»Hope Spots«: Diese Forscherin schafft Orte der Hoffnung, an denen sich die Natur erholen kann
Sylvia Earle hält zahlreiche Tauchrekorde und war eine der Ersten, die erkannte, dass wir ohne gesunde Weltmeere nicht überleben können. Inzwischen hat sie 158 Meeresschutzgebiete geschaffen, in denen sich gefährdete Arten regenerieren.
Schwer zu glauben, dass Sylvia Earle gerade ihren 88. Geburtstag gefeiert hat. Die quirlige Wissenschaftlerin reist immer noch an gut 300 Tagen im Jahr durch die Welt und kommt gerade zurück von einer Reise, die sie auf die Kaimaninseln in der Karibik, nach Brasilien, Mozambique, Mexiko, Europa und in die Antarktis geführt hat, um für den Schutz der Meere zu werben. »Ich komme mir vor wie ein Oktopus, der mit allen Armen voll beschäftigt ist«, sagt sie über ihr Pensum. »Wenn ein Kind gerade dabei ist, von einem 10-stöckigen Gebäude zu fallen, und du bist in der Lage, es aufzufangen, wirst du alles dir Mögliche tun, um dich so zu positionieren, dass du das Kind retten kannst.«
Sylvia Earles Dringlichkeit hat mit ihrer einmaligen Karriere zu tun. Seit mehr als 50 Jahren dokumentiert sie nicht nur die Vielfalt der Unterwasserwelt, sondern auch das Schwinden der Korallenwälder und Fischvielfalt. Die zierliche Frau hat mindestens 8.000 Stunden unter Wasser verbracht, Hunderte von Expeditionen geleitet, zahlreiche Arten entdeckt und ist mit ihrer Firma »Deep Ocean Exploration and Research« in neue Meerestiefen vorgedrungen.
Earle war die erste Frau, die in den frühen 50er-Jahren mit Sauerstofftanks tauchte; der erste Mensch, der 1979 380 Meter unter der Wasseroberfläche auf dem Meeresboden spazierte; 1990 wurde sie die erste weibliche Chefin der US-amerikanischen Klimabehörde (Nationale Ozean- und Atmosphärenbehörde NOAA), lange bevor Frauen in den Meereswissenschaften ernst genommen wurden. Sie hat die Weltmeere tiefer und länger erforscht als jede andere Frau auf dieser Welt. Die »Grande Dame der Ozeanforschung« gilt vielen als eine der größten Wissenschaftlerinnen unserer Zeit. Ihre Expeditionen gaben ihr einen einzigartigen Einblick in die Veränderungen unter der Oberfläche.
Was bereits verloren ist – und was noch zu retten ist
Wenn sie zurückkehrt an Orte, die vor Jahrzehnten reich an bunten Korallen und Fischen waren, findet sie nun oft nur noch graue Unterwasserwüsten. Denn
»Das bedeutet 97% sind der Ausbeutung ausgeliefert«, sagt Earle. Viele Teile der Weltmeere sind überfischt. Fischbestände können sich nicht schnell genug erholen, was ganze Nahrungsketten ins Wanken bringt. »
Inzwischen gibt es
In diesem TED-Talk erklärt Sylvia Earle die Hope Spots und ihre Mission. Das Video ist auf Englisch mit deutschen Untertiteln:
Wie Hope Spots funktionieren
Anfangs wurden die Hope Spots von Wissenschaftler:innen ausgewählt, aber nachdem der Netflix-Dokumentarfilm Mission Blue ihre Idee 2014 weltweit bekannt gemacht hatte, wandten sich Tausende mit Vorschlägen an ihre Organisation. Daraufhin öffnete Earle den Prozess für Vorschläge aus der Öffentlichkeit. Sie bekommt bis zu 100 Vorschläge im Jahr, die dann von einem Komitee überprüft werden. »Wir werden von Vorschlägen überwältigt«, sagt Shannon Rake, die bei Mission Blue für die Hope Spots zuständig ist, »aber auf eine gute Weise!«
Earle ist davon überzeugt, dass jeder Fleck zählt:
Alle Schutzorte, auch die kleinen, machen einen Unterschied. Aber wir müssen sie ausdehnen. Wir müssen uns um die Weltmeere kümmern,
Die in Harvard ausgebildete Meereswissenschaftlerin mit einem Doktortitel von der Duke University hat sich zur Botschafterin der Meere erklärt. Sie vergleicht den Ozean mit dem menschlichen Herzen: »Man würde ja auch nicht sagen, man solle 3% oder sogar 30% des Herzens schützen. Die Meere sind das Herz des Planeten. Ohne sie ist Leben nicht möglich.« Mit den 30% spielt sie auf das Hochseeschutzabkommen der Vereinten Nationen an. Dieses hat zum Ziel, bis 2030 30% der Weltmeere unter Schutz zu stellen.
Earles zierliche Statur steht im Gegensatz zu ihrem überdimensionalen Optimismus. »Ich finde, man kann wirklich depressiv werden, wenn man sich all die Schlagzeilen anschaut und sich auf die schlechten Nachrichten konzentriert, denn davon gibt es viele«, sagt sie. »Wenn wir noch länger warten, vertun wir unsere Chance. Deshalb halte ich die Gegenwart für die beste Zeit, aktiv zu werden.«
Als sie vor Jahrzehnten begann, die Meere zu erforschen, dachte die Menschheit, die Ozeane seien so unendlich groß, dass sie jede Menge Müll, Giftstoffe und Fischerboote vertrügen. Earle war eine der ersten, die Alarm schlug.
Einige Hope Spots sind bereits ausgewiesene Meeresschutzgebiete und
Mexiko und Israel: Was Hope Spots bereits erreicht haben
Ein Erfolgserlebnis: Die Bucht Cabo Pulmo in Mexiko war so gnadenlos überfischt, dass die örtlichen Fischer immer öfter mit leeren Netzen nach Hause kamen. 1997 begrenzten die Fischer den Fischfang und fanden ein neues Einkommen durch Ökotourismus, bis die Gegend schließlich zum Hope Spot und zum nationalen Schutzgebiet erklärt wurde. Mission Blue beobachtete, wie die großen Fischkutter die Gegend verließen. »Die Thunfischindustrie kämpfte gegen die Begrenzungen, weil sie dachte, sie würden weniger fangen, aber letztendlich war es genau umgekehrt«, sagt Rake. Die Fischerboote würden in der Nähe des Meeresschutzgebiets nun 25% mehr Fisch fangen, weil sich der Bestand durch die Schutzmaßnahmen erholen könne.
Ein weiteres Beispiel liegt gut 25 Kilometer vor der Küste von Tel Aviv. Der Palmahim Slide, Israels erster Hope Spot, ist überlebenswichtig für die Fortpflanzung von Tiefseehaien und ein Laichgebiet des überfischten Roten Thunfischs. Er wurde vor der Ernennung zum Hope Spot im September 2022 nicht geschützt. »Wir halfen mit Unterstützerbriefen, wissenschaftlichem Rat und übernahmen einen Teil der Kommunikation mit Wissenschaftlern, den Medien, Umweltschützern und der Öffentlichkeit. Schließlich erklärte die Regierung das Gebiet zur geschützten Zone«, erklärt Rake.
Earles liebster Hope Spot ist der Golf von Mexiko. Hier entdeckte sie als 12-Jährige ihre Liebe zum Meer, nachdem ihre Eltern mit ihr von New Jersey nach Florida an den Strand zogen. »Hier bin ich als Kind geschwommen und habe zum ersten Mal gesehen, welches Leben unter Wasser existiert«, erinnert sich Sylvia Earle. Dort sei ihr auch zum ersten Mal bewusst geworden, welche Schäden es anrichte, wenn Menschen die Natur ohne Rücksicht ausbeuteten.
Mission Blue arbeitet weltweit mit mehr als 200 Meeresschutzorganisationen zusammen. Darunter sind berühmte wie die Ocean Elders, zu denen Primatologin Jane Goodall, Regisseur James Cameron und Musiklegende Neil Young zählen. Earle will »ein Netzwerk der Hoffnung schaffen«. Mit dem Konzept der Hope Spots will sie Leute für den Meeresschutz gewinnen und ihnen eine Möglichkeit geben, jenseits der politischen Parteien Einfluss nehmen zu können.
Obwohl kaum einer die enorme Verschmutzung der Weltmeere genauer kennt als Sylvia Earle, betont sie die positiven Veränderungen. »Im letzten Jahr wurden einige bemerkenswerte Aktionen umgesetzt, die Grund zum Optimismus geben«, sagt sie im Hinblick auf das Biodiversitätsabkommen der Vereinten Nationen, das bis 2030 30% der Weltmeere unter Schutz stellen will. »Das Biodiversitätsabkommen erkennt an, dass wir uns auf dem Weg nach unten befinden und bis zum Ende des Jahrhunderts mindestens eine Million Arten verlieren, wenn wir so weitermachen wie bisher.«
»Konzentriere dich auf das, was dir am Herzen liegt«
Earle konstatiert, dass die Menschen momentan nicht intelligent handeln: »Wir benutzen alte Modelle, die die Natur ausbeuten, ohne uns darum zu kümmern, welche Auswirkungen das auf die nächsten 10, 100 oder 1.000 Jahre hat.« Aber sie kommt gleich wieder zurück auf positive Beispiele, etwa die Wiederansiedlung des bedrohten kalifornischen Kondors oder die Tatsache, dass sich der Bestand einiger Walarten, die bereits vom Aussterben bedroht waren, durch Schutzmaßnahmen erholt hat.
Fragt man sie, was Menschen tun können, antwortet die 3-fache Mutter und 4-fache Großmutter: »Konzentriere dich auf das, was dir am Herzen liegt. Wir verursachen Probleme, also können wir auch Lösungen verursachen.« Jeder könne zu Hause sofort damit anfangen. »Du verursachst jeden Tag Veränderungen mit dem, was du isst, was du anziehst, wie du wählst, was du in deinem Garten anbaust, wenn du einen Garten hast, welche Organisationen du unterstützt«, sagt Earle, die seit Jahrzehnten Vegetarierin ist.
Wir kommen gerade erst an den Punkt, an dem Leuten klar wird: Wir müssen uns verändern, wenn wir überleben wollen. Es ist uns in einer sehr kurzen Zeitspanne gelungen, die Stabilität des Systems, auf dem unsere Existenz beruht, ernsthaft zu erschüttern. Stell dir vor, wir wüssten das nicht! Das wäre ein Riesenproblem. Aber wir wissen es und wir wissen auch, was wir tun müssen.
Earle ist davon überzeugt: »Wir wissen mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit und wir haben eine Gelegenheit, wirklich einzuschätzen: Wohin wollen wir gehen?«
Redaktionelle Bearbeitung: Désiree Schneider
Titelbild: Foto Taylor Griffith | Depositphotos | Collage Claudia Wieczorek - copyright