Warum du einer Gewerkschaft beitreten solltest
Bei Gewerkschaften denkst du an Trillerpfeifen und Metallarbeiter. Aber wer kämpft eigentlich für Start-up-Mitarbeiterinnen, AirBnB-Vermieter und YouTuber?
Arbeiterbewegung, Solidarität, Klassenkampf? Worte wie aus einer anderen Zeit. Ältere Herren, die in stickigen Büroräumen Runde um Runde minimal mehr Lohn verhandeln? So ziemlich das Gegenteil der
die uns heute weiterbringt! Und wer sich schlecht bezahlt fühlt, hat im Gespräch mit dem Chef wahrscheinlich zu wenig Verkaufstalent in eigener Sache gezeigt. Oder? Wozu brauchen wir im Jahr 2017 noch Gewerkschaften?
Ich habe Politikwissenschaft studiert, meine Freunde arbeiten als Journalisten, im Kulturbereich oder als Marketingexperten. Alle interessieren sich für Politik, alle kennen zumindest in groben Zügen die Alle Details findest du im Betriebsverfassungsgesetz Möglichkeiten der Mitbestimmung. In einer Gewerkschaft ist fast niemand. Ich übrigens auch nicht. Das liegt nicht daran, dass wir immer alle wunschlos glücklich mit unseren Arbeitsverhältnissen waren oder sind. Es kam uns einfach nie in den Sinn. Dabei sollten wir uns dringend mehr für diejenigen interessieren, die mit unseren Arbeitgebern über höhere Löhne, mehr Urlaub und Planungssicherheit streiten.
Was passiert, wenn keine Arbeiter in Bewegung sind
Wie wichtig starke Gewerkschaften sind, wurde mir so richtig klar, als ich in den letzten Jahren aus Tschechien berichtet habe.
Mit Blick auf die Zahlen könnte man nämlich zunächst denken, der tschechischen Wirtschaft gehe es gut: Durchschnittliche Bruttomonatslöhne in der EU, 2014 ungefähr 1/3 dessen, was man in Österreich oder Deutschland verdient – auf den EU-Durchschnitt umgelegt sind es lediglich 62%. Man könnte sagen: Hier geht’s zu einem Beitrag aus der tschechischen Wochenzeitung RESPEKT Tschechien ist im internationalen Vergleich ein relativ reiches Land mit armen Bürgern.
Damit erreicht es 84% des EU-Durchschnitts. Bei den Arbeitnehmern scheint vom Wachstum allerdings nicht viel anzukommen. Die Gehälter betragen durchschnittlichDass sich daran bald etwas ändert, ist nicht abzusehen: Der Vorsitzende des Gewerkschafts-Dachverbandes, Josef Středula, sagte im Rahmen der Kampagne »Schluss mit der billigen Arbeit!«, dass das Lohnniveau, wenn es sich im selben Tempo weiterentwickelte, erst in 100 Jahren auf dem deutschen Stand ankommen würde. Josef Středula im Interview mit Radio Prag, 2015 Die Lohnentwicklung ziehe nicht mit dem Wirtschaftswachstum gleich.
Und damit sind wir schon beim Kern des Problems: Arbeitnehmer haben in Tschechien keine starke Lobby. Die Gewerkschaften sind historisch bedingt schwach und haben in der Gesellschaft Das Institut der deutschen Wirtschaft fasst die Unterschiede zu Deutschland zusammen Zudem sind sie strukturell anders aufgestellt als die deutschen Gewerkschaften: Anstatt für eine ganze Branche zu verhandeln, sitzen die Basisorganisationen in den Betrieben direkt ihren Chefs gegenüber. Den Konflikten, die daraus entstehen können, will sich nicht jeder aussetzen.
Die Arbeitgeber müssen sich aber ohnehin nicht allzu viele Sorgen darüber machen, dass es zu einer konfrontativen Auseinandersetzung um mehr Lohn oder Urlaubstage kommt – im Jahr 2013 waren Die OECD hat alle Zahlen für Europa (englisch, 2014) nur noch rund 13% ihrer Mitarbeiter in einer Gewerkschaft organisiert, im Jahr 1994 waren es noch über 50%.
In Deutschland haben die Gewerkschaften mit einem
von knapp 18% allerdings auch ihre besten Zeiten hinter sich.Wo stehen wir in Deutschland?
Zuletzt taten sie das im Jahr 2015. Die F.A.Z. berichtet Die Lokführer streiken schon wieder? Im März 2017 wurde der Streit beigelegt. Infos gibt es bei SZ Online Tarifkonflikt bei der Lufthansa? Warnstreiks gab es im Jahr 2017 zuletzt in Berlin Eltern, die vor verschlossenen Kita-Türen stehen? Die Hans-Böckler-Stiftung hat Daten zu Streiktagen in Deutschland und Europa So schlimm scheint es um die Gewerkschaften in Deutschland nicht zu stehen. Martin Behrens, der für die gewerkschaftsnahe zu europäischen Arbeitsbeziehungen forscht, sieht das anders.
– Martin Behrens
Behrens beobachtet außerdem, dass es viele Branchen gibt, in denen
und »geradezu exotisch« sowie Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat überhaupt nicht mehr präsent sind. Als Beispiel nennt er den Einzelhandel. Auch in sehr kleinen Betrieben sei die Wahrscheinlichkeit statistisch eher gering, dass sich Mitarbeiter zu einem Betriebsrat zusammenschließen.Quelle: OECD
Menschen in »atypischen Beschäftigungsverhältnissen« – Minijobber, Teilzeitbeschäftigte,
Freiberufler – sind weitgehend auf sich allein gestellt, wenn es darum geht, bessere Arbeits- und Rahmenbedingungen zu verhandeln. »Dabei bräuchten ja gerade diese Leute eine starke Interessenvertretung, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind«, so Behrens. Das muss nicht in jedem Fall so sein, viele teilen sich ihre Zeit gern selbst ein. Anfälliger für (Selbst-)Ausbeutung sind die Vertreter der neuen Arbeitswelt aber allemal.
Wen sollte man hier in die Pflicht nehmen? Den Staat, der andere Rahmenbedingungen schaffen muss? Die Gewerkschaften, die sich anders aufstellen müssen? Oder müssen wir – die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – lernen, uns auch mal gegen Widerstände durchzusetzen? Alles trifft zu, findet Behrens. Und hat für alle 3 Gruppen Lösungsvorschläge parat.
- »Der Staat ist gefordert, dass er die Gesetze, die es bereits gibt, auch durchsetzt. In Deutschland ist es verboten, die Gründung eines Betriebsrates zu be- oder verhindern. Trotzdem wird das massenhaft getan. Wir reden über ein massives Problem beim Gesetzesvollzug. Hier kann der Staat etwas tun.«
- »Die Gewerkschaften müssen besser werden und mehr tun, um Betriebsrats-Gründungen zu unterstützen.«
- »Beschäftigte wissen oft nicht, dass sie das Recht haben, einen Betriebsrat zu gründen, und kennen ihre Ansprüche nur unzureichend. Wir brauchen Aufklärung.«
Dass du Lohn bekommst, obwohl du krank bist, du dich in Deutschland mindestens 20 Tage im Jahr auf Betriebskosten erholen kannst und am Wochenende Zeit mit der Familie statt am Fließband verbringst, hast du den Gewerkschaften zu verdanken.
Du arbeitest gar nicht am Fließband, sondern tippst bis spät in die Tasten? Auch dann solltest du dir Gedanken machen, wie das im Einklang mit deinem Arbeitsvertrag steht – und ob du nicht ein Der DGB zum Thema »ständige Erreichbarkeit« Recht auf Zeit ohne Smartphone und Laptop hast.
Ständige Erreichbarkeit ist nur einer von vielen Faktoren, die unsere Arbeitswelt verändern und auf die sich Gewerkschaften einstellen müssen, wenn sie in Zukunft effektiv für die Rechte von Arbeiterinnen und Angestellten kämpfen wollen. »Gewerkschaften haben lange Zeit Belegschafts-Strukturen der 1950er-Jahre repräsentiert«, sagt Behrens.

Der männliche Arbeiter im Großbetrieb war die Hauptzielgruppe. Doch er allein ist schon lange nicht mehr repräsentativ für unsere Arbeitswelt. »ver.di musste sich auf Frauen einstellen, die IG Metall musste lernen, wie man Hochqualifizierte, zum Beispiel Ingenieurinnen und Ingenieure, anspricht.«
Wer vertritt eigentlich die Dienstleister von Taxi-Apps wie Uber oder Menschen, die bei AirBnB ihre Wohnung zur Verfügung stellen?
Und ständig entstehen neue Modelle: Wer vertritt eigentlich die Dienstleister von Taxi-Apps wie Uber oder Menschen, die bei AirBnB ihre Wohnung zur Verfügung stellen und damit Arbeit erledigen, die sonst in Hotels anfällt? Auch private Vermieter müssen putzen, waschen – Der stellvertretende ver.di-Vorsitzende Frank Werneke schreibt darüber bei Zeit Online und die Firmenzentrale verdient kräftig mit.
Und auch wenn deutsche Löhne im EU-Vergleich relativ hoch sind: Es gibt
- Gewerkschaften verhandeln mit Arbeitgeber-Verbänden im Rahmen der über Löhne, Arbeitszeiten und Urlaub.
- Nur Gewerkschaften können zu Streiks aufrufen – das bei Weitem effektivste Mittel im Arbeitskampf. Für die ausgefallenen Arbeitstage gibt es bei ver.di, IG Metall und anderen Streikgeld.
Ohne Mitglieder fehlt den Gewerkschaften allerdings die Legitimation, für Arbeiter und Angestellte zu sprechen. In Deutschland werden Tarifverträge »gestreckt«, was bedeutet, dass von der Gewerkschaft verhandelte Tarife normalerweise für alle Beschäftigten eines Unternehmens gelten, nicht nur für die Gewerkschaftsmitglieder in der Belegschaft. Das macht es für ver.di & Co. nicht einfacher, Mitglieder zu werben. Martin Behrens von der Hans-Böckler-Stiftung findet es problematisch, wenn immer weniger Schultern die Gewerkschaftsarbeit stemmen müssen.
– Martin Behrens
Was du für mehr Mitbestimmung tun kannst
Die Zahlen gibt es hier In der westdeutschen Privatwirtschaft werden 43% aller Beschäftigten von einem Betriebsrat vertreten, im Osten sind es 33%. Wenn du dazu zählst, weißt du über Mitbestimmung vielleicht schon gut Bescheid. Wenn du dir bis jetzt noch nicht so viele Gedanken gemacht hast, sind hier 4 Tipps für dich:

- Hier erfährst du, wie das geht Gründe einen Betriebsrat! In jedem Unternehmen mit mehr als 5 Mitarbeitern haben diese das Recht, einen Betriebsrat zu gründen. »Es geht darum, dafür zu sorgen, dass alle Beschäftigten, so stark oder schwach sie auch sind, die Möglichkeit haben, sich Gehör zu verschaffen und Unterstützung zu finden. Der Betriebsrat ist der erste Ansprechpartner«, sagt Martin Behrens. Seine gewählten Mitglieder setzen sich bei der Geschäftsführung für die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter ein. Wo es besonders heikel wird, halten sie sich aber raus: Im sogenannten dürfen nur die Gewerkschaften mit den Arbeitnehmerverbänden in Tarifverhandlungen über Geld reden. Das hat den Vorteil, dass über Lohnforderungen außerhalb des Unternehmens gestritten wird.
- Finde die richtige Gewerkschaft! »Forschungsbefunde belegen, dass Betriebsräte ihre Aufgabe nur dann wirklich gut ausfüllen können, wenn sie in den Gewerkschaften eine starke überbetriebliche Unterstützung finden.« Gewerkschaften wiederum sind für die Arbeitgeber nur dann ein ernstzunehmender Verhandlungspartner, wenn sie eine breite Mitgliederbasis haben.

- Bringe dich ein und zeige Solidarität! Nimm deine Rechte wahr, informiere andere über ihre und formuliere Forderungen, die eure Arbeit besser machen. Dafür stellen die Gewerkschaften Ressourcen bereit: ver.di bietet für seine Mitglieder beispielsweise Rechtsschutz sowie ein Bildungs- und Seminarprogramm. In Ortsgruppen kannst du dich mit anderen vernetzen, die ähnliche Anliegen haben.
- Schaue über den nationalen Tellerrand! Wenn VW-Arbeiter in Wolfsburg mit Streik drohen, macht das die Bosse nervös. Aber was wäre, wenn nicht nur in Deutschland, sondern auch in den VW-Werken in Tschechien oder der Slowakei die Bänder stillstünden? Instrumente zur Koordination gibt es bereits: die
Peter Dittmann ist eines der wenigen Gewerkschaftsmitglieder in meinem Bekanntenkreis. Er arbeitet im Berliner Büro eines Bundestagsabgeordneten und ist seit 2 Jahren Mitglied bei ver.di. Warum er eingetreten ist? »Unser Arbeitsleben ist von zunehmender Unsicherheit geprägt, Jobs von jungen Menschen sind fast nur noch befristet, es wird immer mehr Flexibilität gefordert. Gleichzeitig geraten die Löhne unter dem Argument der internationalen Konkurrenzfähigkeit immer mehr unter Druck. Damit die Interessen der Arbeitnehmer nicht unter die Räder kommen, braucht es starke Gewerkschaften«, schreibt er mir auf Facebook. Eben.
Titelbild: Pexels - CC0
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