Das ist der »Linke«, der die extreme Rechte großgemacht hat
Henning Eichberg hat dem Rechtsextremismus ein modernes Gesicht gegeben – und es später bereut. In diesem Text erfährst du mehr über die bizarren Wurzeln des Unwortes Remigration.
Der 25. November 2023 ist schon jetzt ein Tag der Zeitgeschichte. Es ist der Tag, an dem sich in einem Landhotel bei Potsdam 2 Dutzend Menschen treffen. Sie sind Mitglieder und Sympathisanten der AfD, der
Seitdem ist viel passiert. Bundesweit sind Millionen Menschen gegen die AfD auf die Straße gegangen. Der Begriff »Remigration« wird zum Unwort des Jahres gewählt. Die Verunsicherung ist groß, auch angesichts der Aussicht auf die Europawahl im Juni und die Landtagswahlen im September in 3 ostdeutschen Bundesländern, bei denen die AfD jeweils stärkste Kraft werden könnte.
Was in Potsdam besprochen wurde, ist allerdings nicht neu. Im Gegenteil: Die Ursprünge reichen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Es ist wichtig, das zu verstehen. Dadurch wird es einfacher, die extreme Rechte und ihre Argumente zu entlarven. Denn Menschen wie Martin Sellner geht es um die Deutungshoheit. Sie wollen Rassismus in ein schöneres, neues Gewand kleiden. Es ist eine Täuschung, die 1966 beginnt. Mit der Frankreich-Reise eines jungen Mannes namens Henning Eichberg.
Ein anderer Rechtsextremismus
Der junge Henning Eichberg war ein Mensch, der sich nicht leicht in Schubladen einordnen ließ. Der 1942 in einer damals noch deutschen Kleinstadt in Schlesien geborene Eichberg wächst nach Kriegsende in Hamburg auf, engagiert sich zeitweise in der CDU und vielen rechtsextremen Gruppen. Als 13-Jähriger wird er Mitglied in der DSU, einer deutschen Rechtsaußen-Partei, die sich auf den antikapitalistischen Flügel der NSDAP beruft.
Doch wo immer er sich beteiligt, langweilt sich Eichberg. Er denkt zwar national und zumindest in seiner Jugend auch offen völkisch-rassistisch, doch eigentlich findet er es viel spannender, wie sich die Linke gibt und was sie dort über Rechte wie ihn schreiben. »Da war jemand auf der Suche«, sagt Volkmar Wölk. Er ist Rechtsextremismus-Forscher, antifaschistischer Aktivist und Publizist und hat Eichbergs Lebensweg jahrzehntelang eng verfolgt.
Dieser Suchende fährt 1966 für die rechte Zeitschrift Nation Europa zu einem Zeltlager in die Provence. Er soll über die französischen Nationalisten berichten, die sich dort treffen. Eichberg stößt auf eine »ihm völlig unbekannte Welt«, wie Wölk es nennt. Zum ersten Mal lernt er Altersgenossen kennen, die so denken wie er – die Nationalisten sind, aber sich nicht rückwärtsgewandt und konservativ geben, sondern revolutionär. Ihr Vordenker ist
58 Jahre später kennt die beiden kaum noch jemand in Deutschland – weder Eichberg noch de Benoist. Doch dass sich diese beiden Randgestalten beim Zelten kennenlernen, beeinflusst die deutsche Politik bis heute. Sie ermöglicht die Erfolge der NPD und prägt die identitäre Rechte innerhalb der AfD. Hier müssen wir ansetzen, um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.
Die Neue Rechte
Nach dem Zeltlagerbesuch wandelt sich Eichbergs Ideologie. Er entwickelte die Grundlage für etwas, das wir heute in Deutschland »Neue Rechte« nennen.
Unter dem Begriff ›Neue Rechte‹ wird eine geistige Strömung verstanden, deren Ziel die intellektuelle Erneuerung des Rechtsextremismus ist. Sie versucht, sich von der deutlich am historischen Nationalsozialismus orientierten ›Alten Rechten‹ abzusetzen.
Diese intellektuelle Erneuerung lässt sich nur schwer definieren. Dafür gibt es zwischen den vielen neurechten Splittergruppen der vergangenen 50 Jahre zu große Unterschiede. Aber es gibt ein paar Punkte, die gerade in der Anfangszeit bedeutend waren, weil sie sich vom rückwärtsgewandten Rechtsextremismus unterschieden, der noch immer im völkischen Rassendenken der NS-Zeit verhaftet war und Hitler verehrte. Diese Ideologie führte nirgendwohin, das spürten auch Vordenker wie de Benoist. Deshalb erteilte er ihnen eine Absage: »Die alte Rechte ist tot – sie hat es wohl verdient« ist ein zentraler Satz von de Benoist.
Demgegenüber entwarfen sie neue Impulse:
- Eine ernsthaft sozialistische Idee, ein revolutionärer
- Und eine Umdeutung der Rassenlehre der Nationalsozialisten.
Für diese Umdeutung war vor allem Eichberg verantwortlich. Ihm zufolge stand nicht mehr ein angeblich unterschiedlicher Wert einzelner Ethnien im Mittelpunkt, sondern die Verschiedenheit der Völker und Kulturen. Wer gegen Zuwanderung war, konnte sich mithilfe des Ethnopluralismus, wie Eichberg sein Konzept nannte, nun antirassistisch geben. Ethnopluralisten seien nämlich nur für ein friedliches Nebeneinander der Kulturen – jede da, wo sie hingehört.
Eine Idee verbreitet sich
Die Neuen Rechten der Gegenwart haben von ihren Wegbereitern gelernt. Dabei geht es erst einmal gar nicht direkt um die Ideologie, sondern um das Marketing dahinter. Eichberg lieferte ihnen eine Strategie, um den eigenen Extremismus schön zu verpacken. Der Ethnopluralismus wurde zum Kern dieser Imagekampagne. Doch zunächst musste sich das Konzept erst mal verbreiten. Auch hier half der Zufall.
1972 war in Deutschland die rechtsextremistische Kleinpartei NPD tief in der Krise. 3 Jahre zuvor hatten die »Nationaldemokraten« noch vom Sprung in den Bundestag geträumt und waren nur knapp gescheitert. Danach nahm der Erfolg immer weiter ab und der interne Streit immer weiter zu. Neurechte kämpften gegen Altrechte, bis die Jungen vorerst aufgaben. 350 von ihnen gründeten in München eine rechte Splittergruppe, die Aktion Neue Rechte.
Das Gründungsmanifest schrieb Henning Eichberg. Nicht, weil er sich an der Gruppe beteiligen wollte. Er war schlichtweg zufällig in der Stadt und wurde daher gefragt. So kam es, dass das Manifest der NPD-Abweichler ein antiimperialistisch geprägter Text im Sinne des Ethnopluralismus wurde.
»Vor ihm war der Begriff Nationale Identität in Deutschland überhaupt nicht gebräuchlich, den gab es nicht in der politischen Sprache.« – Volkmar Wölk, Eichberg-Experte
Die Gruppe zersplitterte zwar bald darauf wieder, die Ideologie war aber in der Welt. Eichbergs Manifest begann unter deutschen Rechtsextremen zu kursieren.
Viel später, im Jahr 1996, wurde Udo Voigt NPD-Chef. Er gab sich antikapitalistisch, antiamerikanistisch und ethnopluralistisch. Er nutzte das, was Eichberg entworfen hatte, um seine Partei in mehrere
Nicht nur innerhalb, auch außerhalb der extremen Rechten wurde Eichbergs Ideologie nun genutzt. Das Umfeld der frühen Grünen und der späteren Ökologisch-Demokratischen Partei verband ökologische Themen mit ethnopluralistischen Ideen zu »Andersartigkeit und
Remigrationsfantasien
Doch was hat das nun alles mit der heutigen AfD zu tun, mit dem Konzept der »Remigration« und identitären Vordenkern wie Martin Sellner? Einen Tag nach Veröffentlichung der Correctiv-Recherche erscheint auf dem Internetportal der neurechten Zeitschrift Sezession ein
Unter dem Titel »Remigration ist keine Erfindung unserer Zeit« deutet Sellner ethnisch begründete Vertreibungen zu menschenfreundlichen Konzepten um. Ein migrationspolitisches »Ende mit Schrecken« sei demnach besser als ein multikultureller »Schrecken ohne Ende«. In »kultureller Belastung durch Nichtstaatsbürger« sieht er einen ausreichenden Ausweisungsgrund.
Sellner als Menschenfreund und Ausgrenzung als moralische gute Lösung? Genau das ist der rhetorische Kniff, den Eichberg für die deutsche Rechte erfunden hat. So sieht es auch der
Die AfD verweist bereits in ihrem
»Dass es seine Schriften von damals gibt, macht es für die Identitären oder die entsprechend geprägten AfD-Leute einfacher. Er hat ihnen, ohne das zu wollen, eine ganze Reihe Denkarbeit abgenommen«, sagt Volkmar Wölk über Eichbergs Einfluss auf die heutige Entwicklung. Menschen, die vor 10 Jahren noch in der NPD-Jugendorganisation aktiv gewesen seien, fänden nun Zuflucht in der AfD.
Wölk erkennt den Anteil, den Eichberg daran hat. Er nimmt ihn dennoch in Schutz.
Das liegt zum einen daran, dass er Sellner und die Identitären in Wahrheit mehr in der Tradition französischer neurechter Gruppen sieht, die »das genaue Gegenteil« von Eichberg seien. Zum anderen an einem bemerkenswerten Wandel, den Eichberg in seinem weiteren Leben hinlegte.
Der »linke« Eichberg
Henning Eichberg freute sich nicht, dass sich die NPD in den 90er-Jahren seiner Ideologie bediente. Er fühlte sich missverstanden, fehlinterpretiert und fand es »eklig«. So erinnert sich Volkmar Wölk. Eichberg lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Dänemark. Und dass auch, weil Menschen wie Wölk ihn aus dem Land getrieben hatten. Als er nach seiner Habilitation 1976 Professor in Stuttgart werden sollte, gehörte Wölk zu denjenigen Akademikern, die dafür sorgten, dass Eichberg in Deutschland keinen Lehrstuhl erhielt.
Doch mit der Zeit wurden aus den Feinden intensive Brief- und Mailfreunde. Wölk und Eichberg schickten sich lange Nachrichten, diskutierten, gaben sich die eigenen Artikel vor der Veröffentlichung zum Gegenlesen. Anfang der 2000er-Jahre reiste Wölk erstmals nach Dänemark, um Eichberg zu besuchen. Der lehrte dort als Kultursoziologe und
Eichberg verstand sich nun als links.
Wie links der späte Eichberg wirklich war, ist umstritten. Von seinen ideologischen Grundüberzeugungen hatte er sich nicht vollkommen verabschiedet, sondern sie eher umgedeutet. Der Ethnopluralismus sollte für ihn nun nicht mehr ausgrenzend, sondern integrativ gedacht sein. Im Mittelpunkt stehe allein die Kultur und nicht die Ethnie.
»Ich glaube auf jeden Fall, dass er sich als links verstanden hat. Das muss dann nicht unbedingt meinem Links-Sein entsprechen.« – Volkmar Wölk, Eichberg-Experte
Wölk nahm Eichberg nicht mehr als Rechten wahr, sondern als sehr angenehmen Gesprächspartner, der selbstkritisch auf seinen Einfluss blickte. »Das war ich damals, heute denke ich anders«, habe er im Gespräch mit Wölk gesagt. Er habe sich nur beschwert, dass seine Entwicklung nicht beachtet werde.
Selbst fragen kann man Eichberg dazu nicht mehr. Er starb 2017 in Dänemark, als renommierter Kultursoziologe, der im Land eher der Linken zugerechnet wurde.
Die Illusion entlarven
Wie hilft uns diese tragisch-skurrile Geschichte eines scheinbar bekehrten Rechtsextremen nun? Sie zeigt zum einen, wie die moderne extreme Rechte argumentiert und was es ihnen ermöglicht. Wenn sich die Identitären von heute scheinbar menschenfreundlich und kulturbewahrend geben, ist das nichts anderes als eine jahrzehntealte Scharade, die ein junger Nationalrevolutionär aus Frankreich importierte und für Deutschland weiterentwickelte. Deren Aneignung durch die extreme Rechte er später selbst als verfälscht und eklig anprangerte. Und doch nicht verhindern konnte.
Das müssen nun andere übernehmen und die Rechten stellen. Und dafür hilft es, die Ideologie zu kennen, die dort ge- und missbraucht wird. Henning Eichberg hat mit seinem Ethnopluralismus einen Geist aus der Flasche gelassen, den er selbst nicht mehr einfangen konnte. Was zuerst innerhalb der NPD genutzt wurde, um den eigenen angestaubten Rassismus neu zu etikettieren, wird heute ganz offen in der AfD vertreten.
»Das ist im Endeffekt nichts anderes als der Versuch der Modernisierung des Nationalsozialismus«, sagt Volkmar Wölk über Menschen wie Maximilian Krah, die in der AfD einen völkischen Rassismus etablieren. Wenn solche Menschen heute Eichbergs Erbe nutzen, um sich in ein besseres Licht zu rücken, sollten sie nicht unwidersprochen bleiben.
Redaktionelle Bearbeitung: Dirk Walbrühl
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily