So veränderst du die Politik vor deiner Haustür – eine Anleitung in 7 Schritten
Nein, hier geht es nicht bloß ums Wählen oder Demonstrieren – sondern um das große Einmaleins der Mitbestimmung.
Nehmen wir einmal an, Stefan und David leben in derselben Stadt. Stefan wohnt im Norden, im Ortsteil Boesfeld, David im Süden, in Ehlingen. Das Zentrum unserer fiktiven westfälischen Kleinstadt platzt aus allen Nähten, weil eine viel befahrene Hauptstraße mit schwerem Lkw-Verkehr mitten hindurchführt. Und nehmen wir einmal an, Stefan und David setzen sich für eine Umgehungsstraße ein – aber mit verschiedenen Vorstellungen davon, wo sie gebaut werden soll. Beide nutzen dazu unterschiedliche politische Instrumente.
PD-Classic
Dieser Artikel erschien zuerst im Oktober 2019. Vor Neuveröffentlichung haben wir den Text und seine Quellen noch einmal gründlich überprüft und kleinere inhaltliche Anpassungen vorgenommen.
Wer an demokratische Partizipation denkt, denkt meistens zuerst an Wahlen: Wahlen des Gemeinderats, des Stadtrats und vielleicht auch des Kreisrats, des Landtags, des Bundestags und des Europaparlaments. Als Nächstes fallen einem
Politische Partizipation bedeutet aber viel mehr als das. Um diese Möglichkeiten, Politik ganz konkret zu verändern und selbst zu gestalten, soll es in diesem Text gehen. Das Beispiel einer Umgehungsstraße ist beliebig austauschbar durch alles andere, was du politisch durchsetzen möchtest.
1. Mische den Stadtrat mit einem Bürgerantrag auf
In unserem fiktiven Beispiel der überlasteten
Stefan hat sich entschieden, bei den Planungen der Ortsumgehung selbst aktiv zu werden und direkten Einfluss auf die Kommunalpolitik zu nehmen: mit einem Bürgerantrag. Das klingt nach trockener Schreibtischarbeit – und genau das ist es auch. Doch ein sorgfältiger, konstruktiver Bürgerantrag kann am Ende ganz konkret etwas bewegen.
Jeder hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Anregungen oder Beschwerden in Angelegenheiten der Gemeinde an den Rat oder die Bezirksvertretung zu wenden.
Stefan setzt sich also hin und verfasst einen Brief an die Stadt.
Überschrift: »Offener Antrag an die Gremien der Stadt Ehlingen: Ortsumgehung West als Teil nachhaltiger Stadtentwicklung«. Stefan befürchtet, dass der Bau einer Ostumgehung zu Enteignungen von Grundstücken führen könnte. Bekannte von ihm wären direkt betroffen. Eine Westumgehung hingegen wäre aus seiner Sicht kein so starker Einschnitt in die Landschaft und könnte sogar an bestehende Infrastruktur anknüpfen.
Wie das aussehen kann, skizziert Stefan in seinem Antrag. Er legt der Kommunalpolitik ein 3-seitiges Gesamtkonzept vor, wie eine Ortsumgehung im Westen der Stadt verlaufen könnte. Damit ist der Rat bzw. der zuständige Verkehrsausschuss gezwungen, sich mit dem Antrag zu beschäftigen. Dieser rückt auf die Tagesordnung der nächsten Ausschusssitzung.
Nachdem wenige Tage später die Tagesordnung und Stefans Antrag im Ratsinformationssystem veröffentlicht werden, berichtet die lokale Presse darüber. Nun erfährt auch die Öffentlichkeit von Stefans Plänen. In die seit Jahren schwelende Diskussion um die Notwendigkeit einer Ortsumgehung kommt neuer Schwung.
Was im Rathaus entschieden wird
Viele Entscheidungen, die das tägliche Leben betreffen, werden nicht in Brüssel oder Berlin getroffen, sondern im heimischen Rathaus. Weil die Tagesschau aber selten über lokale Angelegenheiten berichtet und die Arbeit in den Stadträten und Ausschüssen meistens recht trocken erscheint, wird häufig gar nicht wahrgenommen, welchen Einfluss kommunalpolitische Entscheidungen haben. Die wichtigsten Aufgabenfelder lokaler Politik sind Sicherheit und Ordnung, Schulen und Kitas, Wohnungen und Verkehr, Kultur, Gesundheitsversorgung, Energieversorgung, Sport- und andere öffentliche Einrichtungen.
