Warum du dich nicht so gut kennst, wie du denkst
Ein psychologischer Effekt beeinflusst unsere Selbstwahrnehmung – so durchschaust du ihn.
Dieser Artikel beginnt mit einem kleinen Experiment: Dafür habe ich mit einer Verhaltensforscherin einen Fragebogen entwickelt. Gemeinsam haben wir Eigenschaften abgeleitet, die typisch für PD-Leser:innen sind – also auch für dich. Um zu testen, wie gut unsere Analyse zutrifft, beantworte bitte die folgenden Fragen (die Details der Methode und was genau es mit den Ergebnissen des Fragebogens auf sich hat, erfährst du später):
Bist du überrascht, wie oft du den Fragen zugestimmt hast? Oder hast du unser »Experiment« direkt durchschaut?
Ich zumindest war verwundert, wie viele Antworten sich nach einem ersten Test in der Redaktion auf der »Ich stimme zu«-Seite der Antwort-Skala befanden. Denn den Fragebogen habe ich, anders als angekündigt, nicht mit einer Verhaltensforscherin erstellt. Er ist auch nicht speziell auf Perspective-Daily-Leser:innen zugeschnitten. Die Aussagen darin stammen aus einem Experiment aus dem Jahr 1949, das ich in leicht abgewandelter Form nachgestellt habe.
Das Experiment, das meinem kleinen Fragebogen zugrunde liegt, hat ursprünglich der US-amerikanische Psychologe Bertram Forer mit einer Gruppe Studierender durchgeführt. Dafür mussten sie einen ganz ähnlichen Fragebogen ausfüllen wie den obigen. Allerdings ist die Originalversion um einiges länger. Forer versprach den Studierenden, den Fragebogen auszuwerten und daraus eine Persönlichkeitsbeschreibung abzuleiten.
In einem Text erhielten die Studierenden einige Wochen später eine – angeblich – auf sie zugeschnittene Persönlichkeitsanalyse. Was sie nicht wussten: Sie alle erhielten exakt den gleichen Text mit Aussagen über »ihre« Persönlichkeit, den Forer aus den Fragen abgeleitet hatte. Mit dem obigen Fragebogen als Grundlage würde der Text, der deine Persönlichkeit beschreibt, in etwa so aussehen:
Erfolgserlebnisse und positive Rückmeldungen von anderen sind dir wichtig. Dabei bist du tendenziell selbstkritisch. Auch wenn deine Persönlichkeit Schwächen aufweist, bist du insgesamt gut in der Lage, sie auszugleichen. Während du äußerlich in der Regel beherrscht und diszipliniert wirkst, bist du innerlich zeitweise besorgt und unsicher. Manchmal bist du extrovertiert, umgänglich und kontaktfreudig, zeitweise aber auch introvertiert, vorsichtig und zurückhaltend.
Nachdem Forer seine angeblichen Analysen verteilt hatte, fragte er die Studierenden, wie gut der Text zu ihrer Persönlichkeit passen würde. Das Überraschende: Im Schnitt erkannten sich die Befragten gut bis sehr gut in den Aussagen wieder. Auch die Qualität der Fragen schätzten sie positiv ein.
Der Barnum-Effekt: Wir glauben zu gern, was andere über uns sagen
Der psychologische Effekt, den Forer daraus ableitete, beschreibt bis heute die Tendenz von Menschen, vage, mehrdeutige und allgemeine Aussagen über ihre Persönlichkeit zu akzeptieren und so zu interpretieren, dass sie zu ihnen passen. Genannt wird dieses Phänomen »Forer-« oder »Barnum-Effekt« – zweiteres nach Phineas Barnum, einem aus heutiger Sicht durchaus kritikwürdigen
Dabei begünstigen Aussagen den Barnum-Effekt, die folgende Merkmale aufweisen:
- Sie sind vage formuliert (verstärkt durch Zusätze wie »tendenziell« oder »in der Regel«).
- Sie befinden sich zwischen 2 Extremen (»manchmal extrovertiert, manchmal introvertiert«).
- Sie enthalten Aussagen, die sich gegenseitig entkräften (»du hast Schwächen, aber kannst sie ausgleichen«).
- Sie enthalten hauptsächlich positive Aussagen.
- Sie beschreiben Eigenschaften, die tatsächlich häufig auftreten (»Erfolgserlebnisse sind wichtig«).
Natürlich unterscheidet sich der Fragebogen am Anfang dieses Textes von Forers Experiment und auch die Ausgangssituation ist eine andere. Es ergibt einen Unterschied, wenn dir ein Professor für Verhaltensforschung verspricht, dein Verhalten anhand wissenschaftlicher Verfahren zu analysieren. Deshalb funktioniert das Experiment in diesem Artikel wahrscheinlich etwas weniger gut – es dient eher zur Veranschaulichung. Umso faszinierender finde ich, dass es in meinem ersten Test dennoch zu den von mir erhofften Ergebnissen geführt hat.
Seit Forers Experiment wurde der Effekt weiter untersucht und bestätigt. Zum Beispiel mithilfe
Wer glaubt an Grafologie?
Kurz erklärt, funktioniert es so: Eine Gruppe Studierender wird danach gefragt, wie sie die Aussagekraft von Grafologie einschätzen – also einer (unwissenschaftlichen) Methode, die verspricht, von der Handschrift eines Menschen seine Persönlichkeitsmerkmale ableiten zu können. Das Vertrauen der Befragten in die Methode ist dabei zunächst eher mäßig. Einige Wochen später wird einem Teil der Gruppe eine Persönlichkeitsbeschreibung nach Barnum-Kriterien vorgelegt, angeblich anhand ihrer Handschrift ausgearbeitet. Und siehe da: Ihr Vertrauen in die Aussagekraft von Grafologie verbesserte sich – im Vergleich zur Kontrollgruppe, die keine solche Analyse erhält – signifikant.
