Baustelle Demokratie: Wo bröckelt es?
Bei »denen da oben«, bei »uns hier unten«, oder ist das ganze System marode?
In meinem ersten Text zur Demokratie habe ich darüber geschrieben, was unter dem Begriff der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« zu verstehen ist und warum die lange Geschichte der Herrschaft des Volkes noch immer eine Erfolgsgeschichte ist.
Außerdem habe ich euch um Gedanken und Anregungen gebeten, wo die Baustellen der Demokratie im 21. Jahrhundert liegen. Eure Kritik zu strukturieren und einzuordnen, darum geht es in diesem Text.
Ich werde dabei die Frage außer Acht lassen, ob es eine
3 Akteure stehen zur Auswahl, an denen unsere Demokratie nach Meinung einiger krankt: Die Herrschenden, die Beherrschten und das System selbst.
»Die da oben«
[U]nsere Politiker werden ›frecher‹. So manches Mal fühlt man sich als Wähler im wahrsten Sinne des Wortes verarscht. Da grinst einem vom heimischen Bildschirm eine krawattierte Gelfrisur ins Gesicht und gibt unumwunden zu, dass er seine Wähler die letzten 2,5 Jahre angelogen hat (natürlich in anderen Worten) und dass er sich auf eine weitere gute Zusammenarbeit mit dem ausländischen Diktator freut und das Beste für die deutsche (Waffen-)Industrie tun wird.
Politiker zählen zu den verhasstesten Berufsgruppen. Dabei gilt: Je mächtiger, desto unbeliebter. Befragt, welchen Politikern sie am meisten vertrauen,
Also selbst engagieren und es besser machen? Diesen Schluss ziehen nur Wenige:
Politiker sind zahlreichen Vorwürfen ausgesetzt, die sich in 3 Kategorien unterteilen lassen:
- Vorwurf charakterlicher Mängel: Gier nach Profit oder Macht lautet eine häufige Anschuldigung. Das Schielen auf Umfragen und Wählerstimmen ist dabei ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sollen Politiker ihr Ohr am Volk haben. Schließlich sind sie Volksvertreter. Andererseits mögen sie bitte nicht ihr Fähnchen nach dem (von Wählern verursachten) Wind hängen, sondern eigene Überzeugungen vertreten.
- Vorwurf fachlicher Defizite:
- Kritik an der Zusammensetzung: Der dritte und letzte Punkt ist systematischer Natur. Von den insgesamt 630 Abgeordneten sind 183 Beamte und 148 Selbstständige,
Ein genauer Blick auf diese gegen Politiker gerichteten Argumente offenbart, dass sich der Großteil der Kritik nicht an einzelne Politiker richtet, sondern Systemkritik ist. Wer würde schon von Politikern verlangen, sich bitte mit jedem Thema auszukennen? Welcher Lehrerin im Parlament würde man vorwerfen, dass sie kein Hausmann ist?
Wer dennoch der Meinung ist, unser Problem bestehe vor allem darin, dass unsere politischen Spitzenpositionen falsch (oder nicht gut genug) besetzt seien, der kann dies schlecht jenen zum Vorwurf machen, die selbst an der Spitze stehen. Immerhin wurden diese Personen sowohl von ihrer Partei als auch
»In einer hochkomplexen Welt brauchen wir […] besser qualifiziertes Personal.« – Perspective-Daily-Mitglied
Wer also das Problem vor allem darin sieht, dass »Merkel weg muss«, sollte konsequenterweise fordern: »Unser System muss zukünftig verhindern, dass Personen vom Schlage Angela Merkels an die Spitze gelangen« oder alternativ »Die sachliche Kompetenz der Bundeskanzlerin muss reformiert werden.« Natürlich ist so eine Formulierung zu umständlich; politische Kommunikation besteht (auch) aus Parolen. Wichtig ist aber zumindest, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass echte Problemlösung selten auf 3 Wörter heruntergebrochen werden kann.
Für den Fall, dass sich die Kritik wirklich nur auf eine bestimmte Person bezieht, hilft aus Sicht des Volkes nur: abwählen –
So ist das eben in einer Demokratie. Sie enthält keine Zufriedenheits-Garantie.
»Wir hier unten«
Allzu plumpe Generalkritik an Politikern übertrifft auf der Zynismus-Skala eigentlich nur eine andere Form der Kritik: »Die Wähler« sind schuld! Zu ungebildet, zu leicht durch Populisten oder Fake News zu verführen, zu unreflektiert, zu dumm, angstgeleitet, asozial, faul oder desinteressiert – manche Kritik von Wählern an Wählern klingt, als sei nun einmal der Mensch das Problem.
Wer allein den Wählern die Schuld zuschiebt, bleibt indes meist die Antwort schuldig, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Das Wahlrecht an andere Bedingungen als das Alter knüpfen? Höchst undemokratisch. Das vermeintlich zu niedrige Bildungsniveau anheben? Kann nicht schaden, aber das dauert sehr lang. Außerdem waren frühere Gesellschaften im Durchschnitt nicht gebildeter – und trotzdem funktioniert Demokratie bereits seit geraumer Zeit unter dem Strich ganz ordentlich.
Dass Staatsbürger heute ungestraft »Merkel muss weg« fordern dürfen, ist eine noch recht junge zivilisatorische Errungenschaft. Meinungskundgaben wie »Hitler muss weg« oder »Karl der Große muss weg« haben zu anderen Zeiten zu Gefängnis oder Tod geführt. Die Kehrseite des Privilegs, die eigene Stimme erheben (oder bei einer Wahl abgeben) zu dürfen, ist die Tatsache, dass dieses Recht für alle (Erwachsenen) gilt. Und
Wer die menschliche Natur als Kern des Problems identifiziert, wird daraus keine Lösungen erarbeiten. Wäre es nicht stattdessen sinnvoller, die Wechselwirkungen zwischen Mensch und dem aktuellen System Demokratie unter die Lupe zu nehmen?
»Fuck the system!«
»Unsere Demokratie lebt vor allem/zu stark von und in Stimmungen, das ist schlicht ihr Abgesang« – Perspective-Daily-Mitglied
An den Demokratien des 21. Jahrhunderts ist die Kritik unendlich vielfältig. Im Rahmen dieses Artikels möchte ich daher vor allem eine Fallgruppe aussortieren: Eine Baustelle der Demokratie stellt es nicht dar, wenn politische Vorstellungen einer
»Meine Meinung ist die, dass wir bereits jetzt nicht mehr in der Demokratie leben, die unsere Verfassung ursprünglich für uns vorgesehen hat. Geld regiert die Politik und trifft alle Entscheidungen.« – Perspective-Daily-Mitglied
Warum treten vermehrt Situationen auf, die uns an der Effizienz unserer demokratischen Entscheidungsfindungs-Systeme zweifeln lassen? Möglicherweise, weil sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel verändert hat und unser rechtlicher Ordnungsrahmen hinterherhinkt. 5 (nicht abschließende) Beispiele legen nahe, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges fundamental geändert hat:
- Faktor Komplexität: »Wer soll das noch verstehen?« Unsere Gesetze werden im Trend immer spezieller und komplexer.
- Faktor Zeit: Der Ablauf eines demokratischen Zyklus wird durch Wahlen bestimmt. 4 oder 5 Jahre haben demokratische Volksvertreter in der Regel Zeit, um ihre Versprechen umzusetzen. Genauer: um genügend Wähler von einer Wiederwahl zu überzeugen. Das macht es aus politischer Sicht oft äußerst unattraktiv,
- Faktor Raum: Der Grundgedanke der repräsentativen Demokratie besteht darin, dass alle (wahlberechtigten) Bürger Macht auf einige wenige übertragen. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen – von der Gemeinde bis hin zur Europäischen Union. Doch die
- Faktor Macht: Nicht hinter jedem Lobbyisten steckt ein Interessenvertreter des Turbokapitalismus. Aber angesichts »systemrelevanter« Banken und der riesigen und globalen Macht einiger Unternehmen, insbesondere aus dem Silicon Valley, muss sich die Gesellschaft mit der Frage beschäftigen: »Wird diese enorme Macht wirksam demokratisch kontrolliert?« Das gilt im 21. Jahrhundert nicht nur, aber auch und vor allem beim Thema Datenschutz, das für bürgerliche Freiheitsrechte besonders wichtig ist.
- Faktor Geschwindigkeit: In vielen Bereichen erhöht sich insbesondere aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung das Tempo. Das freut uns, soweit es Glasfaserkabel für schnelleres Internet betrifft oder ein online bestelltes Päckchen künftig binnen Stunden ankommt. Auf Dienstleisterseite bedeutet das aber auch, dass der Druck eher höher als niedriger wird.
Und nun?
»Mögest du in interessanten Zeiten leben«, so lautet ein chinesisches Sprichwort, das als subtiler Fluch gilt. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah das ähnlich, als er schrieb: »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«
Wir sind eine solche Generation, die in »interessanten Zeiten« lebt. Wir befinden uns inmitten eines Epochenwandels. Das Ende des Kalten Krieges, die globale Einführung des Internets (inklusive WLAN und Bluetooth), die fortschreitende Digitalisierung fast aller Branchen, 3D-Druck, Smartphones, soziale Netzwerke, selbstfahrende Landmaschinen oder die Evolution des Thermomix sind nur einige der unzähligen großen und kleinen Entwicklungen der letzten 2–3 Jahrzehnte. Unser Wissensstand über den Weltraum steigt rasant, im August 2012 verließ mit der »Voyager 1« zum ersten Mal menschliche Technologie unser Sonnensystem,
Das ist anstrengend, ja. Es scheint, als bliebe uns nichts anderes übrig, als die Ungewissheit zu akzeptieren. Besser noch zu begrüßen: Erstmals sind wir mit praktisch allen Mitmenschen digital vernetzt. Mit wenigen Klicks haben wir Zugriff auf das (zugegeben oft unübersichtliche) Wissen der Welt. Wir leben in einer der spannendsten Epochen der Menschheitsgeschichte!
Selten gab es ein größeres Angebot, als einfacherer Bürger mitzugestalten. Zum einen, weil das Gestaltungspotenzial in Zeiten des Wandels erfolgversprechender ist als sagen wir beispielsweise in den 1980er-Jahren. Zum anderen weil es viel leichter ist, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, sich zu organisieren,
Eine weitere schwierige Frage, die im Klein-Klein politischer Diskussionen schnell ins Hintertreffen gerät: »Wo wollen wir eigentlich hin?« Darauf gibt es viele Antworten. Die Geschichte lehrt zumindest eines: Mittels staatlicher Autorität ein scheinbar »perfektes« System mit Zwang durchzusetzen, hat noch nie funktioniert. Und zwar wegen der menschlichen Natur: Wir sind keine reinen Turbokapitalisten, kompromisslosen Kommunisten, ausschließlich empathiegeleitete Sozialisten oder lauter eigenverantwortliche Liberale, in deren Natur es liegt, die Interessen anderer zu wahren. Wir sind Menschen, unendlich unterschiedlich und doch voller Gemeinsamkeiten. Jedes System, das diese widersprüchliche Natur leugnet, ist zum Scheitern verurteilt. Also nehmen wir zunächst einmal uns selbst am besten so wie wir sind – und schauen, was wir daraus machen können. Unsere Vorgängergenerationen haben mit der Demokratie ein Fundament gelegt, auf dem wir weiter aufbauen sollten. Die Zeit scheint reif für die ein oder andere Sanierung.
Titelbild: Ricardo Gomez Angel - CC0 1.0