Wie die neoliberale Ideologie unser Rentensystem untergräbt
Mehr als jeder vierte Rentner in Deutschland ist heute von Altersarmut bedroht. Mitschuld daran trägt ein folgenschwerer Eingriff in unser Rentensystem vor mehr als 20 Jahren – bei dem auch die berühmt-berüchtigte Riester-Rente eine zweifelhafte Rolle spielt.
»Ein erfülltes Berufsleben. Ein gemütliches Zuhause. Reisen zu spannenden Orten. Ihr Leben ist schön und abwechslungsreich. Doch genau deshalb kann es schnell passieren, dass Sie Ihre Altersvorsorge aus den Augen verlieren.
Dabei ist es wichtig, dass Sie Ihren Ruhestand finanziell absichern. Auch wenn Ihre Rente noch weit entfernt zu sein scheint. Mit der ERGO Riester-Rente Garant sorgen Sie jetzt schon für später vor. Und der Staat hilft Ihnen sogar dabei!«
Diese Zeilen stammen nicht aus einer fernen Vergangenheit, sondern aus einer
Auch wenn die Boomzeit für Riester-Finanzprodukte, für die Politiker:innen, Finanzkonzerne und sogar Teile der Wissenschaft und Gewerkschaften jahrelang getrommelt haben, inzwischen vorbei ist, bleibt Riester in der Welt.
Ganze 16 Millionen Menschen haben noch heute einen solchen Vertrag zur Altersvorsorge, der den Namen des fast vergessenen Arbeitsministers Walter Riester aus der Regierungszeit Gerhard Schröders (SPD) trägt.
Seit Jahren schlagen immer wieder Berichte über enttäuschte Sparer:innen Wellen. Viele Versicherte sehen sich heute bei der Auszahlung mit mageren Renditen oder gar Verlusten konfrontiert; sie fühlen sich schlecht beraten, betrogen und verkauft.
Mit Riester für später privat vorsorgen, um die Rentenlücke zu schließen, und dafür noch großzügige Förderungen vom Staat einstreichen? Dieses bis heute wiederholte Versprechen erscheint inzwischen für viele wie blanker Hohn.
Um zu verstehen, was wirklich hinter diesem Versprechen steckt, woher es kommt und warum es sich offensichtlich für viele Millionen Menschen niemals einlösen wird, braucht es einen Blick zurück.
Wer genau hinsieht, merkt schnell, wie viel mehr hinter dem System Riester steckt; was seine Konsequenzen sind – und wie folgenschwer die Einführung zur Jahrtausendwende unter der Regierung Gerhard Schröders bis heute ist.
»Zahlt sich garantiert aus: Ihre Absicherung für den Ruhestand mit der Riester-Rente!« – Werbeslogan der Ergo-Versicherung
Begleite mich heute in einem weiteren Teil meiner Serie »Rente, verständlich erklärt« auf eine Reise zu den Ursprüngen der berüchtigten Rentenlücke, die von politischen Entscheidern selbst geschaffen wurde und einen wichtigen Anteil an der Altersarmut von heute hat.
Im folgenden Teil der Serie, der in den nächsten Wochen erscheinen wird, rücke ich die Rolle der Finanzindustrie in den Fokus, die unmittelbar an der Riester-Reform beteiligt war, um anschließend konstruktiv Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch heute lernen können. Im (vorerst) letzten Teil werden dann die wichtigsten Fragen für all jene beantwortet, die selbst von der Riester-Rente »betroffen« sind.
Bevor es nun endlich losgeht: Falls du ganz neu im Thema bist, möchte ich dir meine 2 Grundlagentexte zum Rentensystem ans Herz legen:
Prolog: Das Ende der Ära Kohl
1998 ist ein besonderes Jahr für Deutschland. Kurz vor der Jahrtausendwende sollte sich die politische Landschaft der Bundesrepublik schlagartig wandeln. Am Abend der Bundestagswahl am 27. September löst die Opposition aus SPD und den Grünen die Regierung ab und beendet die 16-jährige »Ära Kohl«.
Eine zu dieser Zeit in der gesamten Gesellschaft heiß geführte Debatte: Wie können wir unser Rentensystem zukunftsfest aufstellen?
Schröders SPD ist daher mit dem Ziel in den Wahlkampf gezogen, die »unsoziale Rentenpolitik unmittelbar nach der Bundestagswahl zu korrigieren«. Gemeint waren damit die jüngsten Rentenkürzungen, die die Vorgängerregierung Kohls 1997 beschlossen hatte. Die Sozialdemokrat:innen wollten laut eigener Aussage dafür sorgen,
Wahr ist: Die schwarz-gelbe Regierung Kohls hatte bereits seit den 80er-Jahren kontinuierlich am Rentensystem herumgekürzt, ohne sich aber an echte Reformen gewagt zu haben. Ändern soll sich das erst infolge des Wahlsiegs von Rot-Grün im Jahr 1998 – jedoch anders, als es noch im Wahlprogramm der SPD hieß.
Denn immer mehr gewinnt die Idee an Zulauf, Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung einzuschränken
Parteiübergreifend gewinnt die Idee von Sozialminister Walter Riester (SPD), die Arbeitnehmer neben der gesetzlichen Rentenversicherung noch zu privater Vorsorge zu verpflichten, neue Anhänger. Jetzt befürwortet auch FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle die Zwangsrente.
1. Die wirkmächtigsten Erzählungen ihrer Zeit
Im Laufe der 90er-Jahre sehen sich die Menschen mit kontinuierlich steigenden Beiträgen für die Rentenversicherung konfrontiert. Für Beschäftigte schrumpft auf der Lohnabrechnung der Betrag, der am Ende des Monats nach Steuern und Sozialabgaben übrigbleibt. Gleichzeitig steigen für Arbeitgebende die Lohnkosten, da sie an den Sozialabgaben beteiligt sind. Dass vor diesem Hintergrund viele politischen Handlungsbedarf sehen, liegt auf der Hand.
Zum einen geht es um die demografische Entwicklung. Die gängige Erzählung lautet: Der demografische Wandel in Deutschland wird zwangsläufig dazu führen, dass die Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten drastisch schrumpft und überaltert. Daher ist der Rückbau des staatlichen Rentensystems ebenso unausweichlich wie die Privatisierung der Alterssicherung. (Diese Erzählung begegnet uns heute – warum das kein Zufall ist, dazu später mehr.)
Zum anderen dreht sich die Debatte auch um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des »Wirtschaftsstandorts Deutschland«. Das Stichwort hier lautet wie bereits oben angerissen: Lohn(neben)kosten.
Je mehr Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs arbeiten und etwas einzahlen, desto mehr Geld steht zur Verfügung. Das bedeutet andersherum aber auch: Bei sinkenden Einnahmen, etwa bei zunehmender Arbeitslosigkeit (und das ist eines der größten Probleme dieser Zeit), steigen auch die nötigen Beiträge. Und das belastet nicht nur die Arbeitnehmenden, die weniger Netto vom Brutto haben, sondern auch die Arbeitgebenden, die höhere Lohnkosten schultern müssen.
Die dominante Erzählung hierzu: Unsere Lohnnebenkosten sind zu hoch! Um international wettbewerbsfähig zu bleiben und Unternehmen davon abzuhalten, ins Ausland abzuwandern, müssen wir die Unternehmen entlasten.
Doch wie sollte das vonstattengehen?
Durch die Reform der sozialen Sicherungssysteme – und zwar im Geiste der vorherrschenden neoliberalen Ideologie.
2. Eine historische Entscheidung – mit weitreichenden Folgen
Am 11. Mai 2001 ist es dann so weit. Nachdem der Bundestag mit rot-grüner Mehrheit bereits im Januar zugestimmt hatte, passiert das für die Rentenreform nötige Gesetzespaket nach 2 Jahren des politischen Tauziehens auch den Bundesrat.
Die Bundesregierung feiert ihren Erfolg, Bundeskanzler Gerhard Schröder tritt vor die Presse und bezeichnet die im Folgejahr in Kraft tretende Rentenreform als eine
Und tatsächlich kommt es genau hier zu einem historischen Bruch: Erstmals in der deutschen Geschichte werden die Arbeitgebenden (teilweise) aus den Pflichten der paritätisch finanzierten Sozialversicherungen entlassen. Ein Dammbruch.
»Bundestag beschließt Einstieg in die Privat-Rente« – Schlagzeile DIE WELT, 2001
Die Riester-Reformen sehen vor, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung
Nochmals zur Erinnerung: Dieser Beitrag wird paritätisch, also zu gleichen Teilen, von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden getragen, sprich 9,75% des Bruttolohns waren von beiden Vertragspartnern an die gesetzliche Rentenversicherung zu zahlen.
Das klingt erst einmal verlockend: Steigt der Beitragssatz nicht weiter oder sinkt sogar, müssen Arbeitgebende weniger Lohnkosten zahlen und Arbeitnehmenden bleiben am Ende des Monats ein paar Euro mehr vom Lohn.
Doch das Ganze hat einen gewaltigen Haken.
3. Niedrigere Rentenbeiträge, teuer erkauft
Steigen die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, ohne dass sich die Einnahmen erhöhen, liegt das Resultat auf der Hand: Für die einzelnen Rentner:innen gibt es weniger zu verteilen – und die staatliche Rente schrumpft.
Und genau das wird von den politischen Entscheidenden sehenden Auges in Kauf genommen. Dazu wurde im Rahmen der Reform die Rentenformel so geändert, dass
Heißt vereinfacht gesagt: Akut gekürzt wurde zwar bei den Rentner:innen dieser Zeit nichts, künftig würden die Renten aber weniger stark steigen als die Löhne der Beschäftigten – was quasi eine Kürzung für künftige Rentner:innen bedeutet.
Eine politische Mehrheit hat sich damit dazu entschieden, die gesetzliche Rente zu einer Basisrente zurückzubauen. Das Ziel war fortan nicht länger die Absicherung des Lebensstandards im Alter, sondern allein die Stabilität des Beitragssatzes.
Doch wie konnte eine solche Reform durchkommen, ohne auf den organisierten Widerstand von Millionen von Sozialversicherten zu stoßen, an deren Rente hier offenkundig die Axt angelegt wurde?
Ganz einfach: Ihnen wird eine schicke Kompensation versprochen. Eine, die viel besser sein sollte als das alte, angestaubte
4. Die Idee hinter Riester, einfach erklärt
Eigenverantwortlichkeit. Ein Wort, das für viele Politiker:innen um die Jahrtausendwende mit quasireligiösem Eifer beschworen wird, um die einschneidenden Reformen dieser Zeit zu rechtfertigen.
Wer in Zukunft eine auskömmliche Altersversorgung haben will, muss dies fortan selbst in die Hand nehmen – und angesichts der Einschnitte bei der gesetzlichen Rentenversicherung gezwungenermaßen auf dem Kapitalmarkt aktiv werden.
Das war vor über 20 Jahren jedoch schon allein aus technischen Gründen ungleich komplizierter als heutzutage, wo mit wenigen Klicks ein Depot und ETF-Sparpläne eröffnet sind.
Wer also sein Geld fürs Alter nicht unter der heimischen Matratze horten will, muss sich an Banken oder eben – nun ganz neu im Rentengeschäft – Versicherungen wenden. Expert:innen sprechen von »Vermarktlichung« einer ehemals primär vom Staat organisierten Leistung,
Du kannst mit dem Begriff Neoliberalismus nicht viel anfangen? Dann ändere das mit meiner Artikelserie über die mächtigste Ideologie unserer Zeit:
Auf dem neu geschaffenen Markt gilt es also nun, »Produkte« zu erwerben, in die das Geld über Jahrzehnte monatlich fließen soll. Die Unternehmen sollen dafür sorgen, dass sich das so angehäufte Ersparte am Kapitalmarkt vermehrt und am Ende idealerweise noch Rendite abwirft – für eine Abschluss- und Verwaltungsgebühr natürlich. So sollen die privat Versicherten nicht zuletzt auch an der wirtschaftlichen Entwicklung an der Börse beteiligt werden.
Am Ende winkt dann eine Rente, die sich aus dem so angesparten Kapital speist und die Kürzungen der gesetzlichen Rentenversicherung kompensieren soll. Diese kann entweder bis zum Lebensende monatlich oder in einem oder mehreren Schritten ausgezahlt werden.
Um dieses neue Modell für möglichst viele Bürger:innen schmackhaft zu machen, belohnt der Staat diejenigen, die auf diese Weise freiwillig sparen, dann obendrein mit einer jährlichen Zulage. Nicht mehr und nicht weniger ist die Riester-Rente.
5. Riester: Neoliberalismus durch die Hintertür
Die Idee hinter der Riester-Rente ist auf den ersten Blick nicht vollkommen abwegig – der Teufel steckt, wie so oft, im Detail.
Jutta Schmitz-Kießler erklärt, warum die Menschen damals nie eine faire Chance hatten, sich ein rationales, unvoreingenommenes Bild zu machen:
Das Problem ist die normative Bewertung, die mit der Reform unhinterfragt verbreitet wurde. Die lautete: Die gesetzliche Rentenversicherung ist schlecht, zu teuer und damit untragbar. Das private Sparen am Kapitalmarkt hingegen ist super, zukunftsweisend – und wird in jedem Fall funktionieren.
Es ist diese stark verkürzte, eindimensionale Erzählung, die die Riester-Reform mehrheitsfähig macht.
Stattdessen hätten die politisch Verantwortlichen klar kommunizieren müssen: Wir brauchen Reformen, um die Rente zukunftssicher zu machen. Dafür liegen 2 grundsätzlich verschiedene Optionen auf dem Tisch.
Auf der einen Seite die umlagefinanzierte Rente. Ein System, das von Löhnen getragen wird und funktioniert, wenn möglichst viele Menschen möglichst gut bezahlt werden. Je nachdem wie das läuft, so entwickelt sich dann auch eure Rente.
Das Umlagesystem leistet immer, weil immer unmittelbar das umverteilt wird, was da ist. Wie viel das genau ist und ob das für ein auskömmliches Leben reicht, steht auf einem anderen Blatt. Ist nicht genug da, kann aber nach politischen Lösungen gesucht werden, um an ausreichend Geld zu kommen.
Auf der anderen Seite haben wir ein kapitalmarktgetriebenes System. Hier hängt eure Rente von völlig anderen Faktoren ab: Wie sich der Kapitalmarkt entwickelt, ob ihr ein gutes Produkt abschließt, das euch auch wirklich an möglichen Überschüssen beteiligt, und nicht zuletzt davon, wie viel Geld ihr hier anlegen wollt – oder überhaupt könnt. Diesem System haften somit klare Risiken an.
»Tatsächlich ist es genau umgekehrt kommuniziert worden: Wir müssen die gesetzliche Rentenversicherung ändern – und du hast was davon! Es gab diese Illusion: ›Du nimmst dein Geld selbst in die Hand, legst es irgendwo an und es vermehrt sich zwangsläufig von Zauberhand – und davon kannst du dann im Alter super leben!‹ Das ist brutal unehrlich«, resümiert Jutta Schmitz-Kießler.
6. Riester: Ein Mosaikstück auf dem Weg zur Aushöhlung des Sozialstaats
Bundeskanzler Schröder sollte Recht behalten: Riester war eine Reform von historischem Ausmaß. Denn mit ihr wurde ganz offiziell ein bis dahin formal gültiges Ziel des Wohlfahrtsstaats aufgegeben: Die Garantie einer gesetzlichen Rente, die für ein gutes Leben reicht.
Unabhängig davon, ob dieses Ziel vor der Reform wirklich für alle Menschen erreicht werden konnte – fortan wurde selbst der Versuch aufgegeben.
Eine Kapitulation. Und eine der Weichenstellungen, wodurch der Grundstein für die Altersarmut gelegt wurde, die wir heute erleben.
Warum damals kaum jemand die Risiken der neoliberalen Reform erkannte, welche Rolle die Finanzindustrie dabei spielte – und welche Alternativen es gegeben hätte, von denen wir noch heute lernen können: All das erfahrt ihr im nächsten Teil meiner Artikelserie zum Thema Rente!
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily