Was du über die »Gegen rechts«-Proteste wissen solltest
Mehr als 1 Million Menschen gingen vergangene Woche auf die Straße. Warum gerade jetzt und was sich nun ändern kann.
Trotz eisiger Kälte ist der Domplatz in Münster am Freitag, den 19.01. schon voll. Unter den Demonstrierenden sind viele Studierende, Ältere, Menschen mit Behinderung und Eltern mit Kindern. Sie sind dem Aufruf des lokalen Bündnisses »Keinen Meter den Nazis« gefolgt und frieren, singen und sind laut an diesem Abend. Auf ihren Schildern steht »Menschenrechte statt rechte Menschen«, »Bunt statt braun« und »FCK AfD«. Mittendrin schwenkt eine einzelne SPD-Flagge. Man trägt Lichterketten, Regenbogenschals und dicke Jacken. Ich spreche mit einigen in der Menge:
- »Es ist echt kurz vor 12! Deshalb sind wir hier«, erklärt ein junges Pärchen ernst.
- »Hier sind so viele Leute am Start. Das finde ich cool. Endlich!«, sagt ein junger Mann sichtlich erleichtert.
- »Ich finde es wichtig, dass die Kleinen nicht mit so einer braunen Scheiße aufwachsen müssen«, gibt eine Mutter neben ihrer Tochter stolz zu Protokoll.
Dann beginnt von der Bühne ein Sprechchor, in den die meisten einstimmen: »Auf die Barrikaden. Auf die Barrikaden. Wehrt euch!«
Es sind an diesem Abend 20.000 Demonstrierende, wie die Behörden später angeben – die größte Demo gegen rechts, die die Stadt Münster je gesehen hat. Vielerorts in Deutschland sieht es seit einigen Tagen ähnlich aus. In Hamburg und München mussten die Demos sogar wegen Überfüllung abgebrochen werden.
Aber weshalb demonstrieren die Menschen ganz konkret?
Und was könnte sich dadurch in Deutschland verändern?
Das habe ich für dich recherchiert.
Warum protestieren so viele Deutsche gerade »gegen rechts«?
Die Proteste richten sich primär gegen die AfD. Sie ist der gemeinsame Nenner auf vielen Demoschildern, Bannern und in Gesprächen. Anders als zum Beispiel bei den Bauernprotesten gibt es aber keine konkreten Forderungen. Manche Teilnehmende und Sprecher:innen fordern die Politik auf, sich für einen AfD-Verbotsantrag einzusetzen.
Ausgelöst hat es vor allem eine
Dabei gibt es durchaus Kritik an der
Der Soziologe Matthias Quent ordnet die Demonstrationen in Deutschland für die New York Times im Kontext dieser Recherche ebenso ein: »Es ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Das war ein Auslöser für etwas.
Wie kurz vor 12 ist es wirklich?
Obwohl die AfD von sich behauptet, eine bürgerliche Oppositionspartei zu sein, ist sie nach Extremismus-Experten und Innenministerin
»Gesichert rechtsextrem« sind laut Verfassungsschutz die AfD-Landesverbände Sachsen und Thüringen. Sie haben längst enormen Einfluss in der Partei. Gerade diese beiden Landesverbände könnten bei den Landtagswahlen dieses Jahr an Regierungsmacht gelangen.
Sollte eine andere Partei ein Regierungsbündnis mit ihr eingehen, kämen damit zum ersten Mal seit 1945 Rechtsextreme wieder an Regierungsmacht in Deutschland. Selbst wenn dies »nur« auf Landesebene geschieht, könnte der Schaden für die deutsche Demokratie groß sein, wie das
Wie groß ist der Protest wirklich?
Medien sammeln gerade die Teilnehmerzahlen der Demos. Insgesamt demonstrierten in den letzten 7 Tagen je nach Zählweise
Zum Vergleich: Die Bauernproteste vor einer Woche brachten 8.500 Unterstützer:innen
Was wollen die Demonstrierenden erreichen?
Geht man nach vielen Bannern und Schildern auf der Demo, wollen die Menschen die Debatte um ein Parteiverbot der AfD stärken. Dies wird von vielen Politiker:innen derzeit pauschal abgelehnt, darunter auch
Doch die Großdemonstrationen nur darauf zu reduzieren und als »AfD-Verbot-Demos« abzustempeln, greift zu kurz. Denn die AfD wirkt nicht nur als politische Partei. Sie versucht etwa, Protestbewegungen (zum Beispiel die Bauernproteste)
Die Demonstrationen können daher auch als Aufforderung an die Politik verstanden werden, dass sie mit diesem »Annäherungskurs« aufhören sollen, der letztlich nur der AfD dient. Ob die Politiker:innen das Zeichen verstehen und die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen – oder nur die Proteste medienwirksam unterstützen –, muss sich zeigen.
Die Größe der Demos macht noch etwas deutlich: Ein breites Bündnis aus der Mitte der Gesellschaft steht immer noch gegen Rechtspopulismus und rechtsextreme Politik. Das dürfte die AfD, die oft eine »schweigende Mehrheit« für sich reklamiert, reichlich nervös machen. Die Autorin Marie von den Benken ordnet es auf Twitter/X überspitzt ein: »Das ist der ausgestreckte Mittelfinger an rechtspopulistische Totengräber der Demokratie mit ihren freiheitsdeformierenden ›Wir sind die schweigende Mehrheit‹-Märchen.«
Und was könnte sich jetzt in Deutschland verändern?
Ob eine Demo als Zeichen wirkt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Proteste brauchen etwa ein mediales Echo, das die Sorgen der Bürger:innen auf Deutschlands Straßen ernst nimmt. Das fordern auch viele Teilnehmenden von den Medien. Denn erst die durch Medien erzeugten Bilder können in eine gesamtgesellschaftliche Debatte übergehen, und dann politisch etwas
Eine Teilnehmerin auf der Demo gegen rechts in Münster: »Wenn Deutschland wochenlang über Traktoren-Korsos berichtet, debattiert und kommentiert, muss dies jetzt bei unseren Demos auch geschehen.«
Dabei sind die Demonstrationen im Endeffekt genau das, was früher lange normal in Deutschland war: ein breites bürgerliches Aufstehen gegen Rechtsextremismus. Und sie könnten das werden, was Politikbeobachter:innen seit langer Zeit fordern,
Und was kann das konkret bewirken? Darauf hat Politologe Karl-Rudolf Korte eine Antwort. Für den Tagesspiegel ordnete er die Demos als »Signalereignisse für den Parteienwettbewerb« ein. Natürlich überzeugen Demos gegen die AfD kein hart gesottenes AfD-Wahlvolk. Sie könnten aber, so Korte, eine Dynamik erzeugen, die sich dann auch bei Wahlen niederschlägt und etwa bürgerliche Protestwählende wieder mittig tendieren lässt – zumindest
Etwas tut sich aber schon jetzt merklich. Das Zögern der Politik, über ein Verbotsverfahren der AfD zu diskutieren, schwindet. Erst letzte Woche sprachen sich Thüringens SPD-Innenminister Georg Maier (SPD) und SPD-Chefin Saskia Esken für ein Verfahren aus. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) hegt immerhin »Sympathien« dafür.
Ganz abgesehen davon wirken die Proteste auch auf Menschen abseits des Scheinwerferlichts. Denn sie zeigen Menschen, die sich besonders von der AfD angefeindet fühlen, dass viele Menschen hinter ihnen stehen:
Titelbild: picture alliance/dpa | Jacob Schröter - copyright