Glutamat: Bedenklicher Zusatzstoff oder köstlicher Geschmacksverstärker?
Glutamat hat einen miesen Ruf. Angeblich macht es dick und ruft bei manchen Menschen vielschichtige Symptome hervor. Woher die Angst vor dem weißen Pulver kommt, wo wirklich Vorsicht geboten ist – und welche Rolle Rassismus bei der ganzen Sache spielt.
Über 15 Jahre ist es her, dass ich mir während der Abi-Zeit als Lieferfahrer bei uns auf dem Dorf etwas Geld dazuverdient habe. Ich erinnere mich genau: Der kleine Thai-China-Imbiss brummte, das Telefon plärrte nahezu pausenlos. (Ja, liebe Kinder, damals gab es noch keine Apps.)
Zu den Verkaufsschlagern zählten die Klassiker: Enten-Curry, Huhn »süß-sauer«, Frühlingsrollen,
Viele asiatische Restaurants werben mit dem Versprechen »Wir kochen ohne Glutamat«. Ein Qualitätsmerkmal?
Als jemand, der in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem ein ordentlicher Schuss Maggi in Suppe und Rührei zum guten Ton zählt, stutzte ich. Was soll verkehrt sein mit diesem ominösen Glutamat? Und was ist das überhaupt genau? Als ich mich mit diesen Fragen an die aus Thailand stammenden Betreiber wandte, erntete ich wenig mehr als Schulterzucken: »Deutsche haben irgendwie Angst davor, für die machen wir es dann halt etwas lascher.«
Egal ob auf Speisekarten von Imbissen oder Produktlabels im Supermarkt: Die Kennzeichnung »ohne Glutamat« scheint für manche immer noch ein Merkmal für Qualität zu sein. Wohl auch, weil im Umkehrschluss gefolgert wird: Wenn dieser »Geschmacksverstärker« nicht bedenklich wäre, warum sollten Restaurants und Lebensmittelindustrie dann damit werben, ihn nicht zu benutzen?
Was die Wenigsten wissen: Das schlechte Image von Glutamat basiert auf einer denkbar abstrusen Geschichte, die bis heute für Ängste und Verunsicherung sorgt.
Besagte Geschichte scheint auch in der Perspective-Daily-Community ihre Spuren hinterlassen zu haben: So gaben 3/4 der 500 teilnehmenden Mitglieder in meiner Umfrage im Artikelfeed an, zumindest ein komisches Gefühl beim Thema Glutamat zu haben, jeder zweite verzichtet sogar lieber ganz. (Stand: 23.02.2024)
Höchste Zeit also, der Sache auf den Grund zu gehen. Begleite mich auf eine Reise zu den Ursprüngen des »China Restaurant Syndroms« – und wer weiß, vielleicht entdeckst du am Ende eine gänzlich neue Geschmackswelt, die dir sonst verborgen geblieben wäre!
Geht ein Arzt ins China-Restaurant …
Wir schreiben den 4. April 1968. In der international renommierten Medizinfachzeitschrift »New England Journal of Medicine« erscheint ein Leserbrief mit vermeintlich banalem Inhalt. Ein gewisser Dr. Robert Ho Man Kwok berichtet von einer beunruhigenden Erfahrung: Immer dann, wenn er in einem chinesischen Restaurant zu Mittag gegessen habe, fühle er sich unwohl, regelrecht krank.
Er schildert eine Vielzahl von Symptomen, die er bei sich selbst feststellt, darunter ein Taubheitsgefühl im Nacken, das in die Arme und den Rücken ausstrahlt, Herzrasen und allgemeine Erschöpfung.
Der Verfasser des Leserbriefs, dessen tatsächliche Identität niemals zweifelsfrei geklärt worden ist, hat mehrere Thesen, woher seine Symptome rühren könnten. Neben einem zu hohen Salzgehalt und dem Einsatz von Kochwein hat er noch einen dritten möglichen Übeltäter im Sinn: Glutamat.
Das kommt vor allem in der asiatischen Küche zum Einsatz. Am Ende seines Briefes schlägt er seinen Kolleg:innen vor, weiter zu seinem speziellen »Syndrom« zu forschen. Das »China Restaurant Syndrom« ist geboren.
Im Gruselkabinett der Symptome
Die Resonanz auf den Leserbrief ist vor allem in den USA groß:
Auffällig: Die Bandbreite der Symptome nimmt sprunghaft zu – und keine Schilderung gleicht der anderen. Noch auffälliger: Sie treten in den Schilderungen an allen möglichen Körperstellen auf, und dazu noch zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten nach dem Genuss der Speisen. So entsteht ein wahres Gruselkabinett von Symptomen, worin für jede:n etwas dabei zu sein scheint: Die Rede ist von Ohnmacht, Rückenkrämpfen, Schwitzen, Schwindel, geröteter Haut und tauben Kiefern.
Ebenso vielfältig sind die Mutmaßungen über die Ursachen: Einer schob die Schuld auf Entensoße, ein anderer auf Tiefkühlgemüse. Andere wiesen auf Senf, Wan-Tan-Suppe oder Kugelfischgift hin. Einer machte sogar die körperliche Anstrengung von Menschen aus dem Westen verantwortlich, die mit Stäbchen kämpften.
Wenig Beachtung fand hingegen, dass ein Neurologe dabei noch mal speziell auf Glutamat einging und es von dem Verdacht freisprach, der Übeltäter zu sein, da er selbst zu Hause damit koche und keinerlei Symptome bei sich feststelle.
Ungeachtet all dieser Ungereimtheiten ist der Glutamat-Geist aus der Flasche: Zahllose Medien springen wenig später auf das Thema auf und verbreiten landauf, landab die Mär vom gefährlichen, wenn nicht gar lebensbedrohlichen »China Restaurant Syndrom«. Sogar über die Grenzen der USA hinaus.
Was führt zum China Restaurant Syndrom? Die Antwort lautet: Rassismus
Schon damals gilt leider: Je reißerischer die Schlagzeile, desto besser für die Auflage. Die Geschichte verbreitet sich wohl nicht zuletzt auch deshalb so gut, weil sie am antiasiatischen Rassismus andockt.
Der ist damals wie heute weit verbreitet, vor allem in der gesamten westlichen Welt, was erst zuletzt durch die Anfeindungen von asiatisch gelesenen Menschen während der Pandemie offensichtlich geworden ist. Und überhaupt, in China essen sie schließlich Hunde. Wer weiß, ob nicht auch etwas davon auf unserem Teller landet?
Der US-amerikanische Historiker und Experte für Ernährungsgeschichte
Ab dem späten 19. Jahrhundert wurden häufig Gerüchte und Panikmache über angeblichen chinesischen Drogenkonsum, sexuelle Sitten und ›abweichende‹ Praktiken wie das Servieren von Fleisch von Hunden und Katzen an ahnungslose Gäste angeführt, um alles zu rechtfertigen, von den Einschränkungen der chinesischen Einwanderung über ein Verbot für Chinesen, weiße Frauen zu beschäftigen, bis hin zur Verbannung ihrer Geschäfte in Chinatowns und andere speziell ausgewiesene Areale.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die offenbar willkürlich beschriebenen Symptome während des Aufkommens der Glutamat-Panik in einem anderen Licht. Einige Menschen schieben schlicht alles, was unbequem oder unschön ist, auf »das böse Gewürz der Ausländer« – so albern dies auch klingen mag.
Welche Blüten das in den folgenden Jahren getrieben hat, zeigt das sich wandelnde Bild des vermeintlichen Syndroms. Es gipfelt in einem im Jahr 1978 veröffentlichten Medienbericht der größten kanadischen Tageszeitung »Toronto Star«. Darin behauptet ein Psychologe, seine Frau sei »zutiefst depressiv geworden, mit verzerrtem Gesichtsausdruck, motorischer Verlangsamung, von Zweifeln geplagten, düsteren Fantasien und gelegentlich unübertroffenen Wutausbrüchen«.
Seine Erklärung: 2 Wochen vor Beginn dieser Symptome seien sie in einem chinesischen Restaurant gewesen. Um seine These zu beweisen, hatte er seiner Frau später eine »Testdosis Wan-Tan-Suppe« verabreicht. Kurz darauf habe die nächste depressive Episode begonnen. Erst als er jegliches Glutamat vom Speiseplan seiner Familie verbannt habe, sei Besserung eingetreten – und ganz nebenbei soll so auch – kein Witz! –
Wer sich jetzt zu Recht denkt: »Aber wissenschaftliche Studien werden bei all der Aufregung doch bald zur Aufklärung beigetragen haben!«, dem sei gesagt: falsch gedacht.
Wissenschaft kann schädlich sein, wenn sie schlecht gemacht ist
Es dauert nicht lange, bis erste Untersuchungen gestartet werden, um der Geschichte auf den Grund zu gehen. Das macht die Sache allerdings nicht besser. Im Gegenteil: Die ersten Untersuchungen zu Glutamat scheinen viele Befürchtungen zu bestätigen. Einige Studien bringen den Konsum von Glutamat mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übergewicht und sogar einem erhöhten Risiko für Alzheimer oder Parkinson in Verbindung.
Doch die Mehrheit der Untersuchungen dieser Zeit haben eines gemein: Sie sind nach heutigen Standards haarsträubend schlecht gemacht. Entweder wurden sie einzig an Tieren durchgeführt, denen eine viel zu hohe Dosis Glutamat direkt gespritzt wurde – was wenig überraschend schwerwiegende Folgen nach sich zog –, oder es wurde eine geringe Anzahl von Menschen befragt, die obendrein noch von den Vorannahmen und dem Zweck der Studie wussten.
Besonders anschaulich werden diese Fehler anhand der »Untersuchungen« des Neurologen Herbert Schaumburg. Er verabreicht 3 Versuchspersonen bei verbundenen Augen Glutamat. Nach seiner Aussage entwickelten anschließend alle Personen starke Symptome, darunter Herzrasen, Schwäche und Übelkeit.
Symptome, die wahrscheinlich bei nicht wenigen Menschen auftreten würden, wenn ihnen ein Arzt bei verbundenen Augen Substanzen verabreicht, die sich »möglicherweise« schadhaft auswirken könnten. Ach ja, und eine dieser Versuchspersonen war er übrigens selbst.
Ein Jahr später veröffentlicht Schaumburg weitere »Studien«, eine davon mit 6 Freiwilligen, die laut eigener Aussage schon einmal unter dem »China Restaurant Syndrom« gelitten haben, eine andere mit 56 Versuchspersonen, die ohne verbundene Augen pures Glutamat zu sich genommen haben. Alle zeigen das ein oder andere Symptom, alle ähnlich die einer Angstattacke, ein klares Bild ergibt sich jedoch nicht.
Der Psychiater Robert Olney sorgt 1969 mit seiner Untersuchung für den Höhepunkt der Glutamat-Panik. Er spritzt Mäusen hohe Dosen Glutamat direkt in den Körper, tötet sie anschließend und stellt daraufhin Schädigungen ihres Gehirns fest. Ein gefundenes Fressen für sensationslüsterne Medien, die nun über Hirnschäden durch Glutamat fabulieren konnten, obwohl es höchstens hätte heißen können: »Glutamat besser nicht spritzen, Überdosis droht!«
Die Liste der halbgaren, unverblindeten Studien mit sehr wenigen Teilnehmenden, die alle subjektiv beeinflusst und voreingenommen waren, ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Sie alle haben eines gemein: Ihr wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn reicht so weit wie nicht anonymisierte Einzelbefragungen nach der Häufigkeit von Geschlechtsverkehr. Kurz: Sie sind unbrauchbar – und führen auf falsche Fährten.
Warum Glutamat an sich unbedenklich ist …
Kann es am Ende des Tages also sein, dass seit mehr als einem halben Jahrhundert antiasiatische Ressentiments und Ängste vor einem Geschmacksverstärker geschürt werden, nur weil ein nicht zu identifizierender Arzt Ende der 60er-Jahre über seine Angstattacken nach dem Genuss von »Ente süß-sauer« geklagt hat?
Ganz danach sieht es aus, ja.
Wichtig: Wie bei jedem anderen Lebensmittel oder Zusatzstoff kann es natürlich auch nicht ausgeschlossen werden, dass es Fälle von Glutamat-Unverträglichkeit gibt. Was vertragen wird und was nicht, ist teilweise sehr individuell.
Dass dies aber weit verbreitet ist, gilt als unwahrscheinlich. Denn mit Glutamat sind eigentlich Salze der Glutaminsäure gemeint. Diese Säure ist in der Natur sehr häufig anzutreffen, zum Beispiel in ganz alltäglichen Lebensmitteln wie Tomaten, Pilzen, Fisch, Schinken oder Parmesan. Sie kommt in der Muttermilch vor und unser Körper stellt sogar selbst Glutamat her. Es wirkt auf unser Nervensystem und dient unserem Darm als Energiequelle.
Das Glutamat, das wir als Geschmacksverstärker zu Speisen zusetzen, wurde in den letzten Jahren – wohl auch aufgrund der noch immer kursierenden Fehlinformationen – immer wieder nach dem modernen wissenschaftlichen Goldstandard geprüft. Keine aktuelle Studie aus den letzten 2 Jahrzehnten konnte dabei einen Zusammenhang mit den befürchteten Symptomen nachweisen.
Manche Expert:innen vermuten, dass einige Menschen eher sensibel auf andere Substanzen reagieren, die häufiger in der asiatischen Küche vorkommen, etwa Sojasoße, Kimchi oder Miso.
Das Glutamat an sich hat damit aber nichts zu tun. Im Gegenteil wird es zunehmend als das erkannt, was es ist: Ein Gewürz, das unsere Speisen köstlicher macht, weil es das Essen umami, also vollmundiger und herzhafter schmecken lässt.
Somit bietet es eine besondere Chance: Vielleicht lassen sich Gemüse-Skeptiker:innen mit einer Prise dieser Würze eher von einem leckeren Brokkoli-Auflauf überzeugen. Da freut sich nicht nur der Gaumen, sondern auch das Klima. Und natürlich die Tiere, die nicht in der Pfanne landen.
… und wo dennoch Vorsicht geboten ist
Weil Glutamat so schön die Geschmacksnerven kitzelt, spielt es auch in Fleischersatzprodukten eine Rolle.
Hier schreibe ich über die Vor- und Nachteile dieser Produkte:
Das ist an sich nicht verkehrt und sorgt für wohlschmeckende Alternativen. Doch problematisch wird der Geschmacksverstärker, wenn er von der Lebensmittelindustrie in großen Mengen eingesetzt wird, um ihre Produkte unwiderstehlich zu machen. Die Packung knusprige Kartoffelchips lässt grüßen!
Nicht nur in den suchterzeugenden Kartoffelsnacks kommt Glutamat, etwa in Form von Hefeextrakt, zum Einsatz, um unsere Gier nach mehr anzufachen. Also kann es doch Sinn ergeben, Glutamat zu vermeiden – wenn es darum geht, weniger hochverarbeitete Produkte zu konsumieren. Dann sinkt die Aufnahme von Zucker, Salz und ungesunden Fetten gleich mit!
Denn für Glutamat gilt das gleiche wie für alle anderen Stoffe, die wir zu uns nehmen: »Zu viel« ist keine gute Idee. Wer es ganz genau wissen möchte: Aktuell sieht die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA 30 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht als unbedenklich an.
In diesem Artikel schreibe ich, wie wichtig eine Ernährung mit möglichst vielen unverarbeiteten Lebensmitteln für Billionen von kleinen Untermietern ist, die in unserem Darm leben:
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