Warum du den Barnum-Effekt kennen solltest
Falls du dich fragst, ob auch du dem Barnum-Effekt schon mal aufgesessen bist: sehr wahrscheinlich schon (selbst dann, wenn der Anfangsfragebogen bei dir nicht funktioniert haben sollte)! Horoskope sind das prominenteste Beispiel dafür, wo uns dieser Effekt im Alltag begegnet. Selbst wer nicht daran glaubt, dass Sternzeichen und Aszendenten etwas über die eigene Persönlichkeit aussagen, hat vielleicht insgeheim doch schon einmal darüber nachgegrübelt, warum manche Horoskope doch hin und wieder treffende Aussagen enthalten.
Wer bisher sicher war, dass es sich dabei um Zufälle handelt, hat mit dem Barnum-Effekt nun eine weitere Erklärung zur Hand: Wir glauben einfach gern Aussagen über unsere eigene Persönlichkeit. Sie müssen nur auf die richtige Weise formuliert sein. Forer hatte die Fragen für sein Experiment tatsächlich aus verschiedenen Horoskopen zusammengestellt.
Heute gibt es – dank Internet – mehr Situationen denn je, in denen wir dem Effekt aufsitzen können. 2 Beispiele:
1. Vorschnelle Diagnosen in den sozialen Medien
In den sozialen Medien finden sich zahllose Beiträge, die vermeintliche Erklärungen für das eigene Verhalten bieten. Arbeitest du manchmal im Hyperfokus oder verlegst deine Schlüssel? Vielleicht hast du ADHS! Hast du Probleme, einen Partner oder eine Partnerin zu finden? Eine Bindungsstörung könnte die Ursache sein!
Solche kurzen Postings haben wohl die meisten Social-Media-Nutzenden schon einmal vom Algorithmus in die Timeline gespült bekommen – und sich vielleicht in dem ein oder anderen Punkt wiedererkannt. Der Grund: Die Aussagen sind so vage formuliert, dass sich viele Menschen damit identifizieren können. Der Barnum-Effekt lässt grüßen. Genau das macht solche Postings in den sozialen Medien so erfolgreich. Wer sich in einem Posting wiedererkennt, lässt natürlich auch eher ein Like da oder teilt den Inhalt.
Hilfe von Verharmlosung unterscheiden
Nicht falsch verstehen: Gut belegte und detaillierte Informationen zu psychischen Erkrankungen können Menschen helfen, ihrer eigenen Erkrankung auf den Grund zu gehen und endlich Hilfe zu suchen. Soziale Medien können durchaus hilfreich sein, um auf ein Thema aufmerksam zu werden. Doch verkürzte Aussagen können auch dazu führen, dass psychische Erkrankungen verharmlost oder falsch dargestellt werden. Es ist ein schmaler Grat. Umso wichtiger ist es, sich mögliche Verzerrungen der Selbstwahrnehmung bewusst zu machen und zu erkennen, dass nicht jeder Mensch ADHS hat, der »ständig seinen Schlüssel verlegt«, und generell auch nicht »jede:r ein bisschen ADHS« hat.
2. Verkaufsmaschen in der Marketingpsychologie
Wer zum Barnum-Effekt recherchiert, findet auch in der Marketing- und Wirtschaftspsychologie einiges darüber – vor allem wenn es darum geht, eine gute Marketingstrategie zu entwickeln. Denn damit Kund:innen sich mit einem Produkt identifizieren, kann der Effekt hilfreich sein. Du schläfst schlecht? Du möchtest bessere Haut? Du langweilst dich? Produkt XYZ könnte die Lösung sein.
Botschaften, die suggerieren, dass DU eine bestimmte Sache brauchst, sind der Grundbestandteil der meisten Werbekampagnen. Technische Möglichkeiten machen es heute noch einfacher, Werbebotschaften so zu formulieren, dass sie möglichst persönlich wirken:
- Automatische personalisierte E-Mails, die dich namentlich ansprechen
- Automatisierte Geburtstagsglückwünsche
- Persönlichkeitstests, die dich zu einem bestimmten (in der Realität wahrscheinlich völlig zufälligen) Artikel führen, den du kaufen sollst
- Film-Empfehlungen, die dir als 98% »zu dir passend« verkauft werden
Natürlich machen es Algorithmen heute tatsächlich leichter, dein Verhalten zu analysieren, es mit Faktoren wie deinem Alter zu kombinieren und dir passendere Werbung auszuspielen. Doch oft kennen dich die Algorithmen weniger gut, als du vielleicht denkst.
Die gute Nachricht: Den Barnum-Effekt zu kennen, schützt dich vor ihm
Sich solche kognitiven Verzerrungen bewusst zu machen, kann helfen, den Barnum-Effekt zu durchschauen. Darauf weist eine
Wissen und genaues Hinschauen helfen
Doch anders als sonst wurden die Studierenden diesmal in einem weiteren Schritt über die Existenz des Barnum-Effekts aufgeklärt. Danach bewerteten sie den Test erneut, und siehe da: Ihre Einschätzung zur Verlässlichkeit der Grafologie verschlechterte sich sogar unter den Ausgangswert. Das heißt: Wer den Effekt kennt, fällt auch nicht so leicht darauf herein – und ist so besser gegen pseudowissenschaftliche Aussagen gewappnet.
Wer dann noch genau hinschaut, worauf Persönlichkeitstests, Diagnosekriterien und vermeintlich mit Verhaltensforscher:innen entwickelte Fragebögen wirklich basieren, ist dem Barnum-Effekt fortan einen Schritt voraus.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily