Es ist Ende 2023, als mir auf Kleinanzeigen zwischen Kinderspielzeug, abgewetzten Hosen und gebrauchten Schränken eine ganz untypische Anzeige auffällt:
»Ich rede mit dir!«. Preis: 0 Euro.
Warum redet eigentlich niemand mehr miteinander? Es gibt so viele Menschen, die niemanden haben, mit dem sie sich austauschen können. Genau hier komme ich ins Spiel. Ich bin für dich da: Egal ob Probleme, gute Geschichten oder ganz egal was. Ich höre dir zu. Freue mich auf die guten Gespräche. Liebe Grüße – J.Der Wortlaut der Kleinanzeigen-Anzeige
Die Beschreibung lässt mich erst mal stirnrunzelnd zurück. Meint der das ernst?
Es stimmt, was »J« behauptet. Einsamkeit ist weit verbreitet in unserer Gesellschaft. Jede:r vierte deutsche Erwachsene fühlt sich sehr einsam, 86% der Befragten glauben, dass Menschen heute einsamer sind als noch vor 10 Jahren. Dass das Risiken hat, ist klar. Einsamkeit ist nicht nur ein Symptom von Depression, sondern auch ein Risikofaktor, der diese Krankheit begünstigt.
Dabei haben die meisten Leute einen Taschencomputer dabei, der es uns eigentlich jederzeit ermöglicht, mit einem der mehr als 5,4 Milliarden Menschen im Internet weltweit in Kontakt zu treten und damit die Einsamkeit zu bekämpfen – für uns selbst und für andere. Warum es nicht einfach ausprobieren? Das hat sich auch »J« gefragt und kurzerhand die Anzeige online gestellt.
Besser miteinander sprechen und richtig zuhören ist bei Perspective Daily in vielen Texten ein Thema und eine Lösung. Da war plötzlich jemand, der dies auf eine seltsame Art umsetzte. Das machte mich neugierig. Deshalb habe ich »J« geschrieben. Dann haben wir telefoniert – etwas, was er sonst nicht tut.
Warum Jan mit wildfremden Leuten schreibt
»J« heißt eigentlich Jan, ist 29 und stammt aus Konstanz. Seinen Nachnamen mag er im Artikel nicht verraten – er arbeitet in der Jugendarbeit und will keine Probleme mit seinem Arbeitgeber oder
Dirk Walbrühl:
Wie bist du auf die Idee gekommen?
Jan:
Ich war vor 5 Jahren mit dem Studium der Psychologie fertig, aber fand nicht direkt etwas im Anschluss. Mit Studi-Freunden kam damals stark das Thema »miteinander reden« auf und dass unsere Gesellschaft irgendwie Probleme damit hat. Nachts konnte ich nicht schlafen und habe dann spontan die Anzeige geschaltet – die erste von vielen.
Wie lange hat es gedauert, bis sich jemand gemeldet hat?
Jan:
Nur einen Tag. Direkt am nächsten Morgen fragte jemand »Bist du echt? Was soll das?«. Irgendwie hatte ich nicht direkt mit einer Reaktion und schon gar nicht mit einer solchen gerechnet. Ich war zuerst verunsichert. In der ersten Anzeige 2018 hatte ich auch noch etwas von »Trinkgeld« stehen – ich dachte damals sogar, ich könnte mir damit etwas nebenher verdienen. Das habe ich aber ganz schnell wieder rausgenommen, das sorgte nur für Misstrauen.
Wie ging es weiter?
Jan:
Ich kam mit der ersten Person tatsächlich ins Gespräch: ein Kfz-Auszubildender ganz aus der Nähe. Er wollte natürlich meine Absichten wissen. Das habe ich danach häufiger erlebt: Dass Menschen gegenüber Fremden anfangs misstrauisch sind und Hintergedanken unterstellen – deutlich mehr im Netz als auf der Straße.
Zum Beispiel?
Jan:
Manche halten meine Anzeige für eine seltsame Flirt-Masche. »Hast du kein Tinder?«, habe ich schon mehrmals gelesen. Eine ältere Dame hat mich mal für einen Erbschleicher gehalten. Direkt in der ersten Nachricht beschimpfte sie mich und drohte mit der Polizei. Ich konnte sie auch nicht vom Gegenteil überzeugen. Irgendwann hat sie nicht mehr geantwortet. Als studierter Psychologe weiß ich: Manche Menschen projizieren ihre Erwartungen, Ängste oder Erfahrungen schnell auf neue Personen. In ungewohnten Situationen suchen sie so nach Erklärungsmustern. Das macht es natürlich schwieriger, emotionale Mauern herunterzulassen und Verbindungen aufzubauen.
Digitale Einsamkeit: Ist das Netz schuld, dass wir keine Gespräche mehr führen?
Studien legen nahe, dass Einsamkeit mit häufiger Internetnutzung zusammenhängt. Menschen fehlt vor allem »persönliche emotionale Verbundenheit« beim digitalen Austausch. Doch Korrelation ist keine Kausalität. Es könnte auch möglich sein, dass Personen die beginnende Einsamkeit verspüren, gerade im Internet nach Kontakten suchen – eben weil dieses auch Kontakte außerhalb des eigenen Umfeldes ermöglicht.
Wie viele Fremde haben dein ungewöhnliches Angebot seitdem angenommen?
Jan:
Es müssen so um die 120 sein. Eher mehr. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen.
Lass uns kurz über deinen ersten »Fall« sprechen, den Kfz-Auszubildenden. Du sagst, dass dich euer Austausch geprägt hat und dazu gebracht hat, bis heute weiterzumachen. Wieso?
Jan:
Zunächst einmal habe ich viel über die eigenwillige Gesprächssituation per Chat gelernt. Menschen tragen dabei Pseudonyme (mit denen sie sich bei der Plattform angemeldet haben) und geben nur so viel von sich preis, wie sie wollen. Das ist anders als zum Beispiel auf sozialen Medien, wo man sofort in den Account von jemandem schauen kann. Dort sieht man, was er oder sie bisher gepostet hat, mit wem er oder sie sich unterhält und was gelikt wird. Dabei hat man schnell Vorurteile im Kopf: Linker, Rechter, Öko, Spinner und so weiter. Auch mich hat diese Gesprächssituation ein Stück weit befreit. Da der Chat privat ist, muss man nicht dauernd mitdenken, wie Mitlesende eventuell Dinge interpretieren …
Und? Was hat er von sich preisgegeben?
Jan:
Dass er gerade in einer Trennungsphase und deshalb ziemlich »down« war. Das hat natürlich ein paar Nachrichten gedauert. Aber das ist auch okay. Dann haben wir aber über sein Privatleben geredet. Wieso er sich in seine Ex verguckt hat, wie sie ihn nicht fair behandelt hat – und er sie.
Er hat zugegeben, sie schlecht behandelt zu haben?
Jan:
Ja, genau. Das passiert mir häufiger in diesen Gesprächen, dass Menschen ehrlich zu sich selbst sind. Ich denke, sie nutzen das Gespräch auch, um über sich selbst zu reflektieren und sich über Dinge klar zu werden. Er war damals erleichtert, als er darauf kam, dass sie »wohl beide irgendwie« Schuld an der Trennung haben und daraus lernen müssen. Ich selbst hatte damals Liebeskummer und konnte mich darin wiederfinden.
Das klingt ein wenig nach Therapie …
Jan:
Nein, absolut nicht. Ich möchte niemanden therapieren. Ich habe zwar Psychologie studiert, aber ich bin kein Gesprächstherapeut. Das kann ich auch gar nicht leisten, denn eine Therapie ist immer noch viel mehr als nur ein Gespräch per Internetchat. Aber ich habe mal einem Mann bei der Entscheidung geholfen, eine Therapie anzutreten. Er hatte keine guten Ansichten über Psychotherapie und ich konnte ihm einige Ängste ein Stück weit nehmen. Darum geht es ja: Austausch, bei dem beide etwas mitnehmen und lernen. Er hat sich später noch mal gemeldet und gesagt, dass es ihm jetzt besser geht. Da war ich wirklich glücklich für ihn.
Wie lange dauern deine Gespräche?
Jan:
Manchmal eine Woche. Man kann im Chat ja so schnell oder langsam antworten, wie man mag. Da liegen oft Stunden dazwischen. Mit manchen habe ich aber auch schon über Monate geschrieben und ganze Abende lang im Minutentakt. Das sind teilweise sehr intensive Gespräche über alles Mögliche – oft aber über die Dinge, über die Menschen nur selten gerne öffentlich sprechen: Was man sich erhofft, worüber man sich sorgt, was man gerne ändern würde. Das hat etwas Befreiendes, finde ich.
Was sind denn die intimsten Geheimnisse, die dir jemand anvertraut hat?
Jan:
Eine junge Frau hat mir mal verraten, dass sie in ihre beste Freundin verliebt ist und sich auch sexuell von ihr erregt fühlt und jetzt an ihrer Beziehung zu ihrem festen Freund zweifelt. Und ein Vater, der spät im Leben Kinder bekommen hat, hat mir mal erzählt, wie schwer er sich in seiner neuen Rolle tut. Dass er kaum mit seinen kleinen Kindern spielt und nicht weiß, wie er all dem gerecht werden soll. Ein Krankenpfleger erzählte mir, dass ihn sein Beruf teilweise so überfordert, dass er nach jeder langen Schicht losheulen muss.
Das klingt ernst …
Jan:
Ja. Aber es ist auch das Wunderbare an solchen Gesprächen, dass wir hinter die Fassade von Menschen sehen können und endlich merken: Die kochen auch alle nur mit Wasser! Alle zweifeln an irgendwas, alle haben Angst vor irgendwas und alle hadern mit irgendeiner Aufgabe oder Rolle – im Job oder privat. Das ist absolut menschlich, davon bin ich heute nach mehr als 5 Jahren überzeugt.
Die Kontakthypothese
Die Kontakthypothese wurde vom US-Psychologen Gordon Allport 1954 formuliert und besagt, dass durch Kontakt von Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen Vorurteile und Feindseligkeiten abgebaut werden. Diese Theorie wird in der Sozialwissenschaft als Lösung für Fremdenfeindlichkeit und Polarisierung und für Integration diskutiert und bis heute erforscht.
Spielt Politik in deinen Gesprächen eine Rolle? Immerhin gibt es genug Menschen, die behaupten: Wir reden nicht mehr miteinander, weil wir gesellschaftlich so politisch polarisiert sind.
Jan:
Politik ist selten ein Thema. Manche Menschen erzählen mir von einer diffusen Angst vor der jeweils anderen politischen Seite oder geben irgendwas wieder, was sie in Zeitungen oder Chatgruppen gelesen haben. Einer hat versucht, mich von einer Partei zu überzeugen – bis ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mehr darüber reden will und sonst das Gespräch abbreche. Das war dann okay.
Politik ist aus meiner Erfahrung auch nur selten das, was die Menschen wirklich ganz tief beschäftigt, wenn man mal eine Weile nachfragt. Das ist immer viel persönlicher: Oft dreht es sich um Familie, Gesundheit oder Finanzen. Ich glaube, in so politisierten Zeiten vergessen wir oft, dass Menschen im Kern ganz ähnlich ticken – egal welche Partei sie wählen. Ich finde sogar, dass so persönliche Gespräche dabei helfen können, dass wir einander wieder besser verstehen lernen.
Als Gesellschaft gedacht?
Jan:
Ja! Wir vergessen im Alltag zu oft, was eine Gesellschaft aus meiner Sicht ausmacht: Es sind die Verbindungen zwischen Menschen auf ganz kleiner Stufe – also Nachbarn, Freunde, Familie. Das ist wie gesellschaftlicher Mörtel. Und wenn da jemand ausbricht, weil er oder sie niemanden mehr hat – zum Beispiel durch einen Schicksalsschlag –, ist das schlimm. Dagegen wollte ich ursprünglich angehen. Aber das ist natürlich keine Sache für jemanden allein; das müsste schon ein größerer Trend werden, damit das hilft.
Deutschland Spricht
Seit 2017 betreibt Zeit Online jährlich eine »Dating-Plattform für Politik« (Germany Talks). Personen melden sich online an und füllen eine Umfrage zu politischen Ansichten aus. Danach werden sie anderen Teilnehmenden mit gegensätzlichen Ansichten zu einem 4-Augen-Videogespräch vorgeschlagen. 90.000 Menschen haben seit 2017 teilgenommen. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und ist mittlerweile international unter dem Namen »My country talks« ausgerichtet. Aktuell sind keine Anmeldungen möglich.
Aber es gibt durchaus einige Angebote und Rede-Plattformen aktuell und das Thema Einsamkeit wird seit der Pandemie stärker aufgegriffen …
Jan:
Ich habe auch das Gefühl, dass die Gesellschaft seit der Pandemie über das Miteinander-Reden redet. Es gibt immer wieder mal diese Aktion »Deutschland spricht« – allerdings geht es da vor allem um politische Ansichten und politische Streitkultur. Oder es gibt die App auf der sich Menschen in schwierigen Lebenslagen austauschen können und auch Expert:innen vermittelt werden. Das zielt aber sehr auf extreme Geschichten und persönliche Notlagen ab.
Normalerweise denken Menschen nicht: Ich bin einsam und will einfach nur mal reden – ich brauche Hilfe. Doch genau das ist es! Einsamkeit ist eine ernste Sache. Und ich bin überzeugt: Wir können viel gewinnen, wenn wir unsere Gespräche nicht nach Expertenkriterien, politischen Ansichten oder geteilten Leidensgeschichten auswählen – sondern das einfach dem Zufall überlassen. Das muss nicht online sein! Warum nicht mal im Park oder beim Spazierengehen einfach »Hallo« sagen und die Distanz zwischen 2 Menschen überwinden.
Bist du einsam?
Jan:
Fiese Frage. Ich glaube im Rückblick war ich es vielleicht, als ich damit angefangen habe – als nach dem Studium Bekanntschaften und soziale Gefüge weggebrochen sind. Mittlerweile bin ich es aber nicht mehr. Das Reden hat auch mir geholfen. Vor allem habe ich gelernt, dass Einsamkeit nicht etwas ist, was einem passiert – sondern eher ein Zustand, den man zulässt und gegen den man anarbeiten kann und vielleicht auch immer wieder muss.
Du hast ja mittlerweile auch ein paar Nachahmer.
Jan:
Stimmt. Ich sehe diese Anzeigen ab und zu auf diversen Plattformen. »Rede mit mir?« oder »Du bist einsam? Ich höre zu«. Ob ich die inspiriert habe oder sie von allein draufgekommen sind, kann ich nicht sagen. In jedem Fall freue ich mich sehr.
Hast du besondere Tricks, damit sich Menschen dir öffnen?
Jan:
Ehrliches Zuhören ist wichtig. Also nicht nur abwarten und darauf lauern, dass man selbst wieder etwas sagen kann – sondern der anderen Person wirklich Raum geben, sich interessieren und nachfragen. Man muss nicht immer gleich irgendwas bewerten oder Ratschläge geben! Das wollen die Menschen nicht hören und wenn doch, fragen sie von sich aus nach: »Was denkst du darüber?« oder »War das vielleicht falsch?«.
Am Anfang hilft es, ehrlich etwas über sich selbst zu erzählen, damit das Gegenüber merkt: Du nimmst das Gespräch ernst. Das ist oft richtig überraschend, denn wir sind heute eher gewöhnt, oberflächliche und kurze Sätze auszutauschen. Da kann sich jeder mal seinen letzten Messenger-Chat anschauen.
Am produktivsten sind Gespräche – finde ich –, wenn beide sich öffnen und etwas preisgeben und anhand dieser Erfahrungen etwas lernen und mitnehmen. Das ist gar nicht so anders als in guten Gesprächen mit Bekannten. Wir haben nur irgendwie vergessen, dass alle guten Bekannten und Freunde am Anfang mal Fremde waren, die wir kennenlernen mussten.
Wo können Menschen dich aktuell finden, wenn sie ein Gespräch suchen?
Jan:
Ich mache jetzt 2 Monate Pause, weil ich eine wichtige berufliche Prüfung vor mir habe. Es ist auch wichtig, auf sich selbst zu achten und Prioritäten zu setzen. Denn sich zu öffnen und wirklich etwas über das Leben anderer Menschen zu lernen, kann sehr anstrengend sein. Aber es ist sehr viel lohnender und »echter« als diese Selbstdarstellerei auf sozialen Medien. Danach mache ich sicher weiter.
Wenn jetzt Menschen motiviert sind, selbst mehr auf andere zuzugehen, was würdest du ihnen raten?
Jan:
Menschen sind nur dort absolut ehrlich zu sich selbst und zu anderen, wo man allein im Gespräch ist. Sucht euch Einzelgespräche und lasst erzählen. Manchmal klickt es und man kommt von ganz allein auf eine Ebene, die man sonst kaum hat. So ein Austausch kann dann vielleicht ein Stück weit gegen die Einsamkeit wirken. Einerseits indem es einfach guttut, andererseits indem es Menschen Mut macht und ihnen zeigt, dass es sich lohnt, sich anderen zu öffnen. Einsamkeit ist kein Schicksal – das erlebe ich immer wieder. Eine ältere Frau schreibt mir ab und zu seit unserem Gespräch vor 3 Jahren. Sie war einsam und jetzt traut sie sich regelmäßig zu einem Senioren-Brettspielklub. Das finde ich schön.
Wie wir besser miteinander ins Gespräch kommen, habe ich in diesem Artikel recherchiert:
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.