechendste solcher Fragen. Zumindest, wenn du dich nicht mit Desinformationen, Polit-Influencer:innen oder anderen ominösen Quellen als Antwort abspeisen lässt.
»Nein, nicht woher du die Idee hast, sondern warum du das glaubst?«
Guzmán argumentiert, dass Diskussionen oft auf der oberflächlichen Ebene verblieben und wir nicht zu den wahren Motiven und Gründen durchdrängen, die uns einander verstehen ließen. Denn das sei eine andere Form von Austausch und Gespräch: Fragen stellen und gestellt bekommen. Es zeigt, dass wir bereit sind, antrainierte Argumentationsmuster und Phrasen, die wir wie Schutzschilde vor uns hertragen, zurückzulassen, und dass wir wirklich aneinander interessiert sind.
Was auf sozialen Medien unter Fremden kaum funktionieren dürfte, hat gerade in der Umgebung mit Bezugspersonen eine Chance. Denn hier sollte ein echtes Interesse ja gegeben sein. Und vielleicht lernt man dann nicht nur mehr über die Sorgen, Ängste und Verletzungen des Gegenübers, sondern stößt auch auf Bedenkenswertes:
»War der gesellschaftliche Umgang mit Ungeimpften nicht vielleicht streckenweise doch von einer überzogenen anfeindenden Tonalität geprägt, die Auswirkungen hatte?«
Solche (Selbst-)Zweifel seien ein positives Zeichen, argumentiert Guzmán. Nicht nur, weil wir dadurch auf Wahrheiten stoßen könnten, die wir selbst bisher übersehen hätten, sondern auch, weil sich das Gegenüber so wirklich gehört fühle und im besten Fall selbst anfange, die richtigen Fragen zu stellen – und zu zweifeln.
Die besten Ratschläge in Kürze
Aus den vielen Ratschlägen der Expert:innen lassen sich gute Hilfestellungen ableiten, die dir helfen können, »schwierige« Diskussionen in konstruktive Gespräche zu verwandeln. Hier noch einmal zusammengefasst:
- Grenze dich von einer schweigenden Mehrheit ab.
- Signalisiere dem Gegenüber freundlich, dass du die Haltung nicht gut findet, den Menschen dennoch respektierst.
- Erkenne Machtspieler:innen, spiegele ihr Verhalten möglichweise oder greife moderierend ein, appelliere an Werte wie Anstand und Respekt.
- Achte bei Dominanzgehabe selbst auf eine selbstbewusste Stimme, starke Körpersprache und kraftvolle Gesten.
- Schiebe trennende Begrifflichkeiten beiseite und betone stattdessen das Gemeinsame.
- Verabschiede dich vom Gedanken, eine Diskussion »gewinnen« zu wollen.
- Stelle ernst gemeinte Fragen und versuche, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily