Diese 3 Perspektiven auf Gewalt und Krieg werden dich überraschen
Folgt man aktuell den Nachrichten, bekommt man das Gefühl, die Menschheit verrohe und die Gewalt in der Welt nehme zu. Doch wenn wir den Blick weiten, sieht die Sache ganz anders aus.
Viele Menschen in Deutschland fühlen sich gerade überfordert. Während sie in ihren kuscheligen Wohnzimmern sitzen, erscheinen im Fernseher Bilder von bombardierten Städten, weinenden Kindern und politischen Akteur:innen, die mit Hassparolen Stimmen gewinnen.
Autoritarismus und Gewalt gab es immer schon auf der Welt. Doch seit Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine, der Wiederentfachung des Nahostkonflikts und wachsenden Umfragewerten für rechtsextreme Parteien in der EU rücken diese Phänomene für viele Menschen im westlichen Europa näher. Das erweckt den Eindruck, die Welt werde immer gewaltvoller, die Menschheit verrohe.
So sprach etwa Präsident Emmanuel Macron im Sommer, als es in Frankreich zu einer Reihe von Gewaltverbrechen kam, von einer
Doch nimmt die Gewalt tatsächlich zu? Wird die Welt immer schlimmer? Oder haben wir es mit einer – auch durch die Medien – verzerrten Wahrnehmung zu tun?
Um einen klareren Blick zu bekommen und aus dem Gefühl der Hilflosigkeit auszubrechen, kann es manchmal helfen, »rauszuzoomen«.
Folgende
These 1: Wir leben in der friedlichsten Epoche, die die Menschheit je erlebt hat
Der kanadische Evolutionspsychologe und Harvard-Professor Steven Pinker hat im Jahr 2011 eine These aufgestellt, die viele erstaunte. In seinem Buch
Was genau meint Pinker, wenn er von Gewalt spricht? Zum einen schaut er auf die Mordrate. Noch im Mittelalter sind in Europa schätzungsweise 35 von 100.000 Bewohner:innen gewaltsam ums Leben
Und kriegerische Auseinandersetzungen? Auch die sind laut Pinker weniger gewaltsam geworden.
In der folgenden Tabelle setzt der Evolutionspsychologe die Größe der Bevölkerung mit Kriegstoten in Korrelation und stellt fest: Bevor es Staaten gab, starben prozentual mehr Menschen durch Kriege als in staatlich organisierten Gesellschaften.

Er führt diesen »Befriedungsprozess« unter anderem darauf zurück, dass staatliche Institutionen – Gesetze, eine Regierung, die Polizei – Machtverhältnisse regulieren und Gewalt im Zaum halten können. Racheakte oder Eroberungskämpfe zwischen Clans und Stämmen werden
Zudem sei dank
Pinker weist in seinem Buch darauf hin, dass vor allem eine Form des Krieges heute kaum mehr stattfindet:

Es kann jedoch immer wieder Abweichungen des generellen Trends geben, wie Pinker zugibt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa schoss die Gewalt nach oben und führte zu unermesslichem menschlichen Leid: Der Erste Weltkrieg forderte fast 10 Millionen, der Zweite Weltkrieg sogar 55 Millionen Tote. Hinzu kommt der Holocaust, bei dem 6 Millionen Juden ermordet wurden.
Pinker argumentiert, dass Ausbrüche von Konflikten, auch wenn sie gehäuft vorkämen, reine Zufälle seien. Daraus könne man keinen Trend zu mehr Gewalt oder Krieg im neuen Jahrhundert ableiten. Prognosen der »Entzivilisierung« lehnt er daher ab.
Es ist ein Trugschluss, einen Trend aufgrund einiger schockierender Beispiele anzunehmen, die kürzlich in den Nachrichten waren. Selbst völlig zufällige Ereignisse können sich in Häufungen ereignen [...].
Mit dieser Perspektive wird das Gefühl, dass Kriege stetig zunähmen oder wir in einer unvergleichlich gewaltsamen Zeit lebten, schon etwas relativiert.

Warum aber empfinden wir unsere Zeit als so gewaltsam? Pinker antwortet darauf mit der sogenannten Verfügbarkeitsheuristik: Demnach erinnern wir uns gut an Einzelereignisse, die am nächsten zu unserer Zeit liegen, und vergessen viel von dem, was weiter zurückliegt. Die wenigsten erinnern sich hierzulande etwa an den Völkermord in Kambodscha, den Unabhängigkeitskrieg von Bangladesch, die Spaltung Zyperns oder an die Kriege zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn – alles Konflikte, die sich in den 70er-Jahren abspielten.
Hinzu kommt: Der
These 2: Kriege sind die Ausnahme, nicht die Regel
Selbst Feinde pflegen ihre gegenseitige Verachtung lieber auf friedliche Weise.
Der Politikwissenschaftler Christopher Blattman zeigt in seinem Buch »Warum wir Kriege führen«, dass sich Staaten oder politische Akteure viel häufiger gegen Gewalt entscheiden als dafür. Denn: Die Kosten von Kriegen sind enorm hoch, sich darauf einzulassen, lohnt sich nur selten.
Das Problem: Wir erfahren nur von diesen seltenen Fällen. Logisch, wenn es irgendwo auf der Welt nicht brennt oder ein Konflikt friedlich gelöst werden konnte, hat das keinen Nachrichtenwert. Doch so entsteht der Eindruck, Kriege gehörten zur Natur des Menschen. Das ist falsch. Die meiste Zeit tragen Gesellschaften Kämpfe nicht gewaltsam aus, sondern kooperieren in Frieden oder »streiten sich auf dem Parkett von Parlamenten, statt auf dem Schlachtfeld«, wie es Blattmann ausdrückt.

Er zitiert in seinem Buch Studien zu Osteuropa, Zentralasien, Südasien und Afrika – Regionen, die gemeinhin als krisenanfällig gelten. Diese ergeben, dass es in den Gegenden sehr selten zu religiösen oder ethnischen Ausschreitungen kommt, gemessen an den Situationen, in denen sich konkurrierende ethnische und konfessionelle Gruppen gegenüberstehen und potenziell Gewalt ausbrechen könnte.
In Afrika kamen sie auf etwa einen größeren Fall von ethnischer Gewalt pro Jahr unter 2.000 potenziellen Fällen. In Indien kam es im Schnitt sogar weniger als einmal pro Jahr zu einer Ausschreitung. In den meisten Städten leben Hindus und Muslime friedlich nebeneinander.
Auch auf internationaler Ebene bleiben etliche Konflikte gewaltlos, stellt Blattman fest. Beispiele sind der Kalte Krieg oder der
Ein aktuelleres Beispiel, das Blattman im Interview mit seinem deutschen Verlag nennt:
2 Wochen vor Russlands Einmarsch in die Ukraine feuerte zum Beispiel Indien versehentlich einen Marschflugkörper auf Pakistan ab. Was folgte, war besonnenes Handeln. Die Kosten eines Krieges wären so unvorstellbar hoch gewesen, dass beide Seiten alles unternahmen, um ihn zu verhindern. Und genau das tun sie seit Jahrzehnten.
Wenn wir von Kriegen als Dauerzustand ausgehen und Friedenszeiten keine Beachtung schenken, ist das laut Blattmann nicht nur frustrierend und belastend. Es führt auch dazu, dass wir nicht richtig verstehen, warum Kriege überhaupt ausbrechen oder wie bewaffnete Konfrontationen vermieden werden können. Denn wenn wir vom falschen Ursprung ausgehen, sind auch die Erkenntnisse, die wir daraus ableiten, verzerrt.
Ein Grund mehr, die gute Seite der Menschheit genauer zu untersuchen.
These 3: Gesellschaften werden immer offener, gerechter und vernünftiger
Die Entwicklungspsychologin Jane Loevinger fand mit Tests an Tausenden von Menschen heraus, dass sich ihre Weltanschauung im Laufe des Lebens ähnlich weiterentwickelt. Sie leitete daraus eine Reihe von menschlichen Entwicklungsstufen ab. Wird unser Denken komplexer, zum Beispiel mit fortschreitendem Alter, so erreicht unsere Psyche eine neue Stufe. Damit entwickeln sich auch emotionale Kompetenz und Moralempfinden weiter. Unterschiedliche Menschen erreichen unterschiedlich hohe Entwicklungsstufen. Zwar stecken in jeder menschlichen Psyche mehrere Entwicklungsstufen gleichzeitig.
Die sogenannte Theorie der Ich-Entwicklung wird von manchen Forschenden als zu vereinfachend kritisiert. Dennoch wurde sie im Laufe der Jahre weiterentwickelt und wird heute zum Beispiel genutzt, um Veränderungen von Gesellschaften zu erklären.
Die beiden Management-Berater Don Beck und Chris Cowan entwarfen auf Basis der Theorie der Ich-Entwicklung sowie den Forschungen des Psychologen Clare Graves unterschiedliche Bewusstseinsstufen und Wertesysteme, die eine ganze Gruppe durchlaufen kann. Ursprünglich wandten sie ihre sogenannte Theorie der »Spiral Dynamics« auf die Entwicklung von Unternehmen an, später auch auf die von Gesellschaften.
Demnach machen Gesellschaften meist dann einen Sprung in eine neue Entwicklungsstufe, wenn sie vor neuen Herausforderungen stehen
Doch wie genau sehen diese Entwicklungsstufen und damit die Denkmuster einer Gesellschaft aus?
- Archaisch/instinktiv: Urmenschen kämpfen in losen Horden um das Überleben, ohne Besitztümer oder festes Wirtschaftssystem.
- Animistisch/magisch: Es bilden sich feste Stämme und erster Handel. Die neue Sicherheit schenkt Zeit, über die Ursachen der Dinge nachzudenken. Da Logik jedoch noch keine Rolle spielt, entstehen Spiritualität, (Aber-)Glaube und magische Rituale.
- Dominant/egozentrisch: Der Mensch entdeckt seine Macht und beginnt, andere auszubeuten. Es geht um die eigene Ehre, die individuelle Stärke und die Erfüllung der eigenen Lust. Es entsteht ein Zeitalter der Eroberungen, inklusive Sklavenhandel, zum Beispiel bei den alten Griechen, Römern und anderen antiken Völkern. Auch Gesellschaften, die in Bürgerkriegszuständen leben, werden zu Teilen dieser Stufe zugeordnet.
- Ordnung/autoritär: Die Ungerechtigkeit der Eroberungszeit nährt den Wunsch nach moralischen Regeln, die von einer übergeordneten Instanz stammen. Die Weltreligionen entstehen, aber auch hierarchische Strukturen auf der militärisch-politischen Ebene. Dies führt zu absolutistischen Gesellschaften, in denen Alleinherrschende teils ihre Macht missbrauchen. Wer nicht hörig ist oder zur Gruppe gehört, wird als Feind ausgeschlossen. Elemente dieser Stufe sind heute vor allem in autokratischen Regimen präsent.
- Materialistisch/Ziele: Das Zeitalter der Aufklärung, die moderne Ära beginnt. Rationalität, Wissenschaft, Industrialisierung stehen im Mittelpunkt. Leistung, Wettbewerb und Fortschritt sind die prägenden Werte. Diese Phase ist aktuell in den meisten Ländern (vor allem in liberalen Demokratien) dominant. Sie führt zur Globalisierung, dem wachsenden Wohlstand und einer neuen Mittelschicht. Durch den Individualismus entstehen auch die Menschenrechte. Gleichzeitig erzeugt diese Stufe extreme Ungleichheit, Umweltprobleme und Klimawandel.
- Relativistisch/gemeinschaftlich: Als Reaktion auf diese Probleme entsteht ein neues Denken – globaler, multikultureller und nachhaltiger. Man könnte von Postmoderne sprechen. Das Bewusstsein wächst, dass vieles relativ ist, vom kulturellen Kontext abhängt. Man wird offener für andere Lebensweisen. Gleichheit und Nachhaltigkeit werden zu wichtigen Werten. Gleichzeitig kommt es zur Spaltung zwischen den Menschen auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen.
- Systemisch/integrativ: Es wird versucht, für alle Menschen in der Gesellschaft Platz zu bieten. Die wichtigsten Werte sind Selbstentwicklung, Selbstbewusstsein und Bescheidenheit. Da nur wenige Menschen zurzeit auf dieser Stufe sind, ist es noch zu früh, sie genauer zu beschreiben.
- Holistisch/verbunden: Die Menschen werden sich bewusst, dass sie die Welt nicht als Individuen verändern können. Sie fangen an, globaler und in Netzwerken zu denken. Das Bewusstsein für die Verbundenheit von allem wird stärker. Frieden und Harmonie werden angestrebt. Da nur wenige Menschen zurzeit auf dieser Stufe sind, ist es noch zu früh, sie genauer zu beschreiben. (Vielleicht sollte man einen erleuchteten Guru befragen?)
Wo befindet sich die Welt heute, und wohin geht sie?
Der Journalist Stefan Schultz zeichnet dazu
Die Theorie geht davon aus, dass sich der Großteil der Bevölkerung in (westlichen) liberalen Demokratien auf Stufe 5 befindet, mit Tendenz in Richtung Stufe 6. Die aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel und Ungleichheit verlangen ein komplexeres Denken und damit den Sprung in ein neues Bewusstsein.
Erste Anzeichen dafür gibt es bereits, wie Schultz in seinem Beitrag erläutert. Zum Beispiel wird die Gleichstellung von immer mehr Gesellschaftsgruppen gefordert und teilweise auch gesetzlich verankert. Konservative Normen wie die Autorität der Kirche werden unwichtiger. Menschen wollen vermehrt nachhaltig leben oder stellen sich die Sinnfrage, anstatt blind dem Leistungsprinzip zu folgen, wie es vielleicht noch vor 1–2 Generationen der Fall war.
Diese Entwicklung erklärt auch, warum sich gerade gegensätzliche Kräfte in vielen europäischen Ländern regen, schließt der Spiegel-Journalist: Denn während ein neues Bewusstsein entsteht, gibt es auch Teile der Bevölkerung auf früheren Entwicklungsstufen, die sich nicht im neuen Wertesystem wiederfinden. Sie beharren deshalb noch stärker auf ihr Wertefundament. Menschen tun sich außerdem schwer, die Weltanschauung von Menschen auf anderen Entwicklungsstufen zu verstehen, was zu Konflikten in der öffentlichen Debatte führt.
Manche Wissenschaftler:innen nutzen das Spiralmodell auch, um Rückschritte in Gesellschaften zu erklären, so etwa den
Am Ende aber deutet die Theorie auf etwas Beruhigendes hin: Die Menschheit hat sich bisher kontinuierlich weiterentwickelt. Zwar nicht immer linear und mit zwischenzeitlichen Rückschritten. Doch das Potenzial, dass sie eine nachhaltigere, friedlichere und gerechtere Zukunft erreichen wird, ist da. Von großflächiger Verrohung oder gar »Entzivilisierung« keine Spur.
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