2. Initiiere einen Bürgerentscheid
David befürchtet, dass eine Umgehungsstraße im Westen für ihn mit Lärm, Abgasen, höherem Unfallrisiko und womöglich auch noch einem Wertverfall der Grundstücke verbunden wäre. Als er in der Zeitung von dem Bürgerantrag liest, entscheidet er sich, aktiv zu werden:
Das funktioniert in den meisten Bundesländern so, wie es das Wort vermuten lässt: Man rauft sich mit ein paar Mitstreitern zusammen und entwirft Informationsmaterial zum Zweck des Begehrens – vielleicht eine Website, vielleicht Flyer, vielleicht beides. Dann bringt man die Informationen unter die Leute und sammelt
Hätte der Stadtrat Stefans Plan für die Westvariante der Umgehung schon beschlossen, wäre Davids Bürgerbegehren ein sogenanntes »kassatorisches« bzw. »Korrekturbegehren« – dafür gelten mancherorts noch kürzere Fristen.
Sind rechtzeitig genügend Unterschriften zusammen, kommt es zu einem Bürgerentscheid: Eine mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage wird zur geheimen Abstimmung gestellt, alle wahlberechtigten Bürger:innen des Gebiets dürfen sich beteiligen. In allen Bundesländern bis auf Hamburg muss die Wahlbeteiligung einen gewissen Schwellenwert
Volksbegehren gibt es übrigens auch auf Landesebene: So haben die Berliner ihren Senat zu einer fahrradfreundlicheren Verkehrsplanung verpflichtet, die
3. Gründe eine Bürgerinitiative (oder tritt einer bei)
Stefan fürchtet einen Bürgerentscheid. Ehlingen ist der größere Ortsteil und die meisten Menschen in Ehlingen sehen die Umgehung natürlich lieber im abgelegeneren Osten. Mit dem richtigen Lärmschutz und einer intelligenten Verkehrsführung sollten sich die Bedenken ausräumen lassen, findet er.
Nachdem der Verkehrsausschuss seinen Antrag zunächst einmal in die Fachabteilungen der Verwaltung übergeben hat, entscheidet Stefan, den Druck zu erhöhen. Gemeinsam mit einigen Freunden und Bekannten gründet er die Bürgerinitiative Alles dicht in Ehlingen – Westumgehung jetzt!. Zu der Gründungsversammlung im Dorfgemeinschaftshaus kommen fast 20 Menschen: Freunde, Angehörige, Anwohner und Neugierige.
Jetzt beginnt die richtige Arbeit: Die Mitglieder müssen sich organisieren, Aufgaben verteilen und Ziele festlegen. Plakate und Flyer müssen gedruckt werden. Jemand muss sich um den Auftritt in den sozialen Medien kümmern und den Kontakt zur Lokalredaktion herstellen. Außerdem möchte die Gruppe wachsen, also müssen weitere Akteure an Bord geholt werden.
Die Bürgerinitiative soll aber auch sichtbar werden. Deshalb plant sie eine öffentliche Informationsveranstaltung im Dorfgemeinschaftshaus und einen Stand in der Innenstadt, um über die verschiedenen Varianten der Ortsumgehung aufzuklären.
4. Erscheine mit deinen Mitstreitern zu den Ratssitzungen
Inzwischen ist ein Monat vergangen und das Thema Ortsumgehung rückt wieder auf die Tagesordnung des Stadtrats. Eine endgültige Entscheidung fällt bei der Ratssitzung noch nicht. Doch einen Beschlussvorschlag hat die Verwaltung bereits formuliert: Sie möchte einen Sachverständigen beauftragen, ein Verkehrsgutachten für die Planung der Umgehung im Westen zu erstellen. Außerdem soll ein Landschaftspfleger prüfen, ob es bei einer Ostumgehung naturschutzrechtliche Bedenken geben könnte.
Ratssitzungen sind öffentliche Veranstaltungen, jeder kann also hingehen
Ist das bereits ein Hinweis darauf, dass die Stadt den Bau im Westen bevorzugt? Als Stefan den mehrseitigen Beschlussvorschlag liest, stellt er fest, dass sich Teile seiner Argumentation in der Begründung der Verwaltung wiederfinden.
Um sich ein Bild davon zu machen, wie es genau um die Planungen steht, besuchen er und die Mitglieder der Bürgerinitiative die Sitzung des Stadtrats. Ratssitzungen sind genau wie Ausschusssitzungen öffentliche Veranstaltungen, jeder kann also hingehen. Die Diskussion muss man zwar den Politiker:innen der Fraktionen überlassen. Zustimmung, Applaus, Zwischenrufe, das alles gehört hier nicht hin. Doch schon die Anwesenheit von Bürger:innen zeigt: Hier geht es um uns, ihr könnt nicht einfach über unsere Köpfe hinweg entscheiden!
Gute Kommunalpolitiker tun das auch normalerweise nicht. Anders als in der Landes- und Bundespolitik laufen sich Kommunalpolitiker und die Menschen in der Stadt täglich über den Weg. Nicht ohne Grund genießen Kommunalpolitiker:innen
Im Rathaus angekommen stellt Stefan fest, dass auch David und seine Mitstreiter anwesend sind. Der Saal ist voll. Das Thema bewegt die Menschen. In der Diskussion der Fraktionen werden die unterschiedlichen Positionen noch einmal ganz deutlich: Naturschutz oder Lärmschutz? Wenige Grundbesitzer enteignen oder viele Anwohner schädigen? Kosten sparen oder nachhaltig planen? Ost oder West?
Die Argumente werden ausgetauscht, immer wieder, mal faktenbasiert, mal emotional, mal hart, aber immer fair. Hier im Kleinen, auf der untersten politischen Ebene, sieht man, wie gelebte Demokratie funktioniert. Am Ende wird abgestimmt: Der Stadtrat stimmt mit knapper Mehrheit für die Prüfung der Westvariante.
5. Nimm Einfluss auf die Politiker deiner Stadt
Für David ist so langsam die Zeit gekommen, auf Tuchfühlung zu gehen: Letztlich liegt es in der Hand der lokalen Politiker, wo die Umgehungsstraße entsteht – also gilt es, zumindest ein paar von ihnen von der Ostvariante zu überzeugen.
Egal ob im Stadtrat oder im Bundestag, die Mandatsträger sind Repräsentanten der Bevölkerung und sollten im Terminkalender zumindest ein paar freie Flecken für den persönlichen Kontakt mit Bürgern haben. Eine Umfrage von Perspective Daily unter den Mitgliedern des 18. Deutschen Bundestages (2013–2017) ergab, dass der durchschnittliche Abgeordnete pro Woche geschätzt rund 6,5 Stunden mit Bürgersprechstunden, Bürgertelefonaten und Terminen im Wahlkreis zubringt:
Wie viel Zeit Politiker auf kommunaler Ebene haben, ist natürlich nicht so einfach zu beantworten. Je nach Einwohnerzahl sind viele Ratsmitglieder ehrenamtlich in der Politik. Wer sich seine freien Abende mit Ratssitzungen um die Ohren schlägt, macht das aber in aller Regel, weil ihm seine Stadt am Herzen liegt.
Schon deshalb dürfte es David leicht haben, mit der zweifellos relevanten Frage, wo die Umgehungsstraße gebaut werden soll, ein Treffen mit seiner Stadträtin zu vereinbaren. Er hofft, dass er sie im persönlichen Gespräch von der östlichen Variante überzeugen kann.
6. Sprich mit den lokalen Medien
Wie das in einer Kleinstadt so ist, ist Stefan über Davids Aktivitäten bestens informiert. Ihm ist auch nicht entgangen, dass dieser sich mit der Fraktionsvorsitzenden der regierenden Partei getroffen hat, die sich kürzlich erstmals für die von David ebenfalls präferierte Ostvariante ausgesprochen hat. Nachdem Stefan lange glaubte, Oberwasser zu haben, befürchtet er, dass sich die Sache nun in die aus seiner Sicht falsche Richtung entwickelt. Sein Antrag hatte zum Teil tatsächlich Eingang in einen Beschlussvorschlag des Verkehrsausschusses gefunden – doch hat er keine Mehrheit bekommen.
»Wenn ich mir in der Politik kein Gehör mehr verschaffen kann«, denkt er, »dann nutze ich eben die vierte Gewalt: die Presse.« Die tägliche Berichterstattung der einzigen im Ort ansässigen Lokalredaktion hat Stefan mitverfolgt. Aus den Meinungsbeiträgen der Redaktion konnte er klar ablesen: Die Redaktion ist auf seiner Seite. Die Lokalchefin hat sich in Kommentaren immer wieder für die Westumgehung ausgesprochen.
Lokalredaktionen sind ständig auf der Suche nach Themen und außerdem sehr spontan
An einen der Redakteure, der oft über die Umgehung schreibt, richtet Stefan eine E-Mail. Denn er hat noch ein Ass im Ärmel: die Haselmaus! In dem seit einigen Tagen vorliegenden Gutachten der Landschaftspflegerin, das den Sitzungsunterlagen des Umweltausschusses angehängt war, war zu lesen, dass die Haselmaus im Bereich der geplanten Ostumgehung heimisch ist. Außerdem brüten dort Rotmilane. Bei einer Westumgehung gebe es solche Konflikte mit dem Tierschutz nicht, heißt es in dem Gutachten.
Weil Lokalredaktionen ständig auf der Suche nach Themen sind und außerdem sehr spontan, stimmt der Redakteur einem Treffen noch am selben Tag zu. Er hatte das Gutachten auch noch auf dem Zettel, doch war er einfach noch nicht dazu gekommen, das unscheinbare Dokument gründlich durchzuarbeiten. Nun wittert er die große Story.
Die Haselmaus schafft es am nächsten Tag auf Seite 1 des Lokalteils. Natürlich erreichen Lokalzeitungen heute längst nicht mehr so viele Menschen wie früher. Doch Stefan hat Glück: Die Website platziert den Artikel am Morgen ganz oben auf der Startseite, bei Facebook und Instagram kommentieren Hunderte Nutzer. Später berichtet auch das Lokalradio. Die Debatte nimmt wieder Fahrt auf.
7. Gehe noch einen Schritt weiter: Werde Kommunalpolitiker
David hat sich jetzt schon ziemlich lang für die Umgehungsstraße eingesetzt und sich mit vielen Bürgern darüber unterhalten. Dabei ging es irgendwann auch um andere Themen, bei denen es Handlungsbedarf gibt. Mittlerweile sprüht David vor lauter Ideen, wie das Leben in der Stadt verbessert werden könnte.
Da liegt der logische nächste Schritt auf der Hand: Statt Ideen von der Seitenlinie aus auf den Platz zu brüllen, könnte man selbst ins Spiel eingreifen. In jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es Ortsgruppen aller großen und vieler kleiner Parteien. Und je kleiner die Gruppe, desto größer ist die Freude über jeden Neuankömmling, der sich engagieren möchte.
Nirgends kann man so einfach eine neue Wählergemeinschaft aus der Taufe heben wie im Lokalen
In eine bestehende Gruppe mit bestehenden Strukturen einzutreten, ist sicher der einfachere Weg, um sich irgendwann für den Rat aufstellen zu lassen und dann tatsächlich Lokalpolitik zu machen. Wenn jedoch keine Partei die richtige für einen ist und man von seinem Thema überzeugt ist, kann man nirgends so einfach eine neue Wählergemeinschaft aus der Taufe heben wie im Lokalen. Die genauen Voraussetzungen sind von Bundesland zu Bundesland verschieden, meist bedarf es einer
Wahlen sind der niedrigschwelligste Schritt in der demokratischen Partizipation – aber gleichzeitig auch der höchste: Wenn man nämlich sein passives Wahlrecht wahrnimmt und sich selbst wählen lässt, um die Interessen der Bürger:innen zu vertreten.
Die weiteren Planungen der fiktiven Umgehungsstraße liegen nun übrigens erst mal für Monate auf Eis. Auch das gehört zur Demokratie dazu. Die ganze Stadt wartet gespannt auf den Ausgang des Haselmaus-Monitorings …
